Corona-Maßnahmen: Kritik oder Totalablehnung?

Archivbild von der Demonstration in Berlin am 1. August. Foto: Leonhard Lenz/CC0 1.0

Nachlese zu den Berliner Querdenken-Protesten

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Um sich jenseits der medial aufgeblasenen Reichstagstreppen-Affaire und sonstiger Nebenschauplätze über die Berlin-Demos am 29. August zu informieren, bieten sich Kundgebungsreden als Quelle an.

Ich habe mir die vier meistbeachteten Reden der Querdenken-Bühne als Video angeschaut, und was zunächst auffällt: Nachdem unter anderem Björn Höcke und die NPD Sachsen zur Demo eingeladen hatten, erklärten die Redner diesen Personenkreis zwar nicht für unerwünscht, positionierten sich aber ausdrücklich gegen rechtsextremes, faschistisches, menschenfeindliches Gedankengut.

Bazooka statt Argumente

Zur Eröffnung sprach Querdenken 711-Gründer Michael Ballweg: Ballweg hat seine Verurteilung jeglicher Corona-Maßnahmen nicht näher begründet. Das ist nach seiner Auffassung auch gar nicht nötig, denn für ihn ist offenbar alles, was Grundrechte einschränkt, sowieso verfassungswidrig.

Mit diesem Rechtsverständnis liegt er jedoch daneben: Das Infektionsschutzgesetz erlaubt die Einschränkung von Grundrechten; allerdings nur unter Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Die dringend gebotene Überprüfung einzelner Maßnahmen auf ihre Verhältnismäßigkeit ist Ballwegs Sache jedoch nicht, und auch auf der Querdenken-Homepage finden sich keinerlei Texte dazu. Ballweg hat größeres im Sinn: die Einberufung einer "verfassungsgebenden Versammlung". Im Berliner Querdenken-Camp soll ab sofort eine neue Verfassung erarbeitet werden.

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser Rede ist kaum möglich, weil sie so angelegt ist, dass für Diskussionen kein Raum bleibt. Ballweg interessiert sich nicht für die Argumente seiner Gegner. Er fordert deren "Abdankung".

Eigenverantwortung als Universallösung

Auch Fußball-Weltmeister Thomas Berthold hat kein Verständnis für verbindliche Regeln zur Covid-19-Eindämmung und setzt ausschließlich auf Eigenverantwortung.

Alte und Kranke sollen dann geschützt werden, "wenn sie es möchten". Masken seien zwar nutzlos, aber wer sie trotzdem nützlich findet, soll sie tragen. Ansonsten fordert er, dass alle Corona-Maßnahmen "ab morgen sofort eingestellt werden."

Mit Corona-Lügen zur Totalüberwachung

Da Donald Trump Ballwegs Einladung nicht gefolgt ist, war der Starredner des Tages Robert F. Kennedy. Für Kennedy ist Corona ein großer Schwindel, den Bill Gates und andere lange geplant haben. Angst verbreitende Zahlen werden erfunden, um die Weltbevölkerung noch besser überwachen zu können.

Abgesehen davon, dass Kennedy gar nicht erst auf Corona-Eindämmungsmaßnahmen eingeht: Auch seine Auslassungen laden nicht zur Debatte ein. Kennedy stellt keine Thesen zur Diskussion, er inszeniert sich als Überbringer der reinen Wahrheit.

Corona-Maßnahmen-Kritik als Sprungbrett ins Abseits

Die für mich gehaltvollste Rede kam vom bürgerschaftlichen Mitglied der Grünen-Fraktion der Flensburger Bürgerschaft, David Claudio Siber. Siber beschreibt sich als Corona-Maßnahmen-Kritiker der ersten Stunde und berichtet, wie er mit dem Versuch, seine Argumentation der schleswig-holsteinischen Bürgerschaftsfraktion und auch der Grünen-Bundestagsfraktion nahe zu bringen, komplett gescheitert ist. Sämtliche Kollegen seien an einer anderen Sichtweise, die er mit vielen Studien belegt habe, grundsätzlich nicht interessiert gewesen.

Siber beklagt eine gezielte Angstkampagne, tritt aber nicht für kompletten Maßnahmenstopp ein. Er wünscht sich einen "Mittelweg".

Mit der Behauptung, "alle Daten" verorten die Gefährlichkeit von Covid-19 wie eine saisonale Grippe, erklärt Siber seine persönliche Einschätzung zur wissenschaftlichen Erkenntnis, was zumindest stark manipulativ ist. Auch hält er es für nötig, mit einer harmlos klingenden Frage an die von Kennedy beklagte Verschwörung anzuknüpfen: "Oder steckt etwas anderes dahinter?" - gemeint ist: hinter dem Regierungshandeln.

Die Grüne Ratsfraktion hat nach der Berlin-Rede eine weitere Zusammenarbeit mit Siber ausgeschlossen. Weitere Hintergründe dieser Entscheidung kenne ich nicht, aber angesichts der jüngst von der Bild-Zeitung verbreiteten Jens Spahn-Aussage, "man würde mit dem Wissen heute, das kann ich Ihnen sagen, keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen", klingen solche drastischen Sanktionen gegen einen Politiker, der genau damals vor überzogenen Maßnahmen gewarnt hatte, befremdlich.

Querdenken repräsentiert nicht alle Maßnahmen-Kritiker

Wer sich über die genannten Kundgebungsreden informieren möchte, ist weitgehend auf RT deutsch angewiesen. Die am wenigsten polarisierende Siber-Rede ist in deren YouTube-Kanal jedoch nicht zu finden, obwohl seine Forderung eines Mittelweges durchaus der Meinung einiger Demo-Teilnehmer entspricht - zumindest habe ich das mehreren Vor-Ort-Interviews entnommen.

Eine Totalablehnung aller Corona-Eindämmungsmaßnahmen stand oft weniger im Mittelpunkt als die Klage über fehlende Debatten oder über einen Komplettausfall der Oppositionsparteien. Dass in diesem Zusammenhang immer wieder auf die AfD verwiesen wird, ist nicht zwangsläufig deckungsgleich mit großer Begeisterung für diese Partei.

Was bei mir als Eindruck hängenbleibt: Die Organisationsebene der Querdenken-Proteste wird dominiert von Leuten, die wenig Interesse an einer differenzierten Betrachtung und einem differenzierten Management des Infektionsgeschehens haben. In einer Gedankenwelt, die sich der weitestgehenden Harmlosigkeit von Cov-2 extrem sicher ist und sämtliche Corona-Eindämmungsmaßnahmen als Tarnmanöver für anderweitige Machenschaften identifiziert hat, ist das nur konsequent.

Nicht-fundamentalistische Kritik ist unterbelichtet

In Zeiten der teilweisen Aussetzung von Grundrechten sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, den Regierenden sehr genau auf die Finger zu schauen. Und selbstverständlich ist hier auch die parlamentarische Opposition gefordert.

Menschen, die sich einen deutlich kritischeren Blick auf das Regierungshandeln wünschen, obwohl sie keineswegs sämtliche bisherigen Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen für unsinnig halten, werden ihre Meinung jedoch nur bedingt hinter dem Querdenken-Mikrofon wiederfinden.

Allerdings sind diese nicht-fundamentalistischen Kritiker weit davon entfernt, innerhalb oder außerhalb der Parlamente öffentlichkeitswirksam als maßgebliche Gruppe in Erscheinung zu treten.

Oder aus der Perspektive derer, denen sowieso jeder Widerspruch ein Ärgernis ist: Wenn es die Proteste à la "Querdenken" nicht bereits gäbe, müsste man sie erfinden. Nichts ist effektiver als die Etablierung einer Schmuddelecke, in die man seine Kritiker hineinstellen kann.