Welches Haus für Belarus?

Massenprotest in Minsk am 16. August. Bild: Максим Шикунец/CC BY-SA-4.0

Droht das Land im neuen Kalten Krieg zerrieben zu werden? Und welche Perspektiven hätten es bei einer Zuwendung zum Westen? Ein Vergleich

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Der massive Widerstand gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug in Belarus hat nun auch diejenigen westlichen Akteure auf den Plan gerufen, die sich bereits in der Ukraine und Georgien für einen Regime-Change eingesetzt haben. Die Proteste drohen damit vor dem Hintergrund des neuen Ost-West-Konfliktes von pro-europäischen Kräften vereinnahmt zu werden, während Russland erwartungsgemäß dagegenhält.

So kam, während EU-Außenminister am Mittwoch dieser Woche in Brüssel eine gemeinsame Linie gegenüber der Führung von Präsident Alexander Lukaschenko berieten, der französische Aktivist und Publizist Bernard-Henri Lévy in Wilna mit der belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja zusammen - "dem Gesicht der Opposition gegen den Tyrannen Lukaschenko", wie er auf Twitter schrieb. Nun ist Lévy nicht irgendwer: Der Meinungsmacher und Anteilseigner der Tageszeitung "Liberatión" ist ein glühender Verfechter sogenannter Farbenrevolutionen in Osteuropa.

2008 schon forderte Lévy in einem offenen Brief an Angela Merkel und den damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die Nato. Auf dem Höhepunkt der Maidan-Revolte in der Ukraine 2014 dann plädierte er in einem weiteren Aufruf für die Unterstützung des Aufstandes durch die EU. Die Tugenden des Widerstands, die den Geist Europas ausmachten und die General de Gaulle geführt hätten, "diese Tugenden habt ihr in diesen blutigen Tagen mit Leben erfüllt", schrieb er damals in dem Text, der in deutscher Übersetzung in der FAZ erschien: "Ich verneige mich vor eurem Mut und sage euch noch freudiger als zuvor: Willkommen in unserem gemeinsamen Haus!"

Beispiel Ukraine

So weit, so gut. Doch welches Zimmer haben die Ukrainer in diesem Haus bezogen? Gut sechs Jahre nach dem "Euromaidan" ist die Ukraine ein von Armut und Korruption zerfressenes Land, der Territorialkonflikt im Osten bleibt ungelöst. Alle Versuche der EU, die Oligarchen- und Vetternwirtschaft zu durchbrechen, sind krachend gescheitert.

Den ersehnten politischen und wirtschaftlichen Anschluss an die EU hat Kiew nie gefunden, die historischen Bande zu Russland indes gekappt: Der Handel mit dem östlichen Nachbarn ist von 38 Milliarden US-Dollar in 2013, dem Jahr vor dem Maidan-Aufstand, auf 11,7 Milliarden US-Dollar eingebrochen. Die einst 44 Milliarden US-Dollar Handelsvolumen mit der EU wurden nie mehr erreicht. Die Ukraine hat heute vor allem ein Exportgut: Arbeitsmigranten für die EU, Frauen bleibt die Perspektive als "Gebärmaschinen" für kinderlose westliche Paare. Der zaghafte Aufschwung fußt vor allem in der Etablierung des Landes als verlängerte Werkbank im erweiterten Euro-Wirtschaftsraum, etwa bei der Produktion von Kabelbäumen für die EU-Autoindustrie oder der Textilfertigung. Die Armut könnte, so die Prognose des UN-Kinderhilfswerks Unicef, die 50-Prozent-Marke durchbrechen.

Beispiel Georgien

Das Versprechen von Wohlstand und Aufschwung hat sich mit der Zuwendung zum Westen auch hier nicht erfüllt. Seit dem Ende der Sowjetunion durchlebte das Land zwei Kriege und eine andauernde wirtschaftliche Stagnation. Zwischen 1995 und 1997 stieg das Produktionsvolumen auf etwa 30 Prozent des Niveaus zu Sowjetzeiten. Heute liegt die Armutsrate trotz leichter Verbesserung immer noch bei gut 14 Prozent, gut 19 Prozent leben - vor allem auf dem Land - in extremer Armut.

Wie wenig nachhaltig die Wirtschaft ist, zeigt sich in der Corona-Krise, die das Land mit dem Zusammenbruch des Tourismus hart getroffen hat. Die Nahrungsmittelversorgung ist nach wie vor nicht gelöst. Kein Wunder, dass die georgische Autorin Iunona Guruli eine düstere literarische Bilanz zieht.

Kein gesamteuropäisches Haus

Die Liste ließe sich fortsetzen. Auch das uns nahe Wirtschaftswunderland Polen kämpft mit den Schattenseiten der Neoliberalisierung im Zuge der Eingliederung in die EU-Wirtschaftsordnung.

Ein "gesamteuropäisches Haus" aber, wie es Michail Gorbatschow noch 1989 vor dem Europarat skizzierte, ist nie errichtet worden. Und auch Belarus droht im neuen Kalten Krieg zwischen Russland und den Nato-Staaten zerrieben zu werden. Dabei hätte das Land die Chance, eine gesamteuropäische Perspektive im Gorbatschowschen Sinne zu finden. Ob Oppositionsführerin Tichanowskaja dazu willens ist?

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