Anschlag Breitscheidplatz: Immer neue Ermittlungskomplexe

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Während die Sicherheitsbehörden im Untersuchungsausschuss des Bundestags behaupten, das Attentat sei aufgeklärt, müssen sie tatsächlich vielen neuen Hinweisen nachgehen

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Der Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin am 19. Dezember 2016 gilt offiziell als aufgeklärt - und doch gibt es immer neue Ermittlungen. Der Tunesier Anis Amri gilt offiziell als der Attentäter, der den LKW in den Weihnachtsmarkt fuhr - warum wird dann seine Akte bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin als geheim behandelt? Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt können vieles nicht erklären - halten aber an ihrer engen Tat- und Täterversion fest.

Die Widersprüche bei der Aufklärung des Anschlages mit zwölf Toten, vielen Verletzten und Traumatisierten werden nicht etwa aufgelöst, sondern im Gegenteil von Seiten der Sicherheitsbehörden geradezu betoniert. Kein Austausch mehr von Argumenten und Fakten, sondern purer Machtkampf um die Deutungshoheit des Ereignisses vom Breitscheidplatz. Das war in der jüngsten Sitzung des Untersuchungsausschusses im Bundestag geradezu mit Händen zu greifen.

Als Zeugen vernommen wurde der bei der Bundesanwaltschaft für die Anschlagsermittlungen verantwortliche Bundesanwalt Horst Rüdiger Salzmann; ein Vertreter des BKA, der zur Führung der Ermittlungs-BAO (Besondere Aufbauorganisation) City gehörte, von dem man aber nur die Initialen erfährt: Erster Kriminalhauptkommissar M.G.; sowie ein Vertreter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der wiederum unter dem Pseudonym "Christoph Hammerstein" auftrat. Drei maßgebliche Bundesbehörden.

Die Befragungen im Bundestag waren zumindest öffentlich. Im Gegensatz zu denen des Untersuchungsausschusses im Abgeordnetenhaus von Berlin, die komplett hinter verschlossenen Türen, obendrein in Räumen des Innensenators stattfinden sollten und die sogar als "geheim" eingestuft wurden. Neben drei Mitarbeitern des Berliner Verfassungsschutzes sollte auch der stellvertretende Generalstaatsanwalt von Berlin, der Leitende Oberstaatsanwalt Dirk Feuerberg, ohne Beisein von Presse oder Opfern vernommen werden. Ebenfalls im Gegensatz zum Bundestag ist im Abgeordnetenhaus normales Publikum seit Corona sowieso nicht mehr zugelassen. Feuerberg persönlich führte die Akte Anis Amri sowie die Akten der V-Personen im Bereich Islamismus. Er war in der Vergangenheit bereits als Zeuge sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Bundestag aufgetreten.

Das Festhalten am angeblichen Alleintäter Anis Amri und die hartnäckige Weigerung, nach weiteren Tätern zu suchen, nährt den Verdacht, dass bestimmte Personen gedeckt werden sollen. Anis A. kann als erster gesicherter Mittäter gelten, wer aber seine Komplizen waren und wer derjenige, der den LKW gesteuert hat, ist weiterhin offen.

Bundesanwaltchaft: Praktisch hat Anis Amri alleine gehandelt, theoretisch ist er aber kein Einzeltäter

Bereits wenige Stunden nach dem Anschlag übernahm die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen. Dort ist Bundesanwalt Salzmann, der auch das für radikal-islamistischen Terrorismus zuständige Referat TE 3 leitet, für das Verfahren verantwortlich. Er war vor vier Wochen bereits im Abgeordnetenhaus als Zeuge befragt worden.

Salzmann vertrat die bekannte doppelte Linie seines Hauses, die in etwa so lautet: Praktisch hat Anis Amri alleine gehandelt, theoretisch ist er aber kein Einzeltäter. Man habe keine Mittäter oder Helfer am Tatort feststellen können, so Salzmann. Zugleich müsse man aber offen lassen, ob es Mittäter oder Helfer gegeben habe, ausschließen könne man sie nicht.

Mit dieser Sowohl-als-auch-Formel reagiert die oberste Strafverfolgungsbehörde einerseits auf die fundierten Einwände seitens der Parlamentarier, die ein mehrfaches Personennetz ausfindig gemacht haben, in dem sich Amri bewegte. Zugleich wertet die Bundesanwaltschaft (BAW) aber auch Indizien und Verdachtsmomente ab, die zu möglichen weiteren Tätern führen. Bestes Beispiel: Bilel Ben Ammar. Obwohl es einen Anfangsverdacht gegen ihn gab und er neben Amri als Beschuldigter ins Mordverfahren aufgenommen wurde, wirkte die BAW dann daran mit, Ben Ammar aus den Ermittlungen und der Untersuchungshaft heraus nach Tunesien abzuschieben.

In die Entscheidung war laut Salzmann "mit Sicherheit" Behörden-Vize Thomas Beck eingebunden, wahrscheinlich aber auch Generalbundesanwalt Peter Frank persönlich. Allerdings bekam das Haus eine entsprechende Weisung vom über ihm stehenden Bundesministerium für Justiz, das damals von Heiko Maas (SPD) geführt wurde. Die Causa Ben Ammar war überall Chefsache.

Bundesanwalt Salzmann bestritt, dass die Abschiebung voreilig gewesen sei. Es habe keine Ermittlungsansätze gegen Ben Ammar gegeben, durch seine Abschiebung sei deshalb auch "kein Schaden" entstanden.

Das sieht nicht nur der Bundestagsausschuss anders, sondern selbst der Berliner Innensenator.

Organisierte Kriminalität

Ein Ermittlungsfeld, zu dem die Ermittler bisher schweigen, betrifft die Organisierte Kriminalität (OK), beispielsweise Drogenhandel. Auch in diesem Bereich bewegte sich Amri zusammen mit anderen nominellen Islamisten. Bekannt ist, dass es Berührungspunkte zum A.-Ch.-Clan in Berlin gab.

Im Frühjahr 2020 wurde öffentlich, dass die Bundesanwaltschaft seit Herbst 2019 ein bislang unbekanntes Verfahren führt, das unter dem Namen "Opalgrün" laufen soll. Danach soll ein ehemaliger Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) in Mecklenburg-Vorpommern ausgesagt haben, Anfang 2017 habe ein V-Mann berichtet, dass Amri in Berlin nach dem Anschlag möglicherweise Helfer hatte. Sie sollen Mitglieder einer arabischen Großfamilie sein.

Die Frage ist, ob sie ihm bei der Flucht geholfen haben. Der V-Mann soll in diesem Kontext außerdem von einer Verbindung mit einem Waffenhändler in Norddeutschland gesprochen haben. Dabei handelt es sich möglicherweise um einen Mann, der auch mit der bewaffneten Prepperszene und Leuten der Uniter-Loge in Kontakt steht. Die Aussagen des V-Mannes sollen damals die Breitscheidplatz-Ermittler BKA und BAW nicht erreicht haben.

Als der Abgeordnete Benjamin Strasser (FDP) den Zeugen Salzmann nach dem Stichwort "Opalgrün" fragte, reagierte der nervös. Dazu habe er keine Aussagegenehmigung. Worum es sich dabei handle, wollte Strasser wissen. Er mache dazu keine Aussage, so Salzmann. Strasser: "Wegen?" - Salzmann: "Laufender Ermittlungen." - Strasser: "Waren die damals bekannt?" - Salzmann: "Wenn ich das beantworten würde, würde ich auch beantworten, ob sie heute bekannt sind. Deshalb sage ich dazu nichts."

Auch als die Abgeordnete Martina Renner (Linkspartei) nachfragte, ob es sich bei "Opalgrün" um einen Zusammenhang von OK ("Opal") mit Islamismus ("grün") handle, blieb Salzmann zugeknöpft: Das seien Mutmaßungen.

Auch den BKA-Vertreter und Ersten Kriminalhauptkommissar (EKHK) M.G. wollte der Ausschuss später nach dem "Opalgrün"-Verfahren fragen. Nun intervenierte sofort die Vertreterin der Bundesanwaltschaft und erklärte, dazu dürfe der Zeuge keine Angaben machen. Klar war damit immerhin, dass er Angaben machen kann. Ausschussmitglied Strasser hakte nach: "Keine Angaben: Weil Sie in den Ermittlungen eingesetzt sind?" - BKA-Mann M.G.: "Das darf hier nicht zur Sprache kommen. Ich bin involviert, ja." - Strasser: "Sie ermitteln."

Man staunt: Einem Organ, das einen hoheitlichen Auftrag zur Untersuchung eines Terroranschlages hat, wird ein bestimmter Bereich des Gesamtermittlungskomplexes mit der Begründung vorenthalten: "Laufende Ermittlungen." Hätte das Gültigkeit, dürfte es noch gar keinen Untersuchungsausschuss geben. Schließlich wird an vielen Punkten nach wie vor ermittelt.

Der Bundestagsausschuss hat zu dem Sachverhalt "Mecklenburg-Vorpommern/Opalgrün" bisher nur ein paar Seiten vorliegen, die obendrein an mehreren Stellen geschwärzt sind. Die Abgeordnete Renner formulierte den Eindruck, dass Erkenntnisse vor dem Ausschuss "versteckt" werden, auch durch die Bundesanwaltschaft.

Im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses wurde Ende August Innensenator Andreas Geisel ebenfalls nach "Opalgrün" gefragt. Der antwortete, davon wisse er nichts. War die jüngste Sitzung am 11. September vielleicht auch deshalb "geheim" eingestuft, weil es unter anderem um den Vorgang "Opalgrün" gehen sollte? Oberstaatsanwalt Feuerberg wusste jedenfalls bereits im Sommer 2016 um die Beziehung Amris zum A.-Ch.-Clan, also auch um die Vermischung von gewaltbereiten Dschihadisten mit der Organisierten Kriminalität.

Wo kam die Waffe her?

Eine der vielen Fragen, die die Ermittler nach wie vor nicht beantworten können, ist, wo die Waffe, Marke Erma, herkam, mit der der polnische Speditionsfahrer erschossen wurde und die Amri bei sich hatte, als er starb. Ob solche Waffen im OK-Milieu zu finden seien, interessierte den Bundesanwalt nicht: "Das bringt mir nichts."

Im Klartext: Die Ermittler können auch deshalb bestimmte Fragen nicht beantworten, weil sie nicht in alle Richtungen ermitteln. Sie folgen einer Festlegung. Das Ergebnis sind tendenziöse Ermittlungen, wie sie auch aus dem NSU-Komplex bekannt sind.

Wo man hinschaut Wissenslücken. Wie kam Amri nach dem Anschlag von Berlin ins nordrhein-westfälische Emmerich? Wie kam er von Brüssel nach Lyon? Warum hatte er zwei Zugtickets nach Mailand bei sich? War er in Begleitung einer zweiten Person? Die Antwort des Bundesanwaltes kann wie eine Überschrift gelten: "Da habe ich auch keine Erklärung."

Die Erkenntnislücken resultieren aus der Einzeltätertheorie. Beispielsweise dürfen die Ermittler niemanden finden, der Amri etwa LKW-Fahrunterricht gegeben hätte. Und sie können niemanden finden, wenn der gar nicht der Fahrer war. Wollte man die Lücken ernsthaft schließen, müsste man von einem potentiellen Kreis von Tätern, Helfern und Unterstützern ausgehen.

War Anis Amri tatsächlich die Person, die mit dem Lastwagen in die Menschenmenge des Weihnachtsmarktes gerast ist? Der Ausschuss hat in den letzten Monaten vielerlei Zweifel dafür gefunden. Doch der Vertreter der Bundesanwaltschaft sagt dazu: "Zu beweisen, dass Amri der Täter im LKW war, tue ich mich schwer, er ist tot."

BKA-Mann M.G. vertrat gar folgende Formel: Zusätzliche Beweise, dass Anis Amri im LKW war und ihn gefahren habe, seien nicht nötig, weil es bereits ausreichende Beweise dafür gebe. "Ich muss da gar nicht mehr weiterermitteln."

Damit wird die Ermittlungstendenz zur - selbstgestellten - Falle. Sie schließt die Suche nach möglichen Dritten aus. Warum sollen nicht mehrere Täter im LKW gewesen sein? Warum soll eine Spur, die die Anwesenheit einer Person belegt, gleichzeitig beweisen, dass jene Person auch den LKW gesteuert hat? Im Cockpit des LKW wurden Spuren von Unbekannten gesichert, beispielsweise eine Hautschuppe an der Kopfstütze des Fahrersitzes. Insgesamt 14 DNA-Spuren sollen bisher nicht identifiziert sein. Unklar ist, wieviel unidentifizierte Fingerabdrücke es gibt.

Hinzu kommt: Indizien, die bislang die ausschließliche Täterschaft des Tunesiers belegen sollten, verflüchtigen sich Stück für Stück. Keine Fingerabdrücke, keine belastbare DNA. Stattdessen werden Manipulationen sichtbar, mutmaßlich plazierte Asservate: HTC-Handy (steckte außen in der LKW-Karosserie), Geldbörse (lag unter einer Wolldecke), handbeschriebener Zettel (wurde erst nach Wochen vor der Tachoanzeige gefunden).

Um die favorisierte Täterversion aufrecht zu erhalten, wird ein geradezu willkürlicher Umgang mit den Spuren gepflegt. Beispiel DNA: Am Lenkrad des LKW wurde eine Mischspur gesichert. Ein DNA-Vollmuster gehörte dem polnischen Speditionsfahrer, für die andere Teilspur komme, wie es heißt, Amri "in Betracht". Die Spur wird als eines der Indizien für dessen Anwesenheit in dem Fahrzeug gewertet.

Völlig anders ist dagegen der Umgang mit einer fremden DNA-Spur an der Tatpistole. Die gehörte zwar dem Wohnungsgeber von Amri, Kamel A., hier jedoch verneint das BKA jegliche "Relevanz". Begründung: Weil die beiden ja zusammen in einer Wohnung gewohnt hätten, sei eine Spurenübertragung möglich gewesen. Warum sollte umgekehrt keine Spurenübertragung in den LKW möglich gewesen und die Amri-Teil-DNA etwa von Kamel A. dahin verschleppt worden sein?

Alle in der LKW-Fahrerkabine gesicherten Spuren - Fingerabdrücke, DNA, Faser - wurden von der Mordkommission zur Auswertung an die Staatsschutzabteilung des LKA Berlin übermittelt. Der Auswertebericht der Spurenuntersuchung wird den U-Ausschüssen seit Monaten nicht vorgelegt. Geben muss es ihn. Man kann nur mutmaßen, dass er womöglich nicht die gewünschte Täterversion stützt.

Verbindliche Antworten bleiben die verantwortlichen Stellen schuldig. Der BKA-Ermittler M.G. sagte dazu nur: "Die Ermittlungen dauern an." Eine Antwort, die wiederum nicht zu den apodiktischen Tat- und Täter-Festlegungen passt.

Ein Musterbeispiel für die kriminalistischen Verrenkungen des Ersten Kriminalhauptkommissars (EKHK), um zu gewünschten Hypothesen zu kommen, ist folgendes: Etwa eineinhalb Stunden vor dem Anschlag hielten sich Amri und Feysel H. gemeinsam in der Fussilet-Moschee auf. Feysel H. verließ dann vor Amri das Objekt. H. soll vom Attentatsplan gewusst haben, berichtete nach dem Anschlag eine Quelle des LKA Berlin.

Der EKHK M.G. dagegen vertrat die These, Amri habe Feysel H. nicht in die unmittelbar bevorstehende Tat eingeweiht. Der BKA-Mann begründete das ausgerechnet damit, dass Feysel H. die Moschee vor Amri verlassen hatte. Weil H. dadurch ein Exklusivwissen gehabt hätte, das die Tatausführung hätte gefährden können, habe sich Amri ihm eben nicht offenbart, so seine These. Eine Tatversion gestützt auf Spekulationen.

Zusammenhang mit Anschlagsplanungen am muslimischen Ramadan im Jahre 2016

Der Anschlagskomplex Breitscheidplatz wächst. Neben den neuen "Opalgrün"-Ermittlungen sowie den alten Ermittlungen bezüglich des mutmaßlichen IS-Mentors "Moumou1", der den Attentäter in Berlin von Libyen aus mittels Telefon psychisch unterstützt haben soll, gibt es einen dritten Ermittlungsbereich, der für tabu erklärt wird: Hinweise auf mögliche Anschlagsplanungen in Zusammenhang mit dem muslimischen Ramadan im Jahre 2016.

Bestätigt wurde während der Ausschusssitzung, dass es dazu Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gibt und dass die auch im Zusammenhang mit dem Breitscheidplatz-Verfahren stehen. Konkrete Auskünfte wurden den Abgeordneten wie im "Opalgrün"-Fall verweigert: "Keine Aussagegenehmigung." Nur so viel: Das dazugehörende Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet, nachdem der Untersuchungsausschuss bereits seine Arbeit im März 2018 aufgenommen hatte. Verschiedene Abgeordnete haben erst kürzlich davon erfahren. Manche wussten bis zum jüngsten Sitzungstag nicht davon.

Wegen der widersprüchlichen und ungeklärten Spurenlage will der Ausschuss die vorliegenden Befunde durch externe Sachverständige prüfen und bewerten lassen. Dazu hat das Gremium im Juli 2020 drei Personen beauftragt, darunter den früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Clemens Binninger, der dem Parlamentarischen Kontrollgremium vorstand und den zweiten NSU-Untersuchungsausschuss leitete.

Allerdings haben Binninger sowie der Jurist Bernd von Heintschel-Heinegg den Auftrag nach kurzer Bedenkzeit zurückgegeben. Es scheiterte an fehlender organisatorischer Unterstützung. Da sie in Berlin hätten arbeiten müssen, hielten sie es für nötig, eigene Büroräume sowie eine Handvoll Mitarbeiter zur Verfügung gestellt zu bekommen. Das machte die Bundestagsverwaltung nicht möglich. Damit, so Binninger, sei ein "vernünftiges Ergebnis" in fünf bis sechs Wochen nicht zu machen. Einzig der in Berlin sitzende Kriminologe Christian Matzdorf sagte nicht ab.

Jetzt hat der Ausschuss zwei andere Sachverständige gefunden: Den Leiter der Abteilung forensische Genetik am Institut für Rechtsmedizin der Universität Kiel, der sich mit der Frage der DNA-Spuren befassen soll. Sowie einen Spezialisten für Daktyloskopie beim Landeskriminalamt (LKA) Schleswig-Holstein, der sich den Fingerabdruck-Spuren annehmen soll. Der Ausschuss hat allerdings zwei Monate verloren.

Aussage gegen Aussage

Blieb noch der Auftritt des BfV-Vertreters mit dem Decknamen "Christoph Hammerstein" im Untersuchungsausschuss. Der Zeuge wurde im weiter schwelenden Konflikt zwischen dem LKA Nordrhein-Westfalen und dem BKA um den Polizeiinformanten "VP 01" aufs Feld geschickt. Zur Erinnerung: Das LKA wirft dem BKA vor, es habe 2016 die VP 01 aus dem Spiel nehmen und unbrauchbar machen wollen. Die Anweisung sei von ganz oben im BKA und im Bundesinnenministerium gekommen.

In dem Konflikt steht Aussage gegen Aussage mit einem Glaubwürdigkeitsplus zugunsten des LKA. Der BfV-Zeuge "Hammerstein" ist im Islamismus-Referat des Inlandsgeheimdienstes tätig und hatte es damals mit dem Deutschsprachigen Islamkreis (DIK) in Hildesheim um den Agitator und Prediger Abu Walaa zu tun. Der steht zusammen mit vier weiteren Angeklagten in Celle vor Gericht. Einer der wichtigsten Belastungszeugen ist die VP 01. Auch Anis Amri tauchte ein paar Mal beim DIK auf.

Das Bundesinnenministerium hatte "Hammerstein" als Zeugen benannt. Er sollte das BKA entlasten, indem er bestätigte, dass er dessen Einschätzung der VP 01 teilte. Was er auch tat. Gemeinsam mit dem BKA habe er an der Glaubwürdigkeit des Informanten gezweifelt. Das damalige Urteil war allerdings von begrenzter Dauer. Nach einer Besprechung bei der Bundesanwaltschaft ruderte das BKA zurück, die VP 01 konnte weiter eingesetzt werden. Das BfV trug diese Kehrtwende gleichfalls mit. Davon wusste BfV-Vertreter "Hammerstein" allerdings nichts mehr.

Durch die Benennung des BfV-Mannes als Zeugen erfuhr der Ausschuss, sozusagen als unfreiwilliges Nebenprodukt, Näheres von der systematischen Arbeit des BfV im DIK Hildesheim. Auffallend war unter anderem, dass BfV-Vertreter "Hammerstein" die Bedeutung Abu Walaas herunterspielte. Obwohl der im DIK Hildesheim das Sagen hatte, könne man ihn nicht ohne weiteres als "Statthalter des IS" (Islamischer Staat) in Deutschland bezeichnen. Das sei ein Begriff aus der Presse und nicht der Sicherheitsbehörden. Abu Walaa sei dadurch "überhöht" worden.

Man habe keine verlässlichen Informationen über ihn und sein mögliche Rolle im IS oder über Schnittstellen zwischen der DIK-Moschee und dem IS, so der Verfassungsschützer weiter. Und auch was die Finanzierung der DIK-Gruppierung angehe, habe man nie größere Finanzierungswege beispielsweise aus dem Ausland aufklären können. Das sei auch gar nicht notwendig gewesen, weil die DIK-Moschee sich gut durch Spenden finanzieren konnte.

Ist der Deutschsprachige Islamkreis überbewertet? Abu Walaa ein Papiertiger? Das könnte möglicherweise auch den Staatsschutzsenat des OLG Celle interessieren. Und die Frage zum Schluss: Wann kommt auch in Niedersachsen der parlamentarische Untersuchungsausschuss zu dem Komplex?

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