Indien: Wirtschaft runter, Corona-Zahlen hoch, dazu Kriegsvorbereitungen

Schon vor Corona war für viele Inder jeder Tag ein ermüdender Überlebenskampf. Foto: Gilbert Kolonko

Das bevölkerungsreichste Land der Erde schlägt derzeit fast alle Negativrekorde. Dazu muss sich Indien laut General Rawat auf einen Zweifrontenkrieg mit China und Pakistan vorbereiten

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Von April bis Ende Juni ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Indiens um 23,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gesunken, wie das Statistikbüro des Landes mitteilte. Der Grund ist einer der härtesten Lockdowns der Welt, den die indische Regierung am 24. März 2020 mit nur vier Stunden Vorbereitungszeit ausgesprochen hatte. Eigentlich müsste der Rückgang des BIP noch viel größer sein, aber die Regierung berücksichtigt den riesigen unorganisierten Arbeitssektor im BIP nicht.

Warum selbst die geschönten Zahlen im Vergleich zu anderen Nationen trotzdem hoch sind, liegt daran, dass Indien auch den Bausektor und den Servicebereich völlig runtergefahren hatte. Vergeblich, wie selbst die offiziellen Corona-Zahlen in Indien zeigen: Mit über 80.000 Infizierten täglich hat Indien am Samstag die 4-Millionen-Marke überschritten.

Neueste Antikörpertests zeichnen ein noch schrecklicheres Bild: In Pune wurden bei 51 Prozent der Untersuchten Covid-19-Antikörper im Blut gefunden. In Delhi bei 29 Prozent - dabei wurden zwischen dem 1. August und dem 17. August 15.000 Hauptstädter getestet. Bei einer Studie aus Delhi, die Anfang Juli veröffentlicht wurde, hatten 23 Prozent der Untersuchten Antiköper gebildet.

Die Studien aus Pune und Delhi bestätigen ein Dutzend weiterer und zeigen noch etwas anderes: Es sind vor allen die Menschen in den Slums und Arbeitergegenden, die sich infiziert haben. Doch bei ihnen hatten viele Krankheiten, die im Westen kaum noch vorkommen, derart zugeschlagen, dass für Covid-19 nicht mehr viel übrig blieb. Wie die bis jetzt weitgehend abgeschottete, obere Mittelklasse auf den Virus reagiert, wird sich noch zeigen.

In Indien wurde auch der Bausektor und der Servicebereich während des Lockdowns heruntergefahren. Foto: Gilbert Kolonko

Schon im Mai warnten die Wirtschaftswissenschaftler Deepa Mani und ihr Kollege Shashwat Alok, dass es falsch (für Indien) sei, nach der Maxime zu verfahren: Erst retten wir den Menschen, dann die Wirtschaft. Dann rechneten die Wissenschaftler vor, dass ein Rückgang des Bruttosozialproduktes um fünf Prozent 47.000 - 62.000 Menschen zusätzlich das Leben kosten könnte. Bei einem Rückgang bis zu 30 Prozent sprachen die Wissenschaftler von bis zu 430.000 zusätzlichen Toten.

Doch Dr. Hemant Shewade and Dr. Giridara Gopal haben ihre Zweifel, dass Covid-19 wirklich "nur" verhältnismäßig wenige Todesopfer in Indien gefordert hat. Sie gehen davon aus, dass fünf Mal mehr Menschen am Virus gestorben sind als offiziell angegeben.

Versteckte Dimensionen

Auch die beiden Doktoren glauben nicht, dass in Indien täglich Tausende unbemerkt sterben, sondern dass die Todeszahlen durch die Verantwortlichen mit Absicht geschönt werden.

Als Indiz dafür, dass die Regierungsangaben oft nicht stimmen, nennen die beiden die offiziellen Zahlen zu den jährlichen Tuberkulose-Toten: Laut indischer Regierung starben im letzten Jahr 80.000 Menschen an Tuberkulose. Doch die WHO schätzt die Zahl auf 450.000, also um den Faktor 5,7 mal höher.

Wo sind also all die Covid-19 Toten hin? Wahrscheinlich "versteckt" in anderen Zahlen: Nur bei 22 Prozent der Inder wird die Todesursache festgestellt - in manchen Bundesstaaten sogar nur bei 10 Prozent.

Ein Blick in das Industriegebiet East Singhbhum im Bundesstaat Jharkhand zeigt, dass dort selbst während des Lockdowns mehr Menschen an Industrie-Abgasen gestorben sind als an Covid-19. In ganz Indien sterben jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung, ohne dass die Modi-Regierung oder ihre Vorgänger eingeschritten sind.

Selbst wenn Dr. Hemant Shewade and Dr. Giridara Gopal Recht haben und Covid-19 bisher 350.000 Menschen in Indien das Leben gekostet hat, fordert der alltägliche Verpestungswahnsinn in Indien mehr Opfer - und das Jahr für Jahr.

Sicher ist eins: Der Lockdown der indischen Regierung hat die Ausbreitung des Virus nicht verhindert. Spätestens ab Oktober mit dem Wintersmog in den indischen Großstädten wird zusammen mit Covid-19 ein neues tödliches Gemisch entstehen. Dazu hat der Lockdown die Wirtschaft endgültig an die Wand gefahren - schon vor Corona war das Wachstum in Indien so gering wie seit 11 Jahren nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit die höchste seit 45 Jahren.

Keine Arbeit in Indien schon vor Corona. Tagelöhner warten mit ihren Werkzeugen in Kolkata auf Beschäftigung, während die Politik Illusionen verkauft. Foto: Gilbert Kolonko

So trat am 1. September die vierte Stufe der Corona-Lockerungen in Kraft: Unter anderen wurden die Beschränkungen für den Reise-Güterverkehr zwischen den einzelnen Bundesstaaten aufgehoben. Ab Montag dürfen auch die regelmäßig überfüllten Stadtbahnen in Delhi und Mumbai wieder ihren Betrieb aufnehmen - sie waren seit dem 22. März außer Betrieb.

Beide Millionen Metropolen standen während des Monsuns natürlich auch dieses Jahr wieder unter Wasser: Planlos zugebaute Städte und fehlende Auslaufzonen für das Regenwasser sowie verstopfte Gullys waren wie immer Hauptgründe.

Dazu finden augenblicklich auch die Prüfungen (JJE Exams) für 9,5 Millionen Studenten statt, wobei oft mehrere 100 Studenten in einem Raum sitzen. Nur den Kricket-Stars wird ein Start ihrer Superliga IPL nicht einmal in leeren Stadien in Indien zugemutet: Ihre Spiele sind nach Dubai verlegt worden.

Zumindest in Sachen Kohle wird die indische Regierung weiter "Kollateralschäden" für eine wachsende Wirtschaft in Kauf nehmen: 40 neue Kohlegruben sind geplant, die erstmals auch von ausländischen Investoren betrieben werden dürfen. Dafür sollen 170.000 Hektar Wald gerodet werden. Bisher importierte Indien jedes Jahr knapp 250 Millionen Tonnen Kohle, auch aus Australien.

Die indische Regierung wird also weiter nicht zu Unrecht darauf hinweisen, dass Indien pro Kopf einen viel geringeren CO2 Ausstoß hat als ein Mensch des Westens. Dort werden weiter viele behaupten, dass die geringere Bevölkerungszahl im Vergleich zu Indien oder China nicht viel am Gesamtausstoß verändere.