Ärzte ohne Grenzen: "Horror" in spanischen Altenheimen

"Sie trommelten gegen die Türen und flehten darum, herausgelassen zu werden"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Zu schwach, zu spät und schlecht" ist eine Studie der spanischen Ärzte ohne Grenzen über die Lage in den spanischen Altenheimen während der Corona-Krise überschrieben. Die Unterüberschrift: "Das inakzeptable Elend alter Menschen während COVID-19 in Spanien" beschreibt den Inhalt einer vernichtenden Studie von Medicos Sin Fronteras (MSF).

In Spanien wird sie von vielen Medien aufgegriffen. Sie zitieren daraus zum Beispiel die Forderung, dass das, was in Altenheimen passiert ist, "sich nie wieder wiederholen dürfe".

Die große Tageszeitung El País greift vor allem den "Mangel an Koordination unter Institutionen und das Fehlen von Führung" heraus. Sie kritisiert damit auch die ihr nahestehende sozialdemokratische Regierung, die nur schwach, spät und schlecht eingegriffen hat. Eine effektive Hilfe habe es nicht gegeben.

Durch die Unterbringung der Menschen in geschlossenen Räumen und angesichts einer fehlenden medizinischen Versorgung habe sich die Ansteckung vervielfacht und die Sterblichkeit erhöht. Für MSF hängt "ein guter Teil der Schwierigkeiten mit strukturellen Mängeln sowie mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und Kürzungen in diesem Sektor zusammen".

Über die dantesken Szenen hatte Telepolis schon im März berichtet: Alte Menschen waren einfach zum Sterben zurückgelassen worden. Zwischenzeitlich waren Dokumente aufgetaucht, dass die rechte Regionalregierung der Hauptstadtregion Madrid angeordnet hatte, alten Menschen die Einlieferung in Krankenhäuser zu verweigern.

Systemische Probleme

Allein dort konnte die Todeszahl alter Menschen, denen jede medizinische Hilfe verweigert wurde, auf 7.291 beziffert werden. Ärzte ohne Grenzen berichtet auch vom "Horror" und von dramatischen Situationen, die sich in den Heimen abgespielt haben. So wird eine "eiserne" Isolation angeprangert, der die Bewohner unterworfen waren.

Es wurden Szenen von Feuerwehrleuten beobachtet, wo Menschen "gegen geschlossene Türen trommelten und flehten, herausgelassen zu werden". Die Organisation mahnt, dass Lehren aus den Vorgängen gezogen werden müssen, da "das Risiko, dass alte Menschen in Altenheimen erneut betroffen sind, nicht abgenommen hat".

Als Schlussfolgerungen kommt die umfassende Studie zum Resümee, dass die "übermäßige Sterblichkeit während dieser Krise auf strukturelle und systemische Probleme im Zusammenhang mit dem spanischen Modell" hinweise. Unterstrichen wird die Notwendigkeit, dass die medizinische Versorgung verbessert werden müsse, egal ob es öffentliche oder private Heime sind.

Das derzeitige Modell der Heimpflege sei mehr auf die Bedingungen des Dienstleistungsanbieters als auf die sozialen und gesundheitlichen Bedürfnisse der alten Menschen zugeschnitten.

Dürftige und unklare Datenlage

Ein großes Problem ist, wie immer in Spanien, die dürftige und unklare Datenlage. Schätzungen des Gesundheitsministeriums zufolge, genauere Daten gibt es nicht, sollen 27.350 alte Menschen zwischen dem 6. April und dem 20. Juni gestorben sein. Man schiebt das auf schlechte Daten aus den Regionen, eine habe nie Daten geliefert.

Jetzt dürfen sich die Leser aber nicht wundern, dass Spanien offiziell insgesamt bisher nur von 28.646 "Coronavirustote" angibt. Diese Zahl glaubt ohnehin niemand mehr, da alte Menschen in Altenheimen nicht getestet wurden und deshalb nicht als "Corornavirustote" in die Statistik einfließen. Auch deshalb fordern namhafte Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Lancet eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge. Das spanische Statistikamt (INE) hat Übersterblichkeit im Frühjahr allein bis zum 24. Mai schon mit fast 44.000 beziffert.

An dieser Stelle wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es allein an den Daten aus den Regionen nicht liegen kann. Denn ein massives Chaos herrscht offensichtlich auch im Madrider Gesundheitsministerium. Es bestehen massive Diskrepanzen bei Zahlen. Stets, das gilt auch für die Zahl von Infizierten, Einlieferungen in Hospitäler oder Intensivstationen und Toten, gibt es oft massive Differenzen. Und stets rechnet man in Madrid die Daten aus den Regionen schön, sie fallen meist deutlich niedriger aus, sticht bei genauerer Analyse ins Auge.

Schauen wir uns die aktuelle Mitteilung des Gesundheitsministeriums an. Da wird am Dienstag aufgeführt, dass es in den letzten sieben Tagen im Baskenland eine Einweisung in Hospitäler gegeben haben soll. Das ist schlicht gelogen.

Es gab nach Angaben der baskischen Regierung allein vom Montag auf Dienstag 17. Drei Personen mussten auf die Intensivstation verlegt werden, wo nun insgesamt 17 Basken um ihr Leben kämpfen. Die Basken haben mit der Ausrufung des Gesundheits-Notstands nun wieder die Reißleine gezogen, um die Lage angesichts steigender Infektionszahlen wieder in den Griff zu bekommen.

Und man kann das auch an der Zahl der Toten durchexerzieren. So hat Katalonien allein am Dienstag zehn "Coronavirustote" gemeldet. Doch in der Statistik des Gesundheitsministeriums fällt die Null weg und es wird daraus eine 1. Man kommt längst nicht mehr an der Einschätzung vorbei, dass die Zahlen in Madrid gezielt gesenkt werden.

Klar ist, dass in Katalonien nun 130 Menschen auf Intensivstationen wegen Covid-19 um ihr Leben kämpfen. Im ganzen Land dürfte die Zahl zwischen 500 und 1.000 liegen, da es zusätzlich allein in Madrid fast 101 und in Aragon 62 sind.

In Madrid wurde nun auch ein 40-jähriger Mann wegen Covid-19 in ein Krankenhaus eingeliefert, der am Wochenende an einer Demonstration mit weiteren 2.500 Personen teilgenommen hat. Dort wurde das Virus geleugnet, gegen Masken, Impfungen und 5G gewettert. Einer der ihn behandelnden Ärzte teilte mit, dass er inzwischen positiv getestet wurde. Ein Tracking ist in diesem Fall praktisch unmöglich.

Allerdings ist die Zahl der neuen Infizierten in Katalonien nun massiv gesunken. Sie halbierte sich von gut 1.000 am Vortag auf gut 500 am Dienstag. Damit ist auch die Einschätzung widerlegt, dass man immer mehr Infizierte findet, umso mehr getestet wird.

Spanien ist aber weiter abgeschlagen auf dem Spitzenplatz bei der Zahl der Infizierten. Es sind nun 131 Fälle auf 100.000 Einwohner. Deutlich dahinter liegen Belgien (70), Russland (46), die Niederlande (44) oder Frankreich (40).

Und, das war leider zu erwarten, die Lage in Andalusien entwickelt sich zusehends dramatisch. Obwohl dort nur wenig getestet wird - nur ein Viertel der Tests pro 100 Einwohner im Vergleich zum Baskenland -, ist die Region bei den festgestellten neuen Infektionen nun hinter Madrid auf dem 2. Rang vorgestoßen.

Andalusien hat nun Aragon auf Platz 3 verdrängt und erst dahinter tauchen Katalonien und das Baskenland auf. Ein weiterer Hinweis darauf, wie absurd die These ist, dass viele Infizierte dort gefunden werden, wo viel getestet wird.

Für hohe Dunkelziffern in den von Rechtskoalitionen regierten Regionen Madrid und Andalusien spricht weiter auch, dass Andalusien sogar nach Angaben des spanischen Gesundheitsministeriums in den letzten sieben Tagen 144 Einweisungen in Hospitäler verzeichnete und ebenfalls dabei Platz 2 einnimmt. Madrid nimmt dabei weit abgeschlagen mit 308 den traurigen Spitzenplatz ein.

Dramatisch entwickelt sich die Lage aber auch in Valencia, das mit 118 Einweisungen in die Spitzengruppe vorgestoßen ist. Übrigens, die für das Auswärtige Amt weiter "sicheren" kanarischen Inseln haben bei den Einweisungen in Krankenhäuser mit 58 nun auch das angeblich so unsichere Katalonien (42) abgelöst. Es befinden sich auf den Kanaren nun schon 63 Menschen wegen Covid in Hospitälern und acht auf Intensivstationen, zwei mehr als am Vortag.