"Es ist der Traum von kollektiver Verantwortung füreinander"

Bild: Liebig34

Im Interview mit Telepolis äußern sich die Bewohner*innen der Liebig34 erstmals ausführlich. Liebig34 gilt als die zur Zeit militanteste linke Gruppe in Deutschland und definiert sich anarcha-queer-feministisch

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Die linksradikale und radikalopppositionelle Szene in Berlin, Leipzig und Hamburg wird zur Zeit dominiert von der Furcht vor Räumungen der bekanntesten Haus- und Wohnprojekte, vor allem in den Szene-Kiezen Neuköllns und Friedrichshains, die sich allmählich zu Hipster-Hochburgen wandeln.

Neben der Rigaer94 ist die Liebig34 das in ganz Europa bekannteste Projekt (es wohnen nur Frauen, Trans* und "Nicht-Cis-Männer"/Nicht-Binäre/Transgender dort) und wird offensiv unterstützt von Anarchafeministinnen aus Südamerika "from the end of the world". Aber auch in der linken Szene ist das Haus und seine Ausrichtung nicht ganz unumstritten, auch in Bezug auf die Art und Weise der militanten Aktionen, die es in dieser Form seit den 1990ern in Deutschland kaum mehr gab. Die Polizei Berlin hält die Gruppe oder das Umfeld für Dutzende schwerer Straftaten verantwortlich, Behörden kritisieren teils offene Aufrufe zur Gewalt. Eines ihrer poetisch-romantischen Motti heißt: "Unseren Hass könnt ihr haben, unser Lachen kriegt ihr nie".

Die Liebig34 soll in nächster Zeit zwangsgeräumt werden - wie auch die feministische Wagenburg an der Rummelsburger Bucht und das Traditions-Jugendzentrum Potse/Drugstore am Schöneberger Queer- und Multikulti-Kiez. Im Moment werden noch juristische Möglichkeiten ausgeschöpft, Aktionen sind angekündigt. Bei vorherigen Aktionen gab es unter anderem Brandsätze in Gerichten, Stürmungen von Gerichtssälen oder Serien von Dutzenden Brandanschlägen.

Liebig34 gilt daher nicht nur den Sicherheitsbehörden als sehr gut vernetzte, mit Abstand militanteste linke Gruppe in Deutschland und Mitteleuropa. Teile der linken Szene lehnen ihre Aktionen und ihre strikt anti-sexistische Ausrichtung ab, auch in Teilen der Linkspartei und des rot-rot-grünen Senats in Berlin gibt es seit Jahren sehr heftigen Streit über den Umgang mit Liebig34, die sich als anarcha-queer-feministisch betrachten.

Der Anarchafeminismus ist eine politische und soziale Ausrichtung, die ansonsten nur in Südamerika (vor allem in Bolivien und in Brasilien) und in Spanien und Katalonien sehr verbreitet ist und auf eine dort regional extrem große Unterstützung in der Gesamtbevölkerung zählen kann, auch im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen, Alltags-Sexismus, tödliche Armut und Ausbeutung durch Lohnarbeit.

Der Twitter-Account der Liebig34 wurde vor kurzem gesperrt. Die Gründe sind unklar. Unter anderem die Hollywood-Autorin und Hamburger Bestseller-Autorin Cornelia Funke (u.a. "Tintenherz") setzte sich für den Erhalt u.a. von Liebig34 in der Initiative "Kein Haus weniger!" ein.

"Der Senat macht sich seit langem zum Spielball von Investor*innen und Immobilienhaien"

Was sind Eure Befürchtungen für die nächste Zeit, was die Existenz der Liebig34 betrifft?

Liebig34: Wir haben Angst, dass unser Kollektiv aus den Räumen unseres Hausprojekts der Liebigstraße34 geräumt wird. Da unser Pachtvertrag im Januar 2019 ausgelaufen ist, leben wir seitdem mit einer ungewissen Zukunft. Wir haben beschlossen die Räume nicht zu verlassen und für den Erhalt des Projektes zu kämpfen. Gerichtsurteile wurden gegen uns gesprochen und unser Kollektiv soll wohl in naher Zukunft zwangsgeräumt werden.

Was bedeutet das denn für euer persönliches Leben?

Liebig34: Wir werden, wie so viele Menschen tagtäglich, zwangsgeräumt. Wir haben dann keinen Wohnort mehr und wir haben keinen Raum mehr, in dem wir unser anarcha-queer-feministisches Projekt weiter leben können. Eine Räumung wird ein heftiger und traumatischer Einschnitt in unseren Leben sein. Jede* von uns kämpft aber momentan gegen diese Räumung und die Leben drehen sich auch viel um unseren feministischen Widerstand.

Nun gab es vorletztes Wochenende in Berlin eine der größten linken Demos seit langem in Deutschland zur Solidarität mit Liebig34. War die letzte Demo in Neukölln ein Erfolg? Das Syndikat, eine linke Szenekneipe am Tempelhofer Feld, wurde trotzdem geräumt. Es gab sehr massive Gewalt wie seit langem nicht, letzten Donnerstagabend und dann Freitag früh, als der Gerichtsvollzieher kam ...

Liebig34: Die Demo am 01.08. war ein Erfolg, da es ein wichtiger Schritt war aus der Defensive zu kommen. Es wurde gezeigt, dass wir nicht nur darauf reagieren, wenn uns unsere Räume genommen werden, sondern auch Muster durchbrechen und selbstbestimmt Widerstand leisten. Ja, das Syndikat wurde trotzdem geräumt. Aber wir müssen die Entwicklungen in einem Großen und Ganzen betrachten. Viele Leute haben ihre Wut auf die Straße getragen und werden das in Zukunft weiter tun. Diese Ungerechtigkeiten werden nicht unbeantwortet und widerstandslos passieren. Wir werden zu einer realen Bedrohung.

Aber was werft Ihr dem (linken) Berliner Senat vor?

Liebig34: Eigentlich werfen wir dem Berliner Senat gar nichts vor, denn wir erwarten auch nichts von denen. Es ist so viel Scheiße passiert und dafür ist der Berliner Senat verantwortlich - sei es die Räumung der Geflüchtetenbesetzung in der Ohlauer Straße, sei es die Vertuschung und Kleinhaltung des ganzen Komplexes um die rechten Anschläge in Neukölln. All die Versprechungen, gegen den Ausverkauf der Stadt vorzugehen oder eine queerfreundlicheres Berlin zu gestalten, sind leere Phrasen. Der Senat macht sich seit langem zum Spielball von Investor*innen und Immobilienhaien.

"Die Polizei könnte Befehle verweigern"

Und vertraut ihr deutschen Gerichten noch? Leben wir in einem Rechtsstaat?

Liebig34: Es wäre polemisch zu sagen, dass wir hier in Deutschland in keinem Rechtsstaat leben. Wir leben in Zeiten, in denen Menschen wie Erdogan, Orban oder Trump regieren. Aber natürlich trägt Deutschland eine riesengroßen Teil dazu bei, dass in anderen Ländern der Rechtsstaat ausgehebelt werden kann. Das können wir nicht übersehen. Wenn wir uns also als Teil dessen sehen, müssen wir an deutsche Gerichte und dessen Rechtsstaatlichkeit zweifeln.

Bereitet ihr euch auf die Räumung vor?

Liebig34: Natürlich. Wir bereiten uns auf verschiedenen Ebenen auf eine Räumung vor und mobilisieren ja auch jetzt schon zu aktivem Widerstand, um eine Räumung zu verhindern.

Mit was muss die Polizei rechnen?

Liebig34: Jede Räumung hat ihren Preis und den muss auch die Polizei zahlen. Diese Institution ist ein signifikanter Auswuchs des kapitalistischen Patriarchats. Sie sind das ausführende Organ, das die Räumung durchführen wird. Sie waren es, die das Syndikat geräumt und Menschen mit Knüppeln weggeprügelt haben. In einer Welt, in der uns Selbstbestimmung und Wiederaneignung von Produktionsmitteln verunmöglicht wird, ist die Polizei zentraler Angriffspunkt für antiautoritären und antikapitalistischen Widerstand. Das sehen wir gerade weltweit und das ist auch hier der Fall.

Habt ihr Mitleid mit Polizist*innen?

Liebig34: Nein. Die Polizist*innen haben sich ihren Job ausgesucht und obwohl sie eigentlich tagtäglich damit konfrontiert werden, dass Menschen Angst vor ihnen haben, um ihr Leben bangen, wenn sie die Polizei sehen oder sie verachten, weil sie sie nicht als "Freund und Helfer" sehen, bleiben sie in diesem Beruf. Das ist eine Entscheidung aus Überzeugung. Und diese Überzeugung steht konträr zu unseren Ideale einer befreiten Gesellschaft. Wir haben ja auch kein Mitleid mit Großinvestoren, die Leute zwangsräumen lassen und nur Platz für Reiche schaffen. Die Polizei übernimmt diese Drecksarbeit und nicht selten finden sie diese Gewaltausübung auch richtig geil. Sie könnten Befehle verweigern.

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