Berliner Amri-Untersuchungsausschuss gibt auf

Sattelzug, mit dem der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt verübt wurde. Bild: Emilio Esbardo / CC BY-SA 4.0

Schon im September sollen die öffentlichen Zeugenbefragungen zum Anschlag vom Breitscheidplatz beendet werden

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Der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD), jüngst einem größeren Publikum bekannt geworden, weil er Kritiker der Corona-Politik am Demonstrieren hindern wollte, war kurz vor dem bewegten Wochenende als Zeuge vor den Ausschuss des Abgeordnetenhauses zur Untersuchung des Anschlags auf dem Breitscheidplatz geladen. Nach ihm kam noch der Justizsenator Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen). In Kürze wollen die Abgeordneten die öffentlichen Sitzungen beenden.

Der Ausschuss hat kapituliert. Ein Teil der Mitglieder glaubt nicht mehr daran, die Hintergründe des Anschlags aufklären zu können, ein anderer Teil will es nicht mehr, möglicherweise aus Angst vor der Wahrheit. Dazu zählen die in den letzten Monaten aufgekommenen Zweifel, dass es Anis Amri war, der den LKW in den Weihnachtsmarkt gesteuert hat.

Nötig wäre die Beendigung des Ausschusses zum jetzigen Zeitpunkt nicht, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus finden erst im Herbst 2021 statt. Die letzten datieren vom September 2016. Anfang Dezember 2016 bildete sich die aktuelle rot-rot-grüne Koalition, die die rot-schwarze Regierung ablöste. In der war Geisel schon Senator für Stadtentwicklung und Umwelt. Danach wurde er Innensenator und damit zuständig für die Polizei und den Verfassungsschutz.

Mitte Mai 2017, fünf Monate nach dem LKW-Anschlag vom 19. Dezember 2016 mit zwölf Toten, machte der Innensenator eine Ungeheuerlichkeit öffentlich: Im Landeskriminalamt (LKA) seien nach dem Anschlag Akten manipuliert worden, die die Polizei über Anis Amri, den angeblichen Attentäter, führte. Amri war als islamistischer Gefährder sowie als banden- und gewerbsmäßiger Drogendealer fest im Blick des Staatsschutzes. Hinzu kam seine Beteiligung an einem gewalttätigen Angriff im Drogendealermilieu.

Entdeckt hatte die Manipulationen der vom Senat eingesetzte Sonderermittler in Sachen Anschlag Breitscheidplatz, Bruno Jost, Bundesanwalt im Ruhestand. LKA-Mitarbeiter hatten die Erkenntnisse über Amri rückwirkend falsch dargestellt, abgeschwächt und unter einem zurückliegenden Datum in die Akte geschmuggelt. Beispielsweise wurde die Erkenntnis über seine "banden- und gewerbsmäßigen" Drogengeschäfte umgewandelt in "Kleinsthandel mit Drogen". Innensenator Geisel griff zu einem ungewöhnlichen Schritt: Er stellte Strafanzeige gegen die zwei verantwortlichen LKA-Beamten, den Sachbearbeiter Tobias L. und seinen Vorgesetzten Lars O.

Straffreiheit für Aktenmanipulation

Das wurde in der Folge wiederholt kritisiert, weil die beiden Staatsschutzbeamten dadurch ein Auskunftsverweigerungsrecht bekommen hätten und beispielsweise dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht zur Verfügung standen.

Geisel verteidigte jetzt Ende August 2020 gegenüber den Mitgliedern des Ausschusses seine Entscheidung. Man habe davon ausgehen müssen, dass die Manipulation der Akten bewusst geschehen sei, um zu verstecken, dass rechtliche Möglichkeiten bestanden haben, Amri aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn er diese Verdunkelung nicht öffentlich gemacht hätte, hätte der Vertrauensverlust in die Sicherheitsbehörden enorm sein können. Gerade bei der Schwere des Terroranschlags. Deshalb habe das "extern" untersucht werden müssen, so Geisel, sprich: durch die Staatsanwaltschaft.

Die Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren gegen die Beamten L. und O. ein. Das wurde ein Jahr später, im April 2018, zwar folgenlos eingestellt, zugleich bestätigte die Strafverfolgungsbehörde aber den Vorwurf, dass es sich um Aktenmanipulationen gehandelt habe. In einem wahrlich akrobatischen Winkelzug blieben die Beschuldigten straffrei, weil die Staatsanwaltschaft niemanden erkennen wollte, der einen Nutzen von dieser Manipulation gehabt habe. Auf die Idee, dass der Staatsschutz selber dadurch entlastet wurde, wollten die Staatsanwälte nicht kommen. Vielleicht auch deshalb nicht, weil mit der Einstellung des Verfahrens sich auch die Generalstaatsanwaltschaft selbst schützte. Der Behördenvize, Oberstaatsanwalt Dirk Feuerberg, führte persönlich die Akte von Anis Amri und verhinderte im August 2016 maßgeblich, dass der Tunesier in Haft genommen wurde.

Bis zur Enttarnung der beiden LKA-Männer saß der Hauptsachbearbeiter der Akte Amri, Tobias L., bei den Sicherheitsberatungen zu allen Fragen des Anschlages mit am Tisch des Innensenators. Er wusste also, was die politische Führung wusste oder wissen wollte.

Weil polizeiintern gegen die beiden Kriminalkommissare zusätzlich Disziplinarverfahren eingeleitet wurden, die immer noch offen sind, verweigerten beide im April 2019 vor dem Untersuchungsausschuss die Aussage. Das Parlament stellte daraufhin im Dezember 2019 beim Landgericht den Antrag auf Aussageerzwingung und Verhängung eines Ordnungsgeldes. Die Entscheidung steht bis heute aus. Ob jene beiden Polizeibeamten, die am besten über Anis Amri Bescheid wussten, jemals noch von den Abgeordneten befragt werden können, ist ungewiss.

Nach Innensenator Geisel sei Amri kein V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes gewesen

Innensenator Geisel erklärte von sich aus weiter, ohne danach gefragt worden zu sein, Anis Amri sei "zu keinem Zeitpunkt V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes" gewesen. Es habe auch nicht die Absicht bestanden, ihn anzuwerben. Um sicher zu sein, erklärte Geisel dann eigenartigerweise, habe er sich das vom Verfassungsschutz schriftlich geben lassen.

Gleichzeitig bemerkte er, dass der Verfassungsschutz noch mehr "tun könnte und sollte", um die Demokratie zu schützen. Konkret wünscht er sich, dass "verstärkt Quellen angeworben" würden, um Informationen zu erhalten. Das sei allerdings nicht so einfach. Auch mit Blick auf den NSU-Skandal sagte der SPD-Politiker dann, seiner Meinung nach sollte der Quellenschutz "nachrangig" behandelt werden.

Seine Formulierung, Amri sei kein V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen, lässt Spielraum. Zum Beispiel schließt sie nicht aus, dass Amri eine V-Person des polizeilichen Staatsschutzes, beispielsweise des BKA, hätte sein können. Oder ein V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Oder eventuell Informant eines ausländischen Nachrichtendienstes.

Vor kurzem wurde öffentlich gemeldet, der Verfassungsschutz von Mecklenburg-Vorpommern soll über einen Informanten erfahren haben, dass Amri die Unterstützung einer Großfamilie in Berlin mit arabischen Wurzeln erhalten habe. Der Sachverhalt sei bisher nicht bestätigt, erklärte Geisel, die Polizei untersuche das noch.

Die genannte gewalttätige Auseinandersetzung im Drogenmilieu ereignete sich im Juli 2016 in einer Neuköllner Bar, die von einem Mitglied des A.-Ch.-Clans geführt wurde. Und: Am Nachmittag vor dem Anschlag war Amri mit einem Bekannten unterwegs, dessen Mutter eine geborene A.-Ch. ist.

Terrorismus und die Hintergründe

Geisels Vorgänger und ex-Senatskollege Frank Henkel hatte im Dezember 2018 als Zeuge vor dem Ausschuss zu erkennen gegeben, dass nach dem Anschlag verschiedene in der Diskussion stehende Anti-Terror-Maßnahmen umgesetzt wurden. Henkel wählte dabei die Formulierung, es sei bitter, dass es einen derart schrecklichen Anlass brauche, um zu einer Lösung zu kommen. Nun drückte Geisel einen ähnlichen Zusammenhang aus: Der Anschlag habe wie ein Katalysator gewirkt, sagte er, um vorbereitete Änderungen in der Gefahren- und Terrorabwehr umzusetzen. Zum Beispiel: eine neue Gefährderbewertung; Telefonüberwachung schon als Gefahrenabwehr und nicht erst als Strafverfolgung; die Rolle des BKA als federführende Sicherheitsbehörde; eine verbindlichere Rolle des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums (GTAZ).

In Berlin bekam der Verfassungsschutz mehr Rechte, die Polizei 12:000 neue Pistolen und jeder Beamte eine eigene Schussweste. Beim LKA wurde ein spezielles Islamismus-Referat geschaffen. Die Stadt baut ein eigenes Anti-Terror-Zentrum auf, in dem Ermittler und Spezialeinsatzkräfte zusammenarbeiten. Für all diese Neuerungen werden auch Ressourcen von anderen Abteilungen abgezogen und umgeschichtet, unter anderem der Abteilung für Wirtschaftskriminalität.

Wird auf Terror lediglich reagiert oder wird er etwa gebraucht? Wenn Terror Konsequenzen hat, wovon ist er dann vielleicht selber eine Konsequenz?

Abschiebung von Ben Ammar bleibt umstritten

Dann machte der Innensenator noch eine überraschende Aussage. Es wäre "vielleicht besser" gewesen, so Geisel, Bilel Ben Ammar, einer von Amris islamistischen Freunden, "nicht abzuschieben". Mit den heutigen Erkenntnissen wäre es besser gewesen, ihn weiter zu befragen, um die Kernsachverhalte aufzuklären. Mit dieser Sicht schert der Amtsträger aus der Reihe seiner Kollegen wie der Ermittler aus, für die Ben Ammars Abschiebung wenige Wochen nach dem Anschlag alternativlos gewesen sei.

Um die Causa Ben Ammar gibt es seit langem Differenzen zwischen Abgeordneten und Vertretern der Strafverfolgungsbehörden, aber auch der politischen Ebene.

Ende Dezember 2016 hatte die Bundesanwaltschaft das Mordverfahren Breitscheidplatz neben Amri auch auf Ben Ammar ausgedehnt. Sie sah einen hinreichenden Tatverdacht, dass er mit dem Anschlag etwas zu tun gehabt haben könnte. Doch dann wurde Ben Ammar, der in Berlin in Untersuchungshaft saß, am 1. Februar 2017 nach Tunesien abgeschoben. Involviert waren unter anderem das Bundeskriminalamt (BKA), die Bundesanwaltschaft und die Berliner Generalstaatsanwaltschaft. Das Manöver hatte die Deckung von ganz oben: von Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium.

Zum Zeitpunkt der Abschiebung war das BKA noch mitten in der Auswertung von Ben Ammars Handy. Als der Tatverdächtige bereits außer Landes war, wurden darauf unter anderem Fotos vom Breitscheidplatz entdeckt, die im Frühjahr 2016 gemacht worden waren und als Ausspähfotos interpretiert werden können.

Nach dem Innensenator kam der Justizsenator als Zeuge in den Untersuchungsausschuss, Dirk Behrendt. Er müsste darüber Auskunft geben können, welche Rolle die Berliner Justiz bei Ben Ammars Abschiebung gespielt hat, wie die Generalstaatsanwaltschaft beteiligt war und ob er selber damit zu tun gehabt hatte. Doch es wurde keine einzige Frage in diese Richtung gestellt.

Einzig die Ausschussmitglieder der Linkspartei hatten festgestellt, dass Ben Ammar am 19. Januar 2017 in der Justizvollzugsanstalt Moabit durch das BKA befragt worden war, diese Vernehmung aber in seinen Haftakten nicht nachvollziehbar sei. Der Justizsenator fand das interessant, musste aber passen. Nachfragen zu seiner Rolle gab es nicht. Vielleicht auch ein Zeichen, dass die Abgeordneten längst begonnen haben, die Aufklärung zu beenden.

Der Ausschuss hatte in der Vergangenheit unter anderem den Behördenvize der Generalstaatsanwaltschaft sowie eine Oberstaatsanwältin als Zeugen gehört. Beide waren mit den Staatsschutzverfahren gegen Amri und gegen Islamisten aus dem Umfeld der Fussilet-Moschee betraut. Bei ihren Befragungen waren etliche Widersprüche offen geblieben. Doch zu allem, was vor seinem Amtsantritt am 8. Dezember 2016 lag, wollte sich Behrendt kategorisch nicht äußern. Ben Ammars Abschiebung freilich fiel in seine Amtszeit.

Beim Mitglied der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Benedikt Lux, lag möglicherweise die Motivation vor, seinen Justizsenator zu schonen. Im November 2018 hatte die Grünen-Fraktion eine öffentliche Veranstaltung zum Anschlag vom Breitscheidplatz organisiert, an der neben Opfervertretern auch Justizsenator Behrendt teilnahm. Als dem die Frage gestellt werden sollte, ob er an der Abschiebung Ben Ammars beteiligt gewesen sei, hatte er die Versammlung bereits verlassen. (Er wurde später wieder herbei telefoniert.) Lux als Moderator meinte, er hätte die Frage eigentlich nicht zugelassen, schließlich sei der Justizsenator ja noch ein potentieller Zeuge für den Untersuchungsausschuss. Jetzt saß der auf dem Zeugenstuhl - und Lux schwieg.

"Geheime Inhalte"

Das Gremium wird nur noch eine öffentliche Sitzung durchführen, Ende September, und dann die Beweisaufnahme beenden. Die nächste Sitzung am 11. September findet hinter verschlossenen Türen und in den Räumen des Innensenats statt. Dabei sollen mehrere Zeugen vernommen werden. Um wen oder um welche Behörden es sich handelt, erfährt man nicht, lediglich, dass es um "geheime Inhalte" gehe.

Notwendig ist dieses vorzeitige Ende nicht, eher im Gegenteil. Die nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus finden erst in einem Jahr statt. Noch immer träfen "täglich" neue Akten ein, wie der Ausschussvorsitzende Stephan Lenz (CDU) erklärte. Dennoch hält er den Fahrplan für "fachlich begründet", man wolle sorgfältig am Abschlussbericht arbeiten. Im Übrigen sei man nicht in dem Zustand, alle offenen Fragen klären zu können, dann müsste man noch vier Jahre tagen.

Benedikt Lux meinte, der Ausschuss sei offen für weitere Zeugenvernehmungen "bis zur Vorstellung des Abschlussberichtes". Für Niklas Schrader (Linkspartei) zählen zu den "vielen offenen Fragen" bei der Aufklärung des Anschlags die nach den Kontaktpersonen und "möglichen Komplizen" von Anis Amri, aber auch die nach dem Wissen von Quellen und V-Personen. Allerdings sei der Ausschuss an Grenzen gestoßen, an "systembedingte Hindernisse", wie dem Quellen- und Methodenschutz der Dienste.

Thomas Moser 8