"Es gibt Schlimmeres als das Virus"

"Vorlesungen gelten als altmodisch und anachronistisch." Bild: Changbok Ko/unsplash

Kommentar: An einem neuen Lockdown könnten wir vorbeikommen. Die Folgen der Durchsetzung des digitalen Kapitalismus in den letzten Monaten werden uns aber noch lange beschäftigen

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Die Großdemonstration der Corona-Maßnahmen-Gegner bleibt auch in der Politik nicht ohne Wirkung. So hat Gesundheitsminister Jens Spahn mit seinen jüngsten Äußerungen scheinbar denen Recht gegeben, die bereits im März Zweifel geäußert haben, ob die drastischen Maßnahmen verhältnismäßig sind.

Die FAZ fasst Spahns Erklärungen so zusammen:

Was sich im März und April in Deutschland abspielte, wird es so nicht wieder geben. (…) Pauschale Besuchsverbote, versicherte Spahn, werde es auch im Falle stark vermehrter Corona nicht mehr geben müssen.

FAZ

"Das ist eine mutige Feststellung angesichts der Risiken, die für Pflegeheime mit der Pandemie weiterhin verbunden sind", kommentiert Jasper von Altenbockum. Er stellt auch fest, dass sich der Blick auf die Krankheit geändert hat.

Vieles von dem, was im Frühjahr nach "Bergamo" als geboten und opportun erschien, entpuppt sich heute als unnötig. Dass es so kommen würde, wusste man allerdings schon damals. Der Sinn des "Hammers" war es schließlich, den Alltag erst einmal nahezu stillzulegen, um schrittweise herausfinden zu können, welcher wiederbelebte Teil dieses Alltags die Infektionen steigen lässt.

FAZ

Nicht nur Spahn, sondern auch andere Politiker und Mediziner, die noch vor einigen Wochen vor einem zweiten Corona-Lockdown gewarnt haben, änderten die Tonlage. Dazu gehört der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, der noch im Frühjahr die Masken als nutzlos bezeichnet hatte. Im jüngsten Deutschlandfunk-Interview verweist er auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihn in dieser Frage seine Meinung revidieren ließen. Aber auch, was den gesellschaftlichen Umgang mit den Corona-Virus betrifft, verweist Montgomery auf Lerneffekte:

Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass mit dem Wissen der Zeit, mit den Bildern, die wir aus Bergamo, aus Frankreich, aus New York hatten, die Entscheidungen richtig waren. Sie sind ja auch von den Gerichten im großen Teil da, wo sie hinterfragt wurden, bestätigt worden. Und dennoch stimmt es auch, dass wir sie heute wahrscheinlich so nicht mehr machen würden, weil wir zugelernt haben.

Frank Ulrich Montgomery im Deutschlandfunk

"Wir laufen Gefahr, den Konsens in der Bevölkerung zu verlieren"

Der Ärztefunktionär kann sich perspektivisch auch einen Gaststättenbetrieb wieder vorstellen. Er lässt sich auch nicht von den in regelmäßigen Abständen veröffentlichen Umfragen manipulieren, die suggerieren, dass die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung unterstützt und als alternativlos bezeichnet. Schließlich ist ja bekannt, dass die konkrete Formulierung der Frage hier eine wichtige Rolle spielt.

Wir laufen Gefahr, diesen Konsens in der Bevölkerung zu verlieren, weil die Menschen sind manchmal klüger als einzelne Landespolitiker, weil die sagen sich, das Virus kennt keine Ländergrenzen und unterschiedliche Regelungen in einzelnen Bundesländern oder sogar einzelnen Gesundheitsämtern, das muss doch eigentlich bundeseinheitlich koordiniert und gleich sein. Deswegen laufen wir momentan Gefahr, durch unterschiedliche Regelungen den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren.

Frank Ulrich Montgomery im Deutschlandfunk

Selbst die "Kassandra der Coronadebatte", der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, hält einen zweiten Lockdown für vermeidbar und sprach sich klar gegen erneute Schul- und Kitaschließungen aus.

Es ist anzunehmen, dass es mehrere Gründe für die neue Tonlage gibt. Die aktuellen Beobachtungen der Pandemie zeigen, dass es sich nicht um einen Killervirus handelt und dass der Vergleich mit einer Grippe eben nicht, wie oft unterstellt wird, verharmlosend ist. Wichtig ist dabei zu bedenken, dass die Grippe eine schwere Erkrankung ist, die zu bleibenden Schäden und zum Tod führen kann - wie auch Corona.

Und wichtig ist auch zu betonen, dass sich die Folgen der Krankheit in unterschiedlichen Teilen der Welt unterschiedlich auswirken. Dazu tragen klimatische Faktoren bei. So kann trockene Luft mehr zur Verbreitung des Virus beitragen als feuchte Luft.

Gesundheitssystem und die Folgen von Corona

Aber auch die sozialen Umstände in den unterschiedlichen Ländern sorgen dafür, dass sich die Pandemie unterschiedlich auswirkt. In Ländern mit schlechten Gesundheitssystemen sind die Todeszahlen natürlich höher als in Ländern, in denen es noch eine flächendeckende, für die Allgemeinheit zugängliche Gesundheitsversorgung gibt.

So müsste der möglichst globale Ausbau des Gesundheitssystems eine Konsequenz sein, die fortschrittliche Kräfte aus der Pandemie ziehen. Dabei sollten Ländergrenzen keine Rolle spielen. Es ist ein gesellschaftlicher Skandal, dass in einer Welt, in der durch die moderne Technik jeder Winkel erreichbar ist, Menschen im globalen Süden an Krankheiten sterben müssen, die nach dem medizinischen Standard heilbar sind.

Die Konsequenz kann nur der Aufbau einer transnationalen Gesundheitsversorgung sein, zu dem alle Menschen, unabhängig davon, wo sie leben, Zugang haben müssen. Das gilt natürlich auch für Corona-Impfungen. Es ist ja nicht nur Russland, das hier nationale Alleingänge vollführt, wie die Medizinjournalistin Ulrike Baureithel in der Publikation Freitag gut beschreibt:

Corona hat nicht nur die russische Forschung die Raketentriebwerke angeworfen. Mindestens sechs andere Teams, die im globalen Run auf den Impfstoff die Nase vorn haben - darunter Astra-Zeneca, das zusammen mit der Universität Oxford ein Serum entwickelt, und das deutsche Unternehmen Biontech in Kooperation mit Pfizer - versichern, alsbald einen marktreifen Impfstoff zu präsentieren. Im Unterschied zur russischen Kreation befinden sich deren Produkte bereits in Prüfphase III, die allerdings ebenfalls enorm abgekürzt wird. (…)

"Riskant" ist die inzwischen Speed-Forschung genannte Hochgeschwindigkeitswissenschaft aber auch in anderen Ländern. Ausgelassene oder nicht ausreichend betriebene Tierversuche, verkürzte oder zusammengelegte Versuchsabschnitte - das gilt insbesondere für die klinischen Phasen II und III - oder die Erprobung von Impfstoffen in Ländern, in denen die Kontrolle nicht in jedem Fall gewährleistet ist, sind nur Beispiele dafür.

Ulrike Baureithel, Freitag

Gerade diese nationalen Alleingänge zeigen die Notwendigkeit, ein globales Gesundheitssystem jenseits von Landesgrenzen aufzubauen.