Covid und die explodierenden Schulden der Entwicklungsländer

Kommende Probleme auf den internationalen Schuldenmärkten

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Das Institute of International Finance, eine globale Vereinigung von Finanzinstituten, betitelte im April 2020 eine Studie "Covid-19 zündet die Lunte an". Die Bank-Organisation, die Sorge vor Schuldenausfällen hat, meinte damit die Lunte an der Schuldenbombe. Denn bereits im April betrugen die Schulden weltweit 322 Prozent vom Welt-Sozialprodukt. Mittlerweile dürften sie auf über 350 Prozent angestiegen sein, was unmöglich real zurückgezahlt werden kann. Zum Vergleich: Bei Ausbruch der Finanzkrise 2007 betrugen die Schulden etwa 282 Prozent vom Welt-BIP, was damals schon untragbar war.

In einer beim IWF im Juni 2020 erschienen Studie heißt es, dass im vergangenen Jahrzehnt der größte, stärkste und breiteste Schuldenanstieg in Entwicklungs- und Schwellenländern der letzten 50 Jahre stattgefunden habe. Seit 2010 sei deren Schuldenstand im Verhältnis zum Sozialprodukt um 60 Prozentpunkte auf 170 Prozent vom BIP 2019 angestiegen.

Ohne China sei dieses Verhältnis um 20 Prozentpunkte auf 108 Prozent angestiegen. Dabei sei der Anteil der von ausländischen Investoren gehaltenen Staatsschulden auf 43 Prozent und der Anteil von in ausländischer Währung aufgenommenen Unternehmensschulden von 19 Prozent 2010 auf 26 Prozent vom BIP 2018 gestiegen. In den besonders armen Ländern habe sich der Schuldenstand von 47 Prozent 2010 auf 65 Prozent 2019 erhöht.

Bei den produzierenden und Dienstleistungsunternehmen der Schwellenländer (emerging market economies, ohne China) lautet derzeit ein Fünftel der Schulden auf ausländische Währung. Wie sollen diese Schulden von den armen Ländern zurückgezahlt werden angesichts einer einbrechenden Weltwirtschaft und eines um mindestens 13 Prozent schrumpfenden Welthandels1, wenn also Devisen über Exporte viel schwieriger erlangt werden können? Dazu kommt: Über 20 Billionen Dollar Schulden und Anleihen werden bis Jahresende 2020 fällig, müssen also entweder zurückgezahlt oder durch neue Schuldenaufnahme verlängert werden, davon 4,3 Billion in Schwellenländern (inklusive China). Hiervon sind 730 Milliarden Dollar Schulden (inklusive China) in Auslandwährung. Zum Vergleich: Das Welt-BIP, die Weltwirtschaftskraft betrug 2019 etwa 86,6 Billionen Dollar.

Das sind beeindruckende Zahlen. Daher schrieb das Wall Street Journal im Juli 2020: "Die Welt läuft immer schneller auf eine Schlacht über die Schulden der Schwellenländer zu, wie sie bisher nur wenige gesehen hat." Der Titel des Artikels lautete bezeichnenderweise: "Covid's nächste Wirtschaftskrise: Die Schulden der Entwicklungsländer".2 Mindestens 12 Schwellenländer haben demnach momentan akute Rückzahlungsprobleme oder sind nahe daran.

Bereits im April 2020 haben die 20 führenden Volkswirtschaften, die G 20, ein Schuldenmoratorium für mehr als 70 (!) Entwicklungsländer beschlossen, das heißt, dass die Schulden nicht mehr bedient werden müssen. Ironischerweise ist Argentinien Mitglied im G 20-Club. Argentinien ist seit Februar 2020 zahlungsunfähig und steht momentan vor dem neunten Staatsbankrott. Bis April 2020 hatten bereits 102 Länder beim IWF wegen Notkrediten angefragt. Einige davon wollten nicht genannt werden aus Sorge davor, sonst von anderer Seite keine Kredite mehr zu bekommen. 102 Länder. Das ist mehr als die Hälfte aller etwa 194 Länder der Welt.

Kurz: Auf den Weltschuldenmärkten, den Bond- bzw. Rentenmärkten, scheint sich eine weitere, von den Schwellenländern ausgehende Schuldenkrise anzubahnen. Selbst relativ wirtschaftsstarke und große Schwellenländer wie die Türkei stehen möglicherweise vor deutlichen Auslandsschulden- und Währungsproblemen. Die Türkei hat derzeit etwa 431 Milliarden Dollar Brutto-, bzw. 256 Milliarden Nettoauslandsschulden.

Die türkische Lira eilt von einem Tiefstand zum nächsten. Falls die Türkei in ernsthafte Schuldenprobleme geraten sollte, könnte dies einige europäische Banken stark belasten. Das gilt nicht nur für die Türkei. Wenn von den Kredit- und Bondmärkten der Schwellenländer Turbulenzen ausgehen, wird das Europa und andere Industrieländer mitbelasten und die derzeitige Weltwirtschaftskrise verstärken.

Das konnten wir beeindruckend an der Finanzkrise 2007-2009 beobachten: Verbriefte Schuldenpakete auf amerikanische Immobilien haben in Europa die Schuldenbombe hochgehen lassen. So übertragen sich die Schulden und Währungsprobleme anderer Länder letztlich häufig auch auf die Kern-Industrieländer, wenn auch nicht mit derselben Wucht.

Der Weg geht meistens über Währungskrisen, wie beispielweise bei der asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er Jahre. Wegen zu hoher und daher nicht rückzahlbarer Auslandsschulden verfallen die Währungen bestimmter Länder, es kommt zu Währungsturbulenzen auf den Weltmärkten und Verwerfungen bei den Handelsströmen, konkret: zurückgehende Exporte und Importe. Das ist genau das, was wir in der momentanen labilen Weltwirtschaftslage am wenigsten brauchen können.

Haupttreiber dieses "stärksten Schuldenanstiegs der letzten 50 Jahre" waren im Wesentlichen die extrem niedrigen Zinsen in den Industrieländern nach der Finanzkrise 2007-2009. Das trieb viel Anlage suchendes Geld in höher verzinsliche Papiere. So schrieb das Wall Street Journal, die Banken von Wall Street hätten die Möglichkeit gesehen, sich neue Märkte zu öffnen mit höheren Renditen.

Ein Nebeneffekt der zunehmenden Auslandskreditvergabe ist, dass man Schuldnernationen dadurch in Abhängigkeiten bringt und man dann leichter politische Auflagen zu Gunsten westlicher Interessen durchsetzen kann. Im Übrigen scheint China bei seiner Kreditvergabepolitik, beispielsweise im Seidenstraßenprojekt, ganz ähnlich vorzugehen, um Länder von sich abhängig zu machen. Erst kürzlich hat China sich mit rund 10 hochverschuldeten Staaten auf eine Stundung der Kreditzinsen geeinigt.

Interessant in diesem Zusammenhang sind die geforderten Auflagen von IWF und Weltbank an Weißrussland, wo Nothilfekredite an harte wirtschaftliche Lockdown-Maßnahmen geknüpft werden sollen, was Weißrussland vehement zurückwies. Diese wirtschaftlichen Lockdown-Maßnahmen würden Weißrussland in eine schwere Wirtschaftskrise stürzen, genauso wie es bei allen anderen Ländern mit einer derartigen Politik der Fall war. Man könnte sich fragen, wie denn dann die Schulden von IWF und Weltbank zurückgezahlt werden sollen? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Auf Seiten der Kreditnehmer machen häufig korrupte Eliten bei dem (bösen) "Spiel" mit. So heißt es im Wall Street Journal beispielsweise zu Angola, das Land habe über die letzten Jahre 8 Milliarden Dollar Kredite über Bonds (Anleihen) aufgenommen, um Wasser- und Elektrizitätsnetze oder Straßen auszubauen. Von den 26 geplanten Projekten wurden lediglich vier begonnen.

Für den weiteren Verlauf der Weltwirtschaftskrise verheißt das alles nichts Gutes.

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Profitwahn - Warum sich eine menschgerechtere Wirtschaft lohnt (2013); Geplanter Verschleiß - Wie die Industrie uns zu immer mehr und immer schnellerem Konsum antreibt - und wie wir uns dagegen wehren können (2014); Gekaufte Forschung - Wissenschaft im Dienst der Konzerne (2015); Werbung nein danke - Warum wir ohne Werbung viel besser leben könnten (2016); BWL Blenden Wuchern Lamentieren - Wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); Gekaufte Wissenschaft - Wie uns manipulierte Hochschulforschung schadet und was wir dagegen tun können (2020). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage menschengerechtewirtschaft.de.