Revolution, Diktatur und Verschwörung - die spirituelle Szene auf politischen (Ab-)Wegen

Q-Anon-Anhänger (mit Gelbweste) und Reichsbürger (mit Reichsflagge) auf der Hypiene-Demo in Berlin Mai 2020. Bild: Ronald Engert

Dargestellt anhand der Untersuchung von Wilhelm Reich über die Massenpsychologie des Faschismus

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Viele Jahre war die spirituelle Bewegung unpolitisch. Man beschäftigte sich mit dem Weg nach innen, mit Selbstverwirklichung und Erwachen. Die Corona-Krise und das allgemeine politische Klima in der Gesellschaft machen aber auch vor der Szene nicht halt. Politische Meme werden von spirituellen Menschen aufgegriffen und in ihr Weltbild eingebaut. Die Synthese von Spiritualität und Politik ist jedoch nicht so einfach.

Die aktuelle Gefahr der spirituellen Szene besteht darin, dass sie ungewollt rechte Ideologie adaptiert, die eine gewisse Nähe zu mythischen und mystischen Inhalten hat. Es sollen deshalb in diesem Aufsatz einige Positionen des historischen Nationalsozialismus und ihre Nähe zu allgemein spirituellen Ideen aufgezeigt werden und wie diese mit der heutigen Lage korrespondieren.

Zielgruppe dieses Aufsatzes sind sowohl politisch eingestellte Menschen, die die spirituelle Szene besser verstehen möchten, als auch spirituelle Menschen, die eine Orientierung in den politischen und gesellschaftlichen Prozessen suchen. Überzeugte "Corona-Rebellen"1 werden von diesem Aufsatz sicherlich wenig begeistert sein.

Der Psychologe Wilhelm Reich (1897-1957) macht zu Beginn seines Buches "Massenpsychologie des Faschismus"2 darauf aufmerksam, dass es nicht ausreiche, die Vertreter der Reaktion lächerlich zu machen. Es sei vielmehr wichtig, ihre Stärken sowie ihre unzweifelhaft existierenden überzeugenden Motive zu erkennen. Reich schrieb sein Werk ab 1930 und veröffentlichte es im September 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Er ist deshalb ein Zeitzeuge, der die Geschehnisse in den Jahren vor der Machtergreifung direkt miterlebte.

Für ihn ist "plumpe Demagogie […] immer ein Zeichen der theoretischen und praktischen Schwäche und, weil sie nichts erzielt, objektiv konterrevolutionär" (Reich, S. 7). Dies sagt er mit Blick auf die Gegner der Nationalsozialisten, die deren Stärke unterschätzt hatten. Man hatte damals von linker Seite die Neigung, die Rechten als Spinner oder Psychopathen hinzustellen. Dies war fatal und half den Nazis, die Macht zu ergreifen, da man sie zu lange nicht ernst nahm. Reich vermittelt uns als Zeitzeuge, "dass die Stärke der Nationalsozialisten ihre Überzeugtheit von ihrer göttlichen Sendung war" (ebd.). Er beschreibt Hitler als einen "ehrlich überzeugten Fanatiker des deutschen Imperialismus" (ebd.). Sie hätten Ziele, "die der einfache SA-Mann selbst brennend erstrebt: den Sturz des Kapitals; […] Hitler vermeint, das Volk zu befreien" (8)3. Diese Aussagen weisen darauf hin, dass Hitler und seine Partei eine genaue Vorstellung ihrer politischen Ziele hatten und von einem großen Geist beseelt waren.

Laut Reich, einem überzeugten Kommunisten und Antifaschisten, ging es ihnen um die Befreiung vom Kapital, um ehrliche Überzeugung, ja sogar um ein göttliches Sendungsbewusstsein. Man wird Reich wohl nicht apologetische Überhöhung der Nazi-Ideologie unterstellen können. Seine Aussage zeigt indes, dass es sich aus der Sicht der Nationalsozialisten im Ursprung um große Ideen für die Menschheit handelte - natürlich nur für eine bestimmte Menschengruppe, die Deutschen, die andere Menschen, z. B. die Juden, dezidiert ausschloss.

Üblicherweise versteht sich eine nationalistische, imperialistische, sexistische oder rassistische Herrenklasse immer als Repräsentation der gesamten Menschheit. Dabei definiert sie sich nachgerade über den Ausschluss vermeintlich minderwertiger Untermenschen. Die Ideen an sich - Freiheit, Ehrlichkeit, Gottesbewusstsein - sind nicht verwerflich. Das Problem liegt in der Exklusion bestimmter Menschen, denen diese Rechte nicht zuerkannt werden. Da es in diesem Aufsatz um eine ideengeschichtliche Untersuchung geht, bleibe ich bei den Ideen.

Wo stehen wir heute?

Heute hören wir bei den aktuellen Widerstandsbewegungen, d. h. den Corona-Rebellen, den "alternativen Medien" und ihrer Klientel und generell den Systemgegnern mitsamt den politisch indifferenten Strömungen, die die Unterscheidung von links und rechts ablehnen, ähnliche Töne. Die Rebellen sind überzeugt, "erwacht" zu sein und verborgene Zusammenhänge zu erkennen, die der schlafenden Mehrheit nicht bekannt sind. Es geht ihnen um die Wahrheit und die Freiheit sowie die Grundrechte und den Sturz des totalitären Systems, wie es u. a. in der Symbolfigur des Bill Gates dargestellt wird. Die aus ihrer Sicht ehrenhaftesten Motive stehen am Ursprung dieser Bewegung.

Hygiene-Demonstrant in Berlin: Gib Gates keine Chance (mit Gegendemonstrantinnen mit Atemschutz). Bild: Ronald Engert

Wie allerdings bei Wilhelm Reich oben angedeutet, hatten auch die Nationalsozialisten in ihrer subjektiven Wahrnehmung diese Auffassung von ehrenhaften und moralisch korrekten Motiven. Man muss davon ausgehen, dass es den Nazis nicht um eine unmittelbare Destruktivität ging, als die wir sie heute historisch und ideologisch erkennen. Sie wurde damals als eine Bewegung verstanden, die eine neue Welt und eine neue Menschheit anstrebte. Es sei noch mal betont, dass das die Perspektive der Nationalsozialisten ist. Sie soll nicht als objektive historische Wahrheit verstanden werden.

Auch bin ich selbst nicht der Ansicht, dass die Nazi-Ideologie etwas zur Freiheit der Menschheit beizutragen gehabt hätte. Ich interpretiere diese Vorstellung als die subjektive Wahrnehmung der Nazi-Bewegung, bei der "Menschheit" für die "arische Rasse" stand. Ich stelle mir jedoch immer wieder die Frage, wieso 30-40 Mio. Deutsche von dieser Ideologie begeistert sein konnten. Das kann nur an der großen Vision liegen, die die Menschen damals darin sahen, bevor sie wussten, wohin es am Ende führte. Dass sie es nicht vorher wussten, sollte uns zu denken geben und bei der heutigen Beurteilung der Rechten entsprechend berücksichtigt werden.

Ein Beispiel für diese Aufbruchsstimmung ist der Begriff vom "Dritten Reich". In der religiösen Überlieferung war das Dritte Reich das Reich des Heiligen Geistes nach dem Reich des Vaters und des Sohnes, das dritte Element der Trinität und die Vervollständigung des Reichs Gottes auf Erden.4 Die nationalsozialistische Bewegung verstand sich in diesem Sinne als Impuls, das repressive und entfremdete System des Kapitalismus aufzubrechen und die Menschheit in die Freiheit zu führen. Dieses Motiv enthielt starke spirituelle Elemente, wie Wilhelm Reich deutlich macht. Dieser Zusammenhang ist der wesentliche Gegenstand der vorliegenden Arbeit und soll zeigen, wie die heutige spirituelle Szene über diese Brücke von rechten Ideologien unterwandert werden kann.

Rainer Langhans, ehemaliger Aktivist der 68er-Revolution und seit vier Jahrzehnten auf dem spirituellen Weg, liest den Nationalsozialismus als Gegenbewegung zur Aufklärung, deren Versprechen des "ewigen Friedens"5 nicht eingelöst worden war.6 Die Kritik an der Aufklärung sei berechtigt, seiner These nach versäumte es die nationalsozialistische Bewegung jedoch, das Böse und Mörderische in ihrem eigenen Inneren zu sehen und dort die Schattenarbeit der Aufarbeitung zu leisten. Das Böse wurde nach außen auf andere projiziert und führte zum Holocaust an den jüdischen Menschen und mit dem Zweiten Weltkrieg zur Zerstörung des Dritten Reichs.

Das Bedürfnis des spirituellen Erwachens7 ist jedoch auch heute nach wie vor vorhanden. In dem jetzigen Erstarken der systemkritischen Alternativbewegungen, die oft abwertend als Verschwörungstheoretiker bezeichnet werden, sehen wir die Wiederauflage dieses Impulses. Auch heute geht es um die Freiheit und die Wahrheit, die allenthalben ins Feld geführt und den Gegnern, z. B. der "Lügenpresse" bzw. den "Mainstream-Medien", sowie generell dem "Mainstream", der dann auch die Politik, die Wissenschaft und die Wirtschaft umfasst, mit Vehemenz bis hin zu Hass entgegengehalten werden. Natürlich fühlt man sich im Recht.

Wilhelm Reich weist darauf hin, "wer die positiv revolutionären Kräfte, die im Nationalsozialismus gebunden sind, nicht zu sehen vermag, der wird auch keine neue Praxis der Revolution entwickeln können" (8). Der revolutionäre Impuls in der aktuellen alternativen Bewegung ist vorhanden. Damals verstärkte sich dieser Impuls aufgrund der Weltwirtschaftskrise. Dies ist logisch und gehört zur normalen historischen Dialektik. In Krisensituationen entstehen Protestbewegungen und Teile der Bevölkerung radikalisieren sich. Die Corona-Krise des Jahres 2020 ist in diesem Sinne die Miniaturausführung der Weltwirtschaftskrise in den Jahren 1929-33. Wie stark die reaktionäre Alternativbewegung sich diesmal ausbilden wird, wird davon abhängen, wie stark die Krise sein wird.

Reich zitiert den "nationalistisch und metaphysisch denkenden Antikapitalisten" (15) Otto Strasser. Dieser warf der Linken vor, dass sie keine Erklärung dafür habe, warum "die Massen in der Weltkrise statt nach links nach rechts abschwenkten" (ebd.), und konstatiert: "Euer Grundfehler ist, dass Ihr die Seele und den Geist leugnet oder verlacht und ihn, der alles bewegt, nicht begreift." (Strasser zitiert bei Reich, 15f.) Reich räumt ein (16):

Schließlich siegte die Mystik der Nationalsozialisten in tiefster Krise und Verelendung über den wissenschaftlichen Sozialismus.

Es ist angesichts der mystischen Affinitäten der Rechten zu Seele und Geist kein Wunder, dass ausgerechnet die spirituelle Szene unbewusst starke Affinitäten zu rechten ideologischen Strukturen hat. Jutta Ditfurth wies bereits in den frühen neunziger Jahren mit ihrem Buch "Entspannt in die Barbarei"8 auf diesen Umstand hin. Ich lehnte ihre These immer ab und war von dem emanzipativen Potenzial der Spiritualität überzeugt. Nun muss ich erkennen, dass eine spirituelle Grundeinstellung nicht vor politischen Abwegen schützt. Das Verhältnis von Spiritualität und Politik ist gespannt, um nicht zu sagen von einer Haltung des Gegensatzes geprägt. Gerade die Menschen aus der spirituellen Szene sind politisch eher schlecht informiert und mit wenig politischer Kompetenz ausgestattet, da sie teils über Jahre und Jahrzehnte hinweg politisch nicht aktiv waren und eine ablehnende Haltung gegen Politik einnahmen.

Die Corona-Krisenlage schwemmte jedoch eine Flut von krypto-politischen Ansichten und Meinungen in die Bevölkerung, vorwiegend über die digitalen sozialen Medien. Diese politischen Meinungen werden von der spirituellen Szene in Form von krypto-spirituellen Glaubenssystemen aufgegriffen. Eine klare Unterscheidung von Politik und Spiritualität sowie ein kompetentes politisches Denken ist in dieser Szene wenig zu erkennen. So werden im schlimmsten Falle demokratische Politiker der USA als Satanisten tituliert (die Verschwörungsmythen von QAnon), im Normalfall wird zumindest von einem Unterschied der Erwachten zu den Schlafschafen gesprochen.

QAnon-Anhänger auf der Hygiene-Demo in Berlin. Bild: Ronald Engert

Es ist ein Fehler der politischen Linken, dass sie sich mit den spirituellen Bedürfnissen der Menschen nicht beschäftigt und sich nur auf die äußerlichen sozioökonomischen und politischen Probleme fokussiert. Reich sagt hierzu eindeutig: "Die marxistische Politik hatte, um es kurz vorwegzunehmen, die Psychologie der Massen und die soziale Wirkung des Mystizismus in ihren Kalkulationen und ihre politische Praxis nicht oder unrichtig einbezogen."

Eine politische Bewegung von links, die auch die spirituelle Dimension integrieren würde, hätte sicherlich eine wesentlich stärkere Wirkung auf die Bevölkerung. Es ist der Vorteil der Rechten, dass sie hier weniger Berührungsängste haben und dieses seelische Bedürfnis adressieren.

Es ist auf der anderen Seite ein Fehler der spirituellen Bewegung, dass sie sich nicht mit politischer Theorie und Sozialwissenschaft beschäftigt, sich nur auf die inneren seelischen und spirituellen Zustände fokussiert und sich auf das Gefühl beruft. Es ist der aktuellen spirituellen Szene nicht klar, dass sie mit ihren Positionen den kollektiven Rechtsruck verstärkt.

Die allerorten hörbare Rede von der Aufhebung des Unterschieds von rechts und links und die Positionierung als weder rechts noch links ist meines Erachtens irreführend. Wir sehen heute diese starke Querfront9, also eine Allianz von linken und rechten Positionen gegen das "System". Dazwischen tummeln sich die unentschiedenen Menschen, die aus einem Impuls der Menschenliebe heraus für alles offen sein und niemanden verurteilen möchten. Sie handeln in bester Absicht und meditieren beispielsweise gegen die Corona-Verordnungen oder singen spirituelle Lieder für die Freiheit. Es ist bei vielen ein eher humanitärer Impuls, der durch eine Indifferenz gegenüber dem Unterschied von Rechts und Links getragen ist. Gleichwohl gibt es auch die gesellschaftlichen Gruppen mit linken bzw. rechten Positionen.

Demonstrierende in Berlin auf den Hygiene-Demos. Bilder: Ronald Engert

Was durch eine indifferente Haltung unterstützt wird, sieht man an der Strategie der AfD, die sich als bürgerlich-konservativ anstatt rechts bezeichnet. Dadurch soll erreicht werden, dass sich die politische Mitte nach rechts verschiebt. Was früher rechts war, soll nun die Mitte sein. Wenn rechte Ideologen sich als Mitte oder bürgerlich-konservativ bezeichnen und Menschen ihnen glauben, rückt das gesamte politische Spektrum nach rechts.

Die Wirkung sieht man z. B. daran, dass antisemitische oder rassistische Aussagen, die noch vor einigen Jahren als extrem rechts nicht toleriert wurden, heute salonfähig werden. Auch die Zunahme rechtsextremer Gewalttaten wie der Mord an dem Politiker Walter Lübcke, der Angriff auf eine jüdische Synagoge in Halle und die zehn Todesopfer in Hanau zeigen eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz nach rechts.

Zu all diesem kommt die irritierende Ähnlichkeit der Positionen des aktuellen Corona-Widerstands mit Positionen der AfD, der Identitären u. ä. hinzu. In beiden Lagern, dem der Corona-Rebellen und dem der Rechten, hören wir Sprüche wie: "Merkel muss weg!" - so z. B. vom Chefideologen der alternativen Medien Ken Jebsen -, was symbolhaft die Fundamentalopposition gegen das "System" ausdrückt, eine Gegnerschaft gegen die "globale Elite", den "Deep State" oder die "NWO (New World Order)"10.

Die politischen Positionen dieser Systemgegner sind dystopisch, d. h. sie gehen davon aus, dass das "herrschende System" dem Untergang geweiht ist, sei es durch einen Finanzcrash, durch einen Umsturz oder durch spirituelle Erlöser wie das "Quantum Financial System", das im Zusammenhang mit Außerirdischen und dem geistigen Meister St. Germain auf einem extraterrestrischen Satelliten installiert worden sein soll, um das korrupte Zentralbanksystem abzuschalten.11

Diese pseudo-politischen Positionen vertreten die Hypothese eines politisch totalitären Systems, das bekämpft werden muss. Ihre Position ist jedoch selbst totalitär. Es wird eine Dualität konstruiert, in der eine kleine Minderheit der Erwachten einer bösartigen, korrupten, mitunter auch satanischen Elite gegenübersteht.

Die Kräfte des Lichts kämpfen gegen die Kräfte der Finsternis. Es ist dies die alte mythische Konstruktion von Gut versus Böse, ein Schwarz-Weiß-Weltbild, in dem man sich auf der Seite der Guten und als Opfer dieser bösen Mächte wähnt. Als Opfer hat man natürlich alle Rechte, den Gegner zu vernichten. Diese Vernichtung wird aktuell weitestgehend ohne physische Gewalt12, aber mit einem Propaganda- und Informationskrieg geführt, in dem wissenschaftliche Fakten instrumentalisiert werden. Im Zeitalter der Fake News verlieren Tatsachenwahrheiten ihren Sinn. Sie dienen nur noch der eigenen ideologischen Position. Meinungen werden als Fakten stilisiert13. Denken wird durch den Glauben abgelöst.

Die ablehnende Haltung der spirituellen Szene gegen das Denken führt nicht zur Transrationalität, sondern zu einem prärationalen, mythischen Bewusstseinszustand (dazu später mehr), in dem leider auch die Betonung des Fühlens eine reaktionäre Wirkung entfaltet. So wichtig das Fühlen ist und so eindeutig die Abspaltung des Gefühls im Rationalismus zu verurteilen ist, so gefährlich ist eine rein gefühlsmäßige Beurteilung politischer Zusammenhänge. Hinter diesem fühlenden Zugang zu politischen und wissenschaftlichen Fakten stehen trotzdem kognitive Positionen wie z. B. die, nicht zu werten, für alles offen zu sein, jeden zu akzeptieren und sich nicht von vorgegebenen Erklärungen bevormunden zu lassen.

Tatsächlich ist gerade die politische Sphäre die Sphäre der Werturteile und der Positionen. Sie widerspricht substanziell wertfreien oder anti-rationalen Ansätzen. In einer echten wertfreien Herangehensweise wäre indes verstehbar, dass es sowohl die wertfreie Sicht als auch die Wertung gibt und beides notwendig ist. In der Politik geht es um die Verhandlung widerstreitender Interessen, um Parteilichkeit und die Regelung materiell und zeitlich bedingter partikularer Positionen. Es geht hier um Wertung, um Urteile und um eine bewusste intellektuelle und rationale Auseinandersetzung. Die überbordende Emotionalität der Debatte um Verschwörungsmythen zeigt hier den hohen Anteil der Irrationalität

Bild: Ronald Engert

Das Bedürfnis nach Irrationalität ist da. Wir müssen diesem Bedürfnis Rechnung tragen. Das Nicht-Rationale ist ein wesentlicher Bestandteil der Realität. Darauf weisen gerade die spirituellen Bewegungen nachdrücklich hin. Es kommt aber darauf an, die verschiedenen Sphären klar zu unterscheiden und jede in ihrer je eigenen Funktionsweise zu verwenden. "Um sie zu vereinigen, darf man sie nicht vermengen"14, bemerkte der große Kabbalist Eliphas Levi.

In der politischen Diskussion bedarf es einer "theoretischen Armatur"15, so der Philosoph und Kulturwissenschaftler Walter Benjamin, mithin einer politikwissenschaftlichen Betrachtung. Diese ist zunächst grob die Differenzierung zwischen linken, gemäßigten und rechten politischen Positionen. Weitere Feinheiten betreffen konservative vs. progressive, liberale vs. autoritäre Positionen, Fragen der demokratischen oder autokratischen Organisation der Gesellschaft, Fragen des Nationalismus, Anarchismus, Kapitalismus oder Sozialismus und dergleichen mehr.

Werden Menschen aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe, ihres Geschlechtes oder ihrer Ethnie diskriminiert? Gibt es eine internationale Solidarität oder besteht eine Tendenz zum nationalen Protektionismus? Welche Rolle spielt der Begriff "Volk"? Wird er in Form einer mythischen Schicksalsgemeinschaft verwendet, oder bezeichnet er einen klassentheoretischen Standpunkt? Was ist der politische Unterschied zwischen Volk und Arbeiterklasse?