Befinden wir uns in einer "Fassadendemokratie" mit einem "Tiefen Staat"?

Bild: Christian Lue/Unsplash.com

Über die derzeit kursierenden Beschreibungen westlicher Demokratien und Medien

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Demokratie steht weltweit derzeit unter Druck. Es lässt sich eine Tendenz zur Entdemokratisierung auf der internationalen und der nationalstaatlichen Ebene feststellen. Aber ist es tatsächlich so, wie z.B. der Psychologe Rainer Mausfeld suggeriert, dass das westliche Demokratiesystem im Zuge des Siegeszugs der Neoliberalisierung zu einem manipulativen und getarnten System nicht legitimierter Herrschaft degeneriert ist? Wird sich tatsächlich der "Hülse der repräsentativen Demokratie nur noch bedient, um die eigentlichen Zentren politischer Macht für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen"1? Werden die Bürger_innen mit Hilfe gezielter Falschinformation ('Fake News') im Interesse der Machthabenden manipuliert?2

Die Aushöhlung der Vereinten Nationen

Große Hoffnungen wurden 1945 in die Gründung der Vereinten Nationen gesetzt, die dieses Jahr ihr 75-Gründungsjubiläum feiern. Manche Hoffnungen auf eine an den Menschenrechten orientierte Friedensarbeit, an den Klimaschutz und zur Beseitigung des Welthungers konnten in Ansätzen eingelöst werden. Die Welt wäre sicherlich in einer noch problematischeren Lage ohne die multilaterale Zusammenarbeit über die United Nations, als sie es ohnehin zurzeit ist.

Viele Vorhaben scheiterten jedoch an der ungenügenden Demokratisierung der UN. Die damals zunächst sehr zurückhaltend vorgenommene Demokratisierung des internationalen Zusammenschlusses der Völker wurde nicht weiterentwickelt, sondern wird derzeit eher Schritt für Schritt unterlaufen und zurück entwickelt.

Die Vereinten Nationen wurden bei ihrer Gründung schon so angelegt, dass eine weitere Demokratisierung einen schweren Stand haben würde. Die UN-Vollversammlung besteht nur aus von Regierungen abgesandten Vertretern und ist nicht gewählt. Dort befinden sich sogar Vertreter von Diktaturen und autokratischen Regimes. Sie kann darüber hinaus nur Empfehlungen aussprechen. Der UN-Sicherheitsrat dominiert daher die multilaterale Zusammenarbeit. Hierbei sind auch die mit einem Veto-Recht ausgestatteten mächtigen ständigen fünf Mitglieder nicht gewählt sondern gesetzt worden.

Die mächtigsten Nationen im UN-Sicherheitsrat in Form der fünf ständigen Mitglieder vertreten eher eigene nationalstaatliche und geostrategische Interessen und weisen ein deutliches Defizit hinsichtlich ihrer Orientierung an gemeinsamen Interessen der Weltbevölkerung auf, wie z.B. der Bekämpfung des Welthungers, gemeinsam koordinierter Anstrengungen gegen Pandemien oder der Herstellung von Bedingungen zu einer wirkungsvollen Friedenssicherung und Kriegsprävention.3

Die Rede des US-Präsidenten Donald Trump im September 2019 vor der 74. UN-Generalversammlung macht die bewusst vorgenommene Abwertung der UN deutlich. Trump wagt es, den Vertretern der Vereinten Nationen ihre Legitimität im Sinne einer multilateralen Verständigungsgemeinschaft abzusprechen, indem er formuliert4:

If you want freedom, take pride in your country. If you want Democracy, hold on to your sovereignty. If you want peace, love your nation. Wise leaders always put the good of their own people and their own country first.

The future does not belong to globalists. The future belongs to patriots.

Hier wiederholt er seine bereits zuvor vor den UN vorgebrachte provokative Aussage, dass die Zukunft nicht dem Weltbürgertum, sondern den nationalstaatlichen Patrioten gehöre. Demokratie könne nur im nationalstaatlichen Rahmen erhalten werden. Nur Menschen, die ihre Nation liebten, trügen automatisch zum Frieden in der Welt bei. Geschichtsvergessener kann man sich wohl nicht äußern. Immer waren national-patriotische Einstellungen und nationalistisch gefütterte Emotionen Begleiterscheinung und massenpsychologisch hergestellte Motivation zwischenstaatlicher Kriege.

Klugheit in der politischen Führung besetzt er mit dem Nationalchauvinismus ihrer politischen Führer vergleichbar mit dem "America first". Dass Trump sich dies in seiner Funktion als US-Präsident vor den Vereinten Nationen erlauben kann, ist Ausdruck der derzeit zu beobachtenden Schwächung der Vereinten Nationen, die sich gegen eine derartige Verhöhnung ihres eigenen Anspruchs hinsichtlich der Multilateralität und Völkerverständigung nicht wirkungsvoll wehren kann.

Auch Trumps Versuche über mit Falschinformationen gespickten Twitter-Botschaften die Vereinten Nationen, z.B. die UNESCO oder die WHO, finanziell unter Druck zu setzen, sind hier zu nennen. Nachweisbar bedient er sich 'Fake News', zum einen um seine politische Agenda des 'America First' umzusetzen und zum anderen, um lästige Probleme, wie z.B. Corona, zu verdrängen bzw. aus dem öffentlichen Fokus zu nehmen.5

Die Krise nationalstaatlicher Demokratien

Doch nicht nur auf der Ebene der Vereinten Nationen lassen sich Demokratiedefizite feststellen, auch zahlreiche Nationalstaaten mit ehemals demokratischem Selbstanspruch sind in der Krise. Bereits vor mehreren Jahrzehnten kritisierte der deutsche Sozialwissenschaftler Tilman Evers zutreffend das Demokratiedefizit so mancher repräsentativ organisierter Demokratien6:

Dazu zählen Politikverdrossenheit und Vertrauensschwund in der Bevölkerung, Zurichtung politischer Inhalte auf Wahltermine und Medienöffentlichkeit, Ausblendung längerfristiger und programmatisch 'querliegender’ Themen, Parteidisziplin statt Diskussions- und Lernoffenheit, hierarchische Binnenstrukturen und Ämterpatronage, Aushöhlung des Parlaments zugunsten der Exekutive und Kompetenzbehauptung statt Problemlösung.

Natürlich müssten die verschiedenen westlichen Demokratien hier differenziert untersucht werden, da zwischen den politischen Strukturen Deutschlands im Vergleich etwa zu den USA, der Schweiz oder GB erhebliche Unterschiede vorhanden sind.

In diesem Zusammenhang ist auch die Notwendigkeit zu diskutieren, Formen repräsentativer Demokratie mit Elementen direkter Demokratie, wie Bürger- und Volksbegehren sowie Volksentscheide, in eine sinnvolle Balance zu bringen. Werden allerdings Formen direkter Demokratie zu mächtig, dann entwerten sie demokratische Wahlen, die gewählten Parlamente und deren Repräsentanten. Auch stellt sich die Frage, ob Volksabstimmungen immer die besseren politischen Lösungen bringen oder nicht auch im Falle von Manipulation, Hetze und Demagogie zu fragwürdigen Entscheidungen führen. Findet hingegen direkte Demokratie nur mit hohen Hürden oder alibihaft statt, dann fühlen sich die Bürger zwischen den Wahlen oftmals übergangen und abgehängt. Es wird hierbei die Chance zu demokratischer Aktivierung und Mitbestimmung vertan.

Aufgrund der ungenügenden Mitbestimmungsmöglichkeit, der Abgehobenheit vieler Parlamentarier und der Unzufriedenheit mit vielen parlamentarischen Entscheidungen hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielen vorwiegend repräsentativen Demokratien, wie z.B. Deutschland oder Frankreich, eine schleichende Politik(er)verdrossenheit eingestellt. Sie ist in einem ernst zu nehmenden Ausmaß mit deutlichen Tendenzen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und mit einem Hang zur Wahl rechtspopulistischer Parteien und Politiker verbunden.7

Einschneidende Änderungen hat es hierüber hinaus in einer Reihe ehemaliger repräsentativer Demokratien gegeben, die sich deutlich in die Richtung einer autokratischen Staatsform entwickeln, wie z.B. die Türkei, derzeit die USA, die Philippinen, Ungarn, Russland, Brasilien. Andere Staaten, die noch nie als demokratische Staaten im westlichen Sinne zu bezeichnen waren, wie z.B. China, bauen die digitale Kontrolle über ihre Bürger zunehmend aus und treten in die staatliche Entwicklungsphase einer digitalen Autokratie ein. Ein wesentliches Kennzeichen der sich autokratisch entwickelnden Staaten ist, dass mit systematischen 'Fake News' gearbeitet wird, die entweder selbst produziert oder von außen manipulativ eingesetzt werden. Beispielsweise die US-Präsidentschaftswahlen 2016, die zur Ernennung Trumps führten, die Abstimmung zum Brexit in England im gleichen Jahr sowie die polnischen Wahlen 2015 wurden nachweislich von systematisch über die sozialen Medien verbreiteten 'Fake News' auch unter Zuhilfenahme von 'Social Bots' beeinflusst.

Der Transformations-Index der Bertelsmann-Stiftung (BTI), der seit 2006 für 129 Entwicklungs- und Schwellenländer erhoben wird, weist einen Rückgang demokratischer Strukturen und eine Zunahme nationaler Autokratien aus8:

Immer mehr Menschen leben nicht nur in Ungleichheit, sondern auch in repressiven Regimen. Aktuell werden 3,3 Milliarden Menschen autokratisch regiert, so viele wie noch nie seit Start der Untersuchung. Ihnen stehen 4,2 Milliarden Menschen gegenüber, die in Demokratien leben. Von den 129 untersuchten Entwicklungs- und Transformationsländern stuft der BTI 58 als Autokratien und 71 als Demokratien ein. 2016 betrug das Verhältnis noch 55 zu 74. Aber es ist weniger die leicht steigende Zahl von Autokratien, die bedenklich stimmt. Problematisch ist, dass in immer mehr Demokratien Bürgerrechte beschnitten und rechtsstaatliche Standards ausgehöhlt werden. Ehemalige Leuchttürme der Demokratisierung wie Brasilien, Polen oder die Türkei gehören zu den größten Verlierern im BTI.

Die politische Zukunftsperspektive einer Neuordnung liegt in einer Stärkung des Demokratiegedankens

Allerdings soll trotz dieses derzeitig feststellbaren Rückzugs der Demokratien im weltweiten Kontext an der Idee der Demokratie als geeigneter gesellschaftlicher, staatlicher und überstaatlicher Herrschafts- und Lebensform festgehalten werden. Nur in Demokratien lassen sich auch zukünftig die Menschenrechte, wie z.B. die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie die Organisations- und Meinungsfreiheit, verwirklichen. Nur in Demokratien müssen demokratisch engagierte Menschen nicht in Angst leben, am nächsten Morgen abgeholt zu werden. Nur in Demokratien kann es gelingen, den Willen und die Bedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsteile im Rahmen von Beteiligungsverfahren und politischen Kompromissen angemessen zu berücksichtigen. Nur die Demokratie gewährleistet eine Einlösung der Ziele einer an Mündigkeit der Menschen orientierten Aufklärung, deren Konzipierung als bisher bedeutendste Kulturleistung aufgefasst werden kann.

Natürlich gibt es auch hinter den Kulissen Konzernspitzen und Interessensgruppen, die versuchen, verdeckt Macht auszuüben. Doch sie stellen nur einen Einfluss unter mehreren dar und werden immer wieder von Bürgerbewegungen, Gerichten, Parteien, Verbänden und NGOs gebremst und in ihrem Einfluss relativiert. Der Anspruch an eine konflikthafte Demokratie, die gleiche Rechte gewährt, aber auch Vielfalt zulässt, ist in Deutschland weitgehend vorhanden und durchaus lebendig. Diesen demokratischen Anspruch und dessen immer wieder durchzusetzende Verwirklichung beschreibt die Sozialwissenschaftlerin Sibylle Reinhardt wie folgt9:

Demokratie, begriffen als Herrschaft des Volkes für das Volk und durch das Volk, ist ein unmittelbar überzeugendes Prinzip für Staatlichkeit. Es verbürgt Anerkennung für und durch alle, es gilt die gleiche Achtung aller vor allen. Diese Gleichheit muss aber in ein Verhältnis zur Ungleichheit gesetzt werden, die aus dem Recht auf Individualität folgt und Differenzen und Vielfalt ergibt. Diese Spannung muss ausgehalten und balanciert werden.

Weder rechtspopulistisch legitimierte und autokratische Herrschaftsformen noch traditionell linke Vorstellungen eines autoritären sozialistischen Staats im Übergang zum Kommunismus ('Diktatur des Proletariats') sind geeignet, die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme der Menschheitsentwicklung und gesellschaftlicher Entwicklung zu bewältigen. Nur über eine weitere Demokratisierung im nationalen, regionalen und globalen Kontext ist eine gesellschaftliche Veränderung zu mehr Frieden und zu weniger Kriegen, zu einer gerechteren Reichtumsverteilung sowie zur Bekämpfung der bereits eintretenden Klimakrise zu erzielen. Eine derartige Demokratisierung darf allerdings den ökonomischen Bereich nicht aussparen. Ansätze zur Mitbestimmung und zur Gewinnbeteiligung von Unternehmen sind auszubauen. Genossenschaften und Betriebe solidarischer Ökonomie bzw. Unternehmen, die sich den Anforderungen der Gemeinwohlökonomie verpflichtet haben, sind besonders durch staatliche Maßnahmen zu fördern.