Ressentiment und Souveränismus

Bild: Gerhard Hanloser

Neue Entwicklungen im Demonstrationsgeschehen um den Corona-Lockdown

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Beobachtungen

Unter den Linden steht am Samstag um halb Zehn ein "Friedenspanzer", ein Bulli, der in großen Lettern "Stop Kapital Faschismus" verkündet. Außerdem prangern an ihm die Schriftzüge "Bundeswehr abschaffen" und eine alte Friedenstaube vor einem in deutsch-russischen Farben ausgefüllten Herz. Die Selbsterklärung in Nähe des Führerhäuschens verkündet: "Psst, dieser Fahrer träumt vom 1. Welt Frieden", er fordert "Free Assange" und in der hinteren Scheibe steht in falscher Orthographie: "Jedes Kind, dass heute VERHUNGERT, ist ERMORDET worden!!! Banken aber, werden GERETTET???"

Ein jüngeres Pärchen läuft an dem Wagen vorbei. Der junge Mann ist in Deutschlandfahne gehüllt, sie in eine Stars-and-Stripes-Fahne. Eine Gruppe leicht adipöser mittelalterlicher Männer und Frauen steht unter einem Dreifachensemble von Nationalfahnen. Ganz oben ist die russische, ganz unten die amerikanische, in der Mitte die Reichsfahne. Auf ihren T-Shirts steht "Bereit für den Weltfrieden", eine stilisierte Taube hält eine US- und Russland-Fahne in dem Schnabel. Hinten stehen auf den weißen T-Shirts in dicken Lettern drei Begriffe: "Friedensvertrag - Souveränität - Freiheit".

Die an allen möglichen Stellen der Demonstration erhobene Forderung nach einem "Friedensvertrag" und die Häufung der Reichsfahnen sind das deutlichste Zeichen, dass längst nicht mehr die Anliegen der Lockdown-Skeptiker bei den Aufzügen dieser Regierungskritiker dominierend sind. Präsent sind auf die Lockdown-Maßnahmen bezogene Kommentierungen natürlich immer noch wie jene auf dem Schild einer grauhaarigen Frau in geblümter Hose: "Die gesundheitlichen Folgen der Corona-Massnahmen: - Existenzängste, - Einsamkeit, - Depression, - Wenig frische Luft und Sonne, - Weniger Sport, - Weniger Aktivität - Und damit will man die Gesundheit der Bevölkerung schützen?"

Die rechte Szene der Souveränisten und Rechtsradikalen war in Form der Reichsbürger und ihren Fahnen deutlich stärker vertreten als auf der Großdemonstration am 1. August oder gar den Aufzügen der Hygienedemonstranten vor der Volksbühne. Von diesem Kern ging der "Sturm auf den Reichstag" aus, der von den Medien skandalisiert wurde, womit wiederum das Anliegen und der Verlauf der Hauptdemonstration in ihrer auffallenden Friedfertigkeit und Diversität überlagert wurden. Auch wurde dabei übersehen, dass es den Rechten gelungen war, sich ganz ohne die Episode der Reichstags-Attacke mit aggressivem Agenda-Setting auf der Demonstration gegen die regierungsamtlichen Corona-Maßnahmen als selbstverständlichen Teil des Protestgeschehens zu verankern. Dem kam entgegen, dass Reichbürgergedankengut nicht erst von außen an die Demonstrationen herangetragen werden musste, sondern sich vor dem Hintergrund einer verselbständigten Rede von der "Corona-Diktatur" unter den "Coronarebellen" ganz von selbst entwickelte.

Bild: Gerhard Hanloser

Der Friedensvertrag beherrscht die Köpfe

In Stuttgart hatte der Kopf der Initiative "Querdenken 711", Michael Ballweg, die Teilnehmenden aufgefordert, "Friedensvertrag" zu googeln. Wenn man sich derart informiere, komme man darauf, warum wir einer solch undemokratischen und volksfeindlichen Politik ausgesetzt seien, wie wir es wären. Wer es tat, erreichte mit großer Wahrscheinlichkeit rechtsradikale und souveränistische "Reichsbürger"-Webseiten und "YouTube"-Kanäle.

Aber auch in einer prominent besetzten Gesprächsrunde beim unter Coronamaßnahmen-Gegnern beliebten KenFm-Internetsender wurde dieser nationalistisch-souveränistischen Ideologie Futter gegeben. Im Januar diskutierten unter dem Titel "Sieger schreiben die Geschichte" der Buchautor Wolfgang Effenberger, Prof. Dr. Alexander Sosnowski, der als "Der Silberjunge" bekannte Buchautor Thorsten Schulte und Hermann Ploppa miteinander. In dieser Gesprächsrunde wurden revisionistische Thesen über die Rolle Deutschlands in den beiden Weltkriegen lanciert und im Geiste der Reichsbürger eine fehlende Souveränität Deutschlands beklagt.

Bei dem 1980 auf Befehl Erich Honeckers am ursprünglichen Standort Unter den Linden wiedererrichten Reiterstandbild von Friedrich dem Großen haben sich mehrere Handvoll Rechtsradikale, mehrheitlich junge Männer, versammelt. Compact-Chef Jürgen Elsässer lungert im Anzug am Rand herum. Sie machen Fotosession. Auch ein Statement zum mehrheitlich antikolonial motivierten Denkmalsturm junger Aktivist*innen aus den linken und antirassistischen Szenen. Unterhalb des Denkmals sind eindeutige Plakate drapiert. "Nicht gebaut für Sklaverei", steht auf ihnen, oder: "Das einzige, was das Böse braucht, um zu gedeihen, ist, dass gute Männer und Frauen schweigen. Erhebt euch!" und "DDR 1989 = BRD 2020".

Die Markierungen der Plakate verweisen auf die rechte Gruppe QAnon, die mit der Verschwörungsideologien auf sich aufmerksam gemacht hat, wonach Hollywoodschauspieler, demokratische Politiker und hochrangige Beamte Teil eines internationalen Kinderhändlerrings seien, der Kinder entführe, zur Prostitution zwinge und sexuell ausbeute. Trump persönlich kämpfe gegen diese satanische Pädophilie an. Davon fühlen sich offensichtlich christliche Sexualneurotiker fundamentalistische Gruppierungen, rechte Verschwörungsgläubige, aber auch die Schar der in den Untiefen des WWW die Wahrheit Suchenden angezogen.

Der Kaiser und der Morgenthauplan

Behrens-, Ecke Behrensstraße, nicht unweit vom Denkmal für die ermordeten Juden, stehen zwei martialisch aussehende Männer und halten ein gigantisches Plakat hoch. Es ist in schwarz-weiß-rot gehalten. In der Mitte steht: "Wir rufen den Kaiser." Links oben ist eine US-, rechts eine Russlandfahne, dazwischen steht: "Trump versus Warmongers Capital Crimes on Children! STOP Fake News Media Lügenpresse - 911INSIDE JOB War on Terror.

Über dem Ruf nach dem Kaiser wird bekundet, dass wir, die Menschen, souverän seien und ein Friedensvertrag her müsse. Auf der roten Fläche hebt sich in Gelb folgendes ab: "Germany Supports Donald Trump and the Citizen of the Republic for the USA. Stop Morgenthau Plan!"

Bild: Gerhard Hanloser

Die ressentimenthafte Ablehnung des Morgenthauplans, also der nicht umgesetzten Pläne des Finanzministers unter der Administration Franklin D. Roosevelts, Deutschland nach 1945 wirklich zu entmonopolisieren und auch die industrielle Basis rückzubauen, um einer möglichen Wiederbewaffnung entgegenzuarbeiten, war lange Zeit sowohl in rechten bundesrepublikanischen Kreisen wie in der offiziellen DDR-Historiographie beliebt. Im Westen konnte man jubeln, dass doch der unternehmensfreudige Marshallplan siegte, in der DDR sah man im Morgenthau- wie Marschallplan lediglich zwei unterschiedliche Strategien des US-amerikanischen Finanz- und Monopolkapitals, das deutsche werktätige Volk zu knebeln.

In welchem Teil Deutschlands auch immer die eher älteren Männer, die das Plakat hochhielten, die Schulbank gedrückt haben, das nationalistische Ressentiment gegenüber Morgenthau gab es in beiden Systemen. Es kann darüber hinaus angenommen werden, dass allein der jüdische Name Morgenthau zu der gesamten ideologische Anordnung passt, die das Plakat mit seinen Parolen anleitet - eine Vermengung von antisemitischen und souveränistischen Diskursen gab es sowohl in der BRD als auch in der DDR. Und sie scheinen wieder Fahrt aufzunehmen.

Demonstrative Apolitisiertheit

Neben dieser Ultrapolitisierung der Coronaaufzüge von rechts ist das Demonstrationsgeschehen immer wieder und bis weit in den Sonntag hinein von demonstrativer Apolitisiertheit durchzogen: Herzchen aller Orten, Peace-Zeichen, Trommler und Tangotänzer. Die zwei etwa dreißigjährigen erlebnishungrigen Jugendlichen, die in coolen Sonnenbrillen und selbstgestalteten T-Shirts posieren, sind keine Ausnahme, vorne steht im schicken Orange: Berlin 29.8.2020. Sie könnten Teil eines Junggesellenabschieds in der Großstadt sein. Auf der Rückseite des T-Shirts stehen jedoch nicht die Namen der beiden zu Vermählenden, sondern hier pisst ein stilisiertes Piktogrammmännchen auf sechs Begriffe: Masken + Impfflicht, Korruption + Lobbyismus, Diktatur + Faschismus". Die beiden sehen geschleckt aus, die meisten um die Dreißigjährigen, die sich im Coronarebellen-Milieu tummeln, wirken allerdings wie Hippies oder Reggaefans.

Wie rechts ist der Großteil der Bewegung? Ein Plakat ist vielsagend: Es zeigt ein durchgestrichenes Hakenkreuz und ein durchgestrichenes Logo der Antifaschistischen Aktion, der schwarzen und der roten Fahne, "Peaceful Revolution 2020" steht ansonsten noch drauf. Wer dies gemalt hat, sieht sich als Vertreter der "Mitte", könnte sogar die Totalitarismus- oder Extremismustheorie auf seiner Seite wissen und möchte an die herrschende Mustererzählung von der "friedlichen Revolution" um 1989/90 anknüpfen. Als tendenziell antisozialistisch und antikommunistisch präformiert ist diese Haltung bürgerlich und tendenziell rechts. Wo sie Links-Sein mit Realsozialismus gleichsetzt ist ihr der Zugang zur Gedankenwelt der Linken verschlossen; wo sie die Berliner Regierungslinken von Rot-Rot-Grün als Inbegriff des Linken ansieht, auch aus Oppositionsgeist, ist sie tendenziell anti-links.

Deutlich rechtes Gedankengut signalisiert auch die Häufung der US-Fahnen, die sicher nicht Einverständnis mit der "Black Lives Matters"-Bewegung, sondern mit Trump signalisieren soll. Ein Teilnehmer schwenkte eine Türkeifahne; er und ein Schwarzer in schickem Tweed mit lustiger Musik waren die für mich einzigen, sichtbar nicht-deutschen Teilnehmer der Demo. Man zeigt so stolz und selbstverständlich Schwarz-Rot-Gold, wie sonst nur angesichts des Partynationalismus anlässlich einer WM oder EM. Allerdings waren in der Vergangenheit ganz besonders fleißige Fahnenschwenker oftmals Leute aus der türkischen oder andersweitigen Einwanderungscommunity. Die fehlt hier vollständig.

"Rechts? Na und? Hat doch jeder seine Meinung"

Ein Pärchen, mit dem ich mich länger unterhielt, zeigte sich begeistert von der Zusammensetzung der Demo. "Endlich wieder unter normalen Leuten", sagt sie. Was sie denn unter normal verstehe. "Na, halt so wie wir." Sie kämen aus Frankfurt am Main und wohnten in einer Gegend, die sich stark verändert habe. "Du weißt schon, überall Ausländer und so..."

Von den Reichsfahnen zeigen sie sich nicht sonderlich schockiert. Viel schlimmer sei die Antifa, richtig gewalttätig, oder die Chaoten von der Rigaer Straße. Sie seien von Frankfurt losgefahren, weil sie das Verbot empört habe. Früher, ja, da hätten sie eher grün gewählt und seien auch friedensbewegt gewesen. Aber nun...

Ein etwa 50jähriger Demonstrant kommt vorbei, er trägt das T-Shirt "Politically incorrect and proud of it", oben auf Brusthöhe ist PC in einem Verbotsschild durchgestrichen. Sie finden das gut und lustig, ich fotografiere ihn.

Zum ersten Mal sieht man Plakate einer der aktuell im Bundestag vertretenen Parteien. Es sind die hellblauen der AfD. Nicht viele, aber einige. Die Partei hat es sich erst schwer gemacht mit den Protesten, verhielt sich lange zögerlich. Nach der versuchten Absage und Unterbindung der Demonstration durch den rot-rot-grünen Senat, konnte sich die AfD mal wieder als einzige Oppositionspartei gerieren. Plakate ihres Bundestagsabgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern, Enrico Komning, verkünden: "Keine Hygiene-DDR!" und "Freiheit statt Verbote!"

1989 hatte sich Komning noch zum "Dienst auf Zeit" beim Wachregiment "Feliks Dzierzynski" verpflichtet. Nach einem Jurastudium führte sein politischer Weg ab 2000/2001 über die Schill-Partei, wo er verantwortlich für Rechts- und Sicherheitspolitik war, über eine Mitgliedschaft in den Jahren 2010 bis 2012 bei der FDP, bis er schließlich im Jahre 2014 Mitglied der Alternative für Deutschland wurde. Seine Anhänger bewegen sich wie Fische im Wasser.

Das Frankfurter Pärchen winkt bei meinem Verweis auf die AfD-Plakate ab. Na und, die AfD sei nun mal die einzige Opposition im Bundestag, habe man ja jetzt anlässlich des versuchten Verbots der Demo gesehen. Drei zwanzigjährige Hippiemädchen, die ich zu Beginn des Umzugs ansprach, meinten bereits, "rechts? Na und?" - sei doch egal, wer hier ist, "hat doch jeder seine Meinung".

"Gesundheits-Diktatur"?

Die Mehrheit der Demonstrierenden sind etwa 30- bis 50-Jährige, einige Demonstrierende halten ein Plakat hoch "Wir sind Ärzte und keine Verschwörungstheoretiker". Immer wieder nachvollziehbare Bekundungen und Verlautbarungen. Selbstbewusst schreiben die Autoren des neuesten "Demokratischen Widerstands" auf der ersten Seite: "Zu Corona gibt es bekanntermaßen eine schulmedizinische Auffassung, die von tausenden Medizinern vertreten wird und extrem von der aus wissenschaftlicher Sicht randständigen Meinungen der Regierungspresse und des Robert-Koch-Institutes abweicht."

Damit weisen sie den Vorwurf, sie seien unwissenschaftliche Esoteriker, Anthroposophen und Impfgegner zurück. "Eine" schulmedizinische Auffassung zu Corona gibt es gerade nicht, denke ich als Laie. Allerdings sagt mittlerweile eine Vielzahl von Medizinern, mit dem Virus müsse man leben und umgehen, er lasse sich nicht ausrotten und eine Gesellschaft lasse sich nicht still stellen, bis man einen Impfstoff gefunden und sicher getestet habe. Psychologen und Menschen aus Pflegeeinrichtungen weißen darauf hin, dass der propagierte Schutz der Alten und Schwachen und die Politik der physischen und sozialen Distanz sich nicht vertragen. Doch "Ausrotten", "Stillstellen" im Sinne von generellem Lockdown, gar "Gesundheits-Diktatur" ist so weit von der Wirklichkeit des Corona-Managements entfernt, dass man sich fragt, auf welche Realität die Demonstranten hier eigentlich reflektieren.

Doch dies ist nicht der einzige Widerspruch, den sich die Demoteilnehmenden vom Hals halten wollen. Ihre Demonstration wurde durch deutsche Gerichte erlaubt - in einer "Corona-Diktatur"?

Bild: Gerhard Hanloser

Woher kommt das Geld für diese Riesendemos?

In der letzten Zeitung des "Demokratischen Widerstands" ist auf der vorletzten Seite eine Auflistung, was die Bewegung will: Eine von West- wie Ostdeutschen gemeinsam erarbeitete Verfassung, die es ja tatsächlich im eiligen Annexionsverfahren der DDR 1990 nicht gab. Denn mit Art. 23 GG wurde die Ausdehnung des Grundgesetzes auf das Gebiet der bisherigen DDR beschlossen und der Gang über Art. 146 GG, der eine neue Verfassung vorsah, umschifft. Eine späte, aber durchaus berechtigte Forderung also.

Außerdem fordert der Aufsatz im "Demokratischen Widerstand" direkte Demokratie und imperatives Mandat, die Schweiz erscheint als Vorbild, nicht nur in Hinsicht auf demokratische Mitbestimmung, sondern auch als blockfreies, neutrales Land. Austritt aus der NATO und Umbau der Bundeswehr zur "Volksmiliz, allein zu defensiven Zwecken". Zu guter Letzt soll sogar "großformatige Wirtschaft" in öffentliche Hand übergehen; und: "Profitorientierte kapitalistische Wirtschaft wird nur noch dort geduldet, wo sie erkennbar keinen Schaden anrichten kann und im bescheidenen Rahmen mittelständischen Gewerbes verbleibt." Das ist tatsächlich ein radikaldemokratisches Programm eines kleinbürgerlichen Sozialismus.

Geht das zusammen mit jenen jungen Leuten, die ein Pappschild hochheben, auf dem "Verfassung 1871" steht? Oder mit dem martialisch militaristisch angezogenen ostdeutschen Reichsbürger mit Reichsflagge, der mir erklärt, Deutschland habe in der Geschichte kein anderes Land angegriffen und wir seien nach wie vor besetzt und im Kriegszustand? Auch der Bezug aufs Grundgesetz dürfte den Demonstranten immer unklarer werden. Soll man sich nun auf dieses Nachkriegsdokument, in das sich die Erfahrungen mit dem Faschismus eingeschrieben haben, beziehen, oder ist es lediglich von den "Besatzern" aufoktroyierter volksferner Ballast?

Am Ende meines langen Gesprächs mit dem Frankfurter Pärchen kommt relativ unvermittelt die Frage auf, wer die Demo eigentlich so vorbildlich, sauber und geordnet organisiert hat. Der Frankfurter verweist auf die sauberen Klohäuschen und die große Bühne vor dem Brandenburger Tor. Stimmt, ärgere ich mich innerlich, das sind die richtigen materialistischen Fragen. Woher kommt das Geld für diese Riesendemos zur Beendigung des Lockdowns und zur Durchsetzung der Normalität vor Corona? Ich sage zu den beiden im Spaß: "Von der FDP...?!" Er nimmt es ernst und erklärt, das glaube er nicht, es werde schon jemand sein, der ein Interesse daran habe, ein großer Unternehmer oder so... Manchmal ist Offenheit gegenüber Verschwörungstheorien durchaus mind opening, denke ich mir.

Abschließend: Vergleich und Resümé

Auf dem Heimweg treiben mich die Friedenstauben um, die den einen oder anderen Wagen hier zieren. Als Kind der 1980er aus linkem Elternhaus sind mir diese vertraut und im Kern auch positiv besetzt. Natürlich warfen damals polemische Kritiker wie Wolfgang Pohrt der 1980er-Friedensbewegung deutschen Nationalismus und Souveränismus vor und sahen in der artikulierten Angst vor einem Atom-Krieg einen Irrationalismus am Werk von einer Bevölkerung, die sich vor allem gerne zum Opfer stilisieren würde.

Verglichen mit den Corona-Aufzügen, war die Friedensbewegung jedoch eine Ausgeburt an Rationalismus. Sie machte hauptsächlich gegen die USA und Ronald Reagan mobil, der mit militärischem Interventionismus, Drohgebärden gegenüber der Sowjetunion und Star Wars in einen verschärften zweiten Kalten Krieg einstieg. Die UdSSR wurde als Akteur des Kalten Krieges in der Friedensbewegung vor Kritik eher geschont, dafür sorgten linke Sozialdemokraten und die DKP, nur maoistische Kleinsttruppen machten gegen die "sozialimperialistische SU" mobil. Die Mehrheit der Friedensbewegung erkannte, dass politische Herrschaft einer Gerontokratie und Dominanz der Schwerindustrie des militär-industriellen Komplexes etwas Überlebtes darstellten: "Ausgestorben: zu viel Panzer, zu wenig Gehirn", dieser Aufkleber, der einen Dinosaurier und Langstreckenwaffen zeigte, prangte am Hinterteil unserer Familien-VW-Käfer.

Entgegen der Anklage des Polemikers Pohrt, die Friedensbewegung sei "deutschnationale Erweckungsbewegung", gab es auf den vielen Kundgebungen der 1980er keine Deutschlandfahnen, es war eher die rote Fahne, denn dominierend waren neben den Kirchen und Gewerkschaften die Sozialdemokraten Brandt und Eppler und der bunte Kosmos der bundesrepublikanischen Linken links der Sozialdemokratie. Nationalrevolutionäre blieben absolut marginal, Nazis auch. Sozial setzte sich die Friedensbewegung aus der neuen Mittelschicht mit einem hohen Anteil der Intelligenz zusammen (Wissenschaftler, Lehrer, Künstler). Und obwohl bereits die 1980er Jahre erreicht waren, klang bei aller Spießbürgerlichkeit der Friedens-Protestkultur noch ein wenig der antiautoritäre Geist der 1968er nach.

Neue Protestmilieus

Gerade die Friedensbewegung der 1980er vor Augen wird deutlich, dass hier sozial, ideologisch wie habituell-performativ anders gelagerte Protestmilieus auf der Straße sind: Deutschlandfahnenwedelnd machen neoliberale Unternehmer die Sprechergruppen der Coronarebellen aus, das schwäbische Bürgertum bringt ihre logistische Intelligenz in die Organisation der Aufzüge ein. Als Sprecher fungiert ein selbstbewusstes, aber wenig intellektuelles Bürgertum, eloquent und aggressiv, durchaus juristisch halbgebildet. Sie nutzen exzessiv die neuen Medien wie YouTube.

Einen vergleichbaren Pool an Friedensforschern, kritischen Denkern und Intellektuellen wie die Friedensbewegung kann die Coronaszene nicht aufbringen; auch wenn einige Intellektuelle die alternativen Medien mit alternativen Expertisen und vermeintlich dissidenten Polemiken zu versorgen trachten. Die breite Masse auf der Straße ist ein autoritäres Kleinbürgertum, teilweise von der neoliberalen Wende der Nullerjahre in die Selbständigkeit manövriert. Spielten in der Friedensbewegung die Gewerkschaften, weniger Arbeiterinnen und Arbeiter, eine entscheidende Rolle, so sind die aktuellen Aufzüge gewerkschaftsfrei; nicht nur dass die Gewerkschaften als organisierende Kraft fehlen, auch soziale Anliegen und materielle Interessen werden nicht artikuliert.

Als Versammlung der Freien und Einzelnen, die sich um gesundheitliche Risiken für die Gesellschaft und die schwächsten Teile der Gesellschaft durch die Pandemie nicht interessieren, stellen sie den Traum von Maggie Thatcher dar: "There is no such thing as society".

Im Vergleich zur Angstpolitik der Friedensbewegung, die den Atomtod an die Wand malte und dabei zuweilen auch apokalyptische Züge bekam, verkündet die Coronarebellenbewegung angesichts einer gesundheitlichen Krise: "Keine Angst!", alles halb so wild! Im Gegensatz zum Antiimperialismus der linken Teile der Friedensbewegung, die den damaligen Präsidenten Reagan ins Korn nahm, herrscht unter einigen Teilen der Coronademonstranten eine Pro-Trump-Haltung vor. Umso stärker distanziert sich der durchschnittliche Coronarebell von allem, wofür sich die linken Friedensbewegten der Vergangenheit interessierten: Das andere Amerika, die Kämpfe der Schwarzen, der Arbeiter, der Frauenbewegung, der Friedensaktivisten. "Black lives matter?" Nicht für die Coronarebellen. Wenn sie auf diese Bewegung Bezug nehmen, dann nur negativ: Die hätten ja auch ohne Maske demonstrieren dürfen - vom Senat gedeckt.

Bei dem lupenreinen Demokraten Putin schauen die vorgeblichen Kämpfer für Demokratie und gegen Diktatur auch nicht so genau hin. Im Gegenteil. Der autoritäre Kraftprotz Putin ist für eine Vielzahl dieser neuen außerparlamentarischen Bewegung, die sich damit als autoritäre Rebellion kenntlich macht, ganz offensichtlich ein akzeptabler Politiker.

Das Hofieren eines isolationistischen US-Präsidenten und der russischen Staatsführung in Kombination mit dem Einklagen einer fehlenden "Souveränität" Deutschlands ist auffallender Bestandteil der Corona-Proteste. Ein Aktivist der alten Friedensbewegung und aktuelles VVN-Mitglied gibt zu bedenken, dass die Rechten hier auf eine stärker eigenständige Rolle Deutschlands auf dem internationalen Parkett drängen und die fast zur Staatsdoktrin gewordenen "transatlantische NATO-Bindung" in Frage stellen. Er verweist auf einen Teil des Offizierskorps und wohl auch der Rüstungsindustrie.

Hinter einer solchen Strategie dürften seiner Meinung nach auch die Teile des Kapitals zu stehen, deren strategische Ausrichtung sich nicht aus der Bindung und der Präsenz auf dem US-Markt ergibt. Es könnte sein, gibt er zu bedenken, dass man hier dann mit der scheinbaren Übernahme von Losungen aus der Friedensbewegung Zugang zur Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung suche, die nichts von den Out of Area-Einsätzen hält und wohl auch eine konfrontative Politik gegenüber Russland ablehnt.

Der Schrebergarten drängt sich mit all seinen wahnhaften Privatideologien ins Politische und auf die Straße

Stellen diese Aufmärsche einen neuen Faschismus dar, wie manch Antifaschist befürchtet? Der Faschismus unterschied sich vom alten Konservativismus dadurch, dass er die breite Masse für die Straße mobilisierte, um gegen Liberalismus und Arbeiterbewegung vorzugehen. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Es ist eher so, dass der Schrebergarten, der sich bislang aufs Familiäre beschränkte, mit all seinen wahnhaften Privatideologien, schlagartig ins Politische und auf die Straße drängt. Wenn die Schrebergartenidylle angegriffen wird, so weiß man, kann es auch schnell aggressiv werden.

Der Faschismus brachte eine halbwegs konsistente Weltanschauung hervor: imperiale Gewinnung eines Lebensraums, Antisemitismus, völkischer Rassismus. Alle versponnenen Ideen in der Krisenzeit der Weimarer Republik mussten sich entweder diesem Projekt unterwerfen, auch die ganzen protofaschistischen Inflationsheiligen, völkischen Veganer und Esoteriker, oder sie wurden verfolgt. In der Bewegung der Coronamaßnahmenkritiker findet sich ein Ensemble von Patch-Work-Ideologien. Solche gab es auch am Ende der Weimarer Republik. Allerdings werden sich diese nicht zu einem homogenen rechten Projekt verdichten lassen, sie widersprechen sich selbst zu fundamental. Die AfD als potentiell organisierende Kraft ist auch zu schwach. Dennoch muss konstatiert werden, dass diese Patch-Work-Ideologien mit ihrer klar nach rechts ausschlagenden Gravität auch kaum eine Möglichkeit bieten für Linke, positiv an Vorhandenes anzusetzen. Denn Zerstörung der Vernunft und Irrationalismus beherrschen das Feld.

Der Protest mag rund um die Volksbühne diffus gestartet haben. Einige der Initiatoren rund um die Zeitung "Demokratischer Widerstand" sind sogar eher als links zu bezeichnen. Freiheitsrechte standen seit 1848 immer im Fokus der linken Bewegung und der sich formenden Arbeiterbewegung. Doch die breite und Milieu übergreifende Protestszene rund um die Coronarebellen ist mittlerweile klar rechts bis rechtsoffen. Woran mag das liegen? Etwa an der mangelhaften Thematisierung der sozialen Frage in der Bewegung selbst?

In der Protestkultur der BRD war oftmals, fast könnte man sagen, systematisch die soziale Frage als materielle Interessensfrage ausgeklammert. Dies hatte mit der teils gelungenen Entproletarisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu tun, dem Erbe des "volksgemeinschaftlich" sich gebenden Faschismus und dem Auslöschen kämpferischer Arbeiterbewegungen im Faschismus und unter dem Adenauerschen Antikommunismus. Auch im Herrschaftsbereich der DDR wurde die Arbeiterklasse an die Kandare genommen, wurden unabhängige Sozialisten blutig verfolgt. Rebellion und Revolte war jugendlich und blieb meist von den breiten Arbeiterschichten getrennt.

Als eine Mischung von moralisch-idealistischer Bewegung (Internationalismus, Anti-Vietnam-Krieg) und einem hedonistischen Aufbegehren gegen die Enge des fordistischen Nachkriegsregimes muss der Aufbruch 1968 betrachtet werden. Alle fortgesetzten Bewegungen, auch die Neuen Sozialen Bewegungen, waren von dieser Mischung aus Idealismus und Hedonismus geprägt. In der Hochphase der Hausbesetzerbewegung ging es zwar auch um Wohnungsnot und Zerstörung von Wohnraum, also soziale Fragen, doch Erlangung von "Freiraum" und das Begehren, anders zu leben, standen im Mittelpunkt der Besetzungsbewegung. Dass der Coronaprotest also abstrakte Freiheitsrechte statt der sozialen Frage thematisiert, ist noch keine hinreichende Begründung, warum er nach Rechts dermaßen anschlussfähig ist.

Wo die Linke nicht mehr das gute Leben verteidigt und sich in der reinen Anklage, der andere sei Nazi, ergeht, verrinnt ihre Attraktivität

1968 ging es sehr stark um das Erlangen der Souveränität über die begehrenden Körper, insofern ist auch der Feminismus ("Mein Bauch gehört mir!") eine Verlängerung des antiautoritären Aufbruchs und keine konservative Gegenbewegung zum Sexismus innerhalb der männerdominierten Revolte. Souveränität über den eigenen Körper reklamiert nun die Szene der "Coronarebellen". Die Anwesenheit lebenshungriger junger Hippies auf den Coronademos sollte nicht erstaunen. Diese trotzige Souveränität war auf jeder der Demos zu spüren: Mut, Furchtlosigkeit, Begegnungsfreude, Ablehnung staatlicher Körperreglementierungen ist hier zu Hause. Nicht bei den linken und linksradikalen Szenen, die recht pedantisch 1,50 Abstandsgebot einhalten und sich der Maskenpflicht freiwillig unterwerfen.

In vielen linken WGs der 1980er und 1990er Jahre hingen Postkarten oder Poster mit dem an Nietzsche erinnernden Spruch: "Lebe wild und gefährlich, Arthur!" Arthur Schnitzler soll dies gegenüber Arthur Rimbaud gesagt haben, tatsächlich hat der Hamburger Künstler und Schriftsetzer Artur Dieckhoff Anfang der 1980er Jahre dieses Plakat geprägt, das er wild an Hamburger Hauswände plakatierte. Eine solche Haltung zum Leben ist in der Linken vollständig marginalisiert, höchstens in linksnietzscheanischen und lebensphilosophischen Anschlüssen bei insurrektionistischen Anarchisten oder einem Philosophen wie Giorgio Agamben präsent. Das lustvolle wilde und gefährliche Leben war bereits lange vor der Pandemie bei der Linken nur noch im eigenen jugendlichen Milieu anzutreffen, nicht aber für andere erfahrbar.

Angesichts der Pandemie sollte selbst die physische Begegnung unter Genossinnen und Genossen ausgesetzt sein. Große Teile der Linken verteidigten die Corona-Maßnahmen noch stärker als die Staatsapparate sie veranschlagten. So gewann die rechte Erzählung von der staatstreuen Linken einen neuen Plausibilitätsschub und erfasst einen Zipfel der Wahrheit. Ob diese Politik des linken Lockdowns angemessen war und ist, vernunftgeleitet Notwendigkeiten gehorchte oder Staatsfixiertheit und Empfänglichkeit für Angstpolitik folgte, sollte und müsste diskutiert werden. Hier ist weniger sicher, als manche vorgeben.

Eine linke feministische Theoretikerin aus Berlin stellte die Erwägung an, dass die Erfahrung von Müttern in der Coronakrise der Antrieb einer neuen, breiteren Frauenbewegung werden könnte. Mütter artikulierten sich mit ihren normalen Sorgen wie Überforderung durch Homeschooling und Homework in Lockdownzeiten durchaus, allerdings eher bei Querdenken als in einer nicht-existenten Linken. Elemente der neuesten linken und radikalen Theoriemoden, in denen Natur und Geschlechtlichkeit geleugnet und eine Queer-Identity als wünschenswerter, neuester Lebensentwurf gepriesen wird, werden diese "neue, breitere Frauenbewegung", die noch nicht absehbar ist, kaum prägen. Weibliche Sorgearbeit wird wohl eher von Rechten mit ihrer Verteidigung von Familie und "unseren Kindern" gewertschätzt als von Linken, die zwar von "Carework" reden, habituell aber mit meist "hetera-normativen" Müttern (wie Cis-orientierten Vätern) und ihren Alltagssorgen wenig zu tun haben.

Die Linke müsste an einem humanistischen Gegenprojekt bauen, das den Kult des Starken abwehrt, der dem Nietzscheanismus immer eingeschrieben war. Doch wo die Linke nicht mehr das gute Leben verteidigt und sich in der reinen Anklage, der andere sei Nazi, ergeht, verrinnt ihre Attraktivität. Souveränität (als einzelner gegenüber dem Staat) und Solidarität (von unten) müssen im Kern eines linken Projekts stehen. Letztere ist nicht umsonst in Programmatik wie Liedgut ein zentraler Bestandteil der historischen Linken. Ein erster weiterführender Baustein zur Neuformierung einer solchen Linken war ein Transparent des Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall Berlin auf der Gegendemo zu der Coronafeier am 29.8. Darauf stand: "Freiheit ohne Solidarität und Schutz der Schwachen ist ein rechtes Programm."

Bild: Gerhard Hanloser