Bundesregierung erklärt, zwei unabhängige Militärlabors hätten den Nowitschok-Nachweis des Bundeswehrlabors bestätigt

Ansonsten hält man mit genaueren Informationen hinterm Berg und schaltet die OPCW nur zur technischen Hilfe, aber nicht zur Klarstellung eines Verdachts gegen Russland ein. Auch sonst gibt es viele Fragwürdigkeiten im "Informationskrieg"

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Das Spiel der deutschen Regierung mit angeblichen Beweisen, die aber nicht offengelegt werden, geht erst einmal weiter und erinnert an das Vorgehen der britischen Regierung im Skripal-Fall. Gestern gab Regierungssprecher Steffen Seibert eine Regierungserklärung bekannt, nach der bereits die OPCW eingeschaltet worden sei und zwei weitere "Speziallabore", die den "Nachweis eines Nervenkampfstoffs aus der Nowitschok-Gruppe" des Bundeswehrlabors "unabhängig" bestätigt hätten.

Möglicherweise will man sich jetzt aus dem Strudel befreien, in den man sich begeben hat, weil stets die russische Regierung zum Offenlegen aller Informationen aufgefordert wurde, was sie weitgehend gemacht hat, aber man selbst die Auskunft über das Rechtshilfeersuchen hinausgeschoben hat. Jetzt heißt es, man komme dem nach, aber gleichzeitig auch, dass die russische Seite keine medizinischen Daten und Analyseergebnisse erhalten soll.

Dazu kam die Mitteilung des deutschen Außenministers Maas (SPD), man habe sich an die OPCW gewandt. Nach Auskunft des russischen OPCW-Botschafters, der behauptet, sich erkundigt zu haben, war bis Sonntag nichts eingegangen. Und Bundeswehrsprecher Christoph Czwielung hatte erklärt: "Wir haben ja in unserem Labor lediglich den Nachweis geführt. Die Ergebnisse dieses Nachweises liegen beim Auswärtigen Amt und wurden von dort aus an die OPCW weitergeleitet. Was sie im Einzelnen weitergeleitet haben, das kann ich Ihnen nicht beantworten." Von einer erneuten Probeentnahme ist hier nicht die Rede.

Dass nun erst offiziell bekannt gegeben wird, dass OPCW-Inspektoren Proben von Nawalny entnommen haben, um sie von Referenzlaboren der OPCW untersuchen zu lassen - das Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr (IPTB) ist ein solches Labor -, erscheint vor allem vor dem Hintergrund merkwürdig, dass zwei weitere "Speziallabore" aus Schweden und Frankreich, deren Namen nicht genannt werden, nach der Entnahme "erneuter Proben" diese noch schnell vor der OPCW-Prüfung analysiert und das Ergebnis des Bundeswehrlabors bestätigt haben.

Man fragt sich, warum die Eile, noch einmal vor der OPCW neue Proben entnehmen und analysieren zu müssen. Die Flasche, auf der Nowitschok-Spuren gefunden worden sein sollen, wird hingegen nicht erwähnt. Auch nicht, wann für die beiden Labore und wann von der OPCW Proben - und welche - entnommen wurden. Von der OPCW gibt es bislang keine offizielle Erklärung dazu.

Die Sprecherin des deutschen Außenministeriums Maria Adebahr hat gestern bestätigt, dass OPCW-Inspektoren erneut Proben von Nawalny entnommen haben, aber nicht wann und welche Proben. Deutschland hat sich an das Technische Sekretariat zur technischen Hilfe nach Artikel VIII 38 e des Chemiewaffenverbots gewandt ("leistet den Vertragsstaaten bei der Durchführung dieses Übereinkommens technische Hilfe und nimmt technische Auswertungen vor, insbesondere der in den Listen genannten und der nicht genannten Chemikalien").

Interessant könnte sein, warum Deutschland um keine Untersuchung nach Artikel IX (Ersuchen um Klarstellung) bat, was Misstrauen bestärken könnte: "Ein Vertragsstaat hat das Recht, den Exekutivrat zu ersuchen, bei der Klarstellung einer Lage zu helfen, die als zweifelhaft betrachtet werden kann oder die zu Bedenken über die Einhaltung dieses Übereinkommens durch einen anderen Vertragsstaat Anlaß gibt. Der Exekutivrat legt in seinem Besitz befindliche diesbezügliche geeignete Informationen vor." Russland ist Vertragsstaat. Auf die auffällige Vermeidung, Russland direkt in eine Überprüfung einzubeziehen, machte John Helmer aufmerksam.

Seltsame Strategie: Russischen Behörden keine Information zu geben, obgleich sie diese haben sollten, wenn sie die Täter wären

Überdies wies Adebahr mit einer interessanten Begründung Vorwürfe zurück, dass Deutschland den russischen Behörden bei Nawalny entnommene Proben vorenthalten würde: "Nawalny war 48 Stunden in russischer Behandlung im Krankenhaus", sagte sie nach AFP. Daher würden in Russland Proben vorliegen. Nach russischer Auskunft und den veröffentlichen Analysen wurde aber kein Giftstoff gefunden. Das kann ein Versuch sein, einen Giftanschlag auf Nawalny abzustreiten.

Aber wenn, wie die Bundesregierung und andere behaupten, dass das Nowitschok, das später als ein "neues" und gefährlicheres Nowitschok bezeichnet wurde, aus russischen Speziallabors kommen müsse und daher auf die Verantwortung des Kreml verweise, dann würde man russischen Behörden ja nur mitteilen, was sie als Verantwortliche eh schon wissen sollten, während an der Beweislage dadurch nichts verändert würde (Der Nebel um den Anschlag auf Nawalny verdichtet sich). Das entspricht der Begründung von Roderich Kiesewetter (CDU), warum man keine Daten weitergeben dürfe: "Die Bundesrepublik darf die Daten nicht offenlegen, weil die russischen Geheimdienste genau darauf warten. Sie können dann ableiten, mit welchen Analysemethoden gearbeitet wurde."

Das Argument spielte dann auch beim Spiegel-Artikel eine Rolle, in dem es mit Verweis auf Quellen hieß, es sei eine neue, "härtere" Nowitschok-Variante verwendet worden, die langsamer wirke (weil Nowitschok ja angeblich sofort wirken soll, ein Umstand, der auch schon im Fall Skripal seltsam ist). Und je neuer und komplexer die Variante ist, desto eher seien die russischen Geheimdienste verantwortlich. John Helmer hat einen britischen Chemiker zitiert, ein Experte für Organophosphate, der solche Begründungen zu Recht absurd findet, allerdings nicht namentlich genannt werden will:

I have known some of the best regarded toxicologists in Europe. Several of them are German. They would be embarrassed at how the authorities are playing this out. It seems that ‘standard’ Novichok would not have been good enough in this poisoning. So the Germans needed a new peg to hang their hat on — a new variant, a new Novichok, which only the Russians could have developed. But what have the Germans done? Brilliantly, they have isolated and identified this new compound. A compound that cannot be on the current OPCW schedule, because it is so new. However, rather than tell the scientific world about the compound and its structure, they are silent. One wouldn’t want Russia to know the chemical structure of a chemical that Russia has made, would you?

Nach den Erklärungen wurden Nawalny in Deutschland mehrere Proben entnommen, auch noch längere Zeit nach der Ankunft in der Charité, so dass man daraus schließen kann, dass das Gift - es wird sich auch um winzige Mengen gehandelt haben - lange im Körper von Nawalny nachweisbar geblieben ist. Und daraus könnte man ableiten, dass damit die von manchen geäußerte Vermutung, Russland habe den Transport von Nawalny nach Deutschland verzögert, damit das Gift nicht mehr nachweisbar ist, entkräftet wurde.

Spiegel und Bellingcat hatten vor kurzem gemeldet, Nawalny sei fast gesundet und könne sich wieder erinnern, weswegen sein Polizeischutz verstärkt worden sei. Das war aber übertrieben, wenn man die Charité-Pressemitteilung von gestern liest: "Der Patient konnte vollständig von der maschinellen Beatmung entwöhnt werden. Er wird zunehmend mobilisiert und kann das Krankenbett bereits zeitweise verlassen."

Russische Testergebnisse

Bekannt wurden über das kremlkritische Online-Magazin Meduza zwei Fotografien von Dokumenten der Klinik in Omsk mit den Testergebnissen mit dem Datum 25. August, also 5 Tage nach dem Kollaps und der Einlieferung. Danach wurde kein Gift gefunden, aber im Blut Propofol, Pentobarbital und Diazepam, im Urin Propofol, Methoxyeugenol, Pentobar, Pentobarbital, Amantadin, Thiopental, Atropin, Prednisolon, Koffein. Nicht gefunden worden seien Phenothiazin-Derivate, trizyklische Antidepressiva und Cholinesterase-Hemmer. Propofol, Atropin und Diazepam hatten die Ärzte wohl auf den Verdacht hin, Nawalny könnte vergiftet sein, sofort eingesetzt, was ihm das Leben gerettet hat, wenn er vergiftet wurde.

Ist das Dokument authentisch, dann würde es beweisen, dass erst einmal eine Vergiftung vermutet wurde, die dann aber von der Analyse der Proben nicht bestätigt werden konnte. Von Proben von einer Flasche ist nicht die Rede, auch nicht von Alkohol oder Psychopharmaka. Angeblich sollen die behandelnden russischen Ärzte auch nur Handschutz und den üblichen medizinischen Mundschutz, aber keine Schutzkleidung getragen haben, was sie sicher gemacht hätten, wenn sie Kenntnis von Nowitschok gehabt hätten.

Verrückte Logik

AFP hat immerhin herausgefunden, dass es sich bei dem schwedischen Labor um die Swedish Defence Research Agency handelt, also auch ein Militärlabor. Die Leiterin Asa Scott sagte AFP: "Wir können dieselben Ergebnisse wie in Deutschland bestätigen, also dass es sich um Nowitschok handelt." Sie bestätigte auch, so AFP weiter, "dass es sich dabei um ein in Russland entwickeltes Nervengas handele. Zur Herkunft des konkret bei Nawalny eingesetzten Gifts könnten zwar keine Angaben gemacht werden, allerdings sei es unwahrscheinlich, dass andere Länder als Russland darüber verfügten."

Die genaue Substanz wird also weiterhin nicht genannt, unklar bleibt auch, über welche Proben von Nowitschok die westlichen Militärlabore verfügen - sie müssten das Profil des angeblich neuen Nowitschok im Besitz haben, um es identifizieren zu können. Dass Nowitschok im Kalten Krieg von der Sowjetunion entwickelt wurde, ist unbestritten, seitdem ist es aber auch im Westen bekannt. Warum man also sagen kann, dass sich über die Herkunft des Gifts keine Angaben machen lassen können, aber es unwahrscheinlich sei, dass andere Länder es (auch) besitzen, ist logisch nicht nachvollziehbar.

Die genaue Identifizierung der Nowitschok-Substanz wäre auch deswegen erforderlich, um zu belegen, dass deren Verwendung ein Verstoß gegen das Chemiewaffenverbot darstellt. Es müsste also auf der OPCW-Liste stehen, die Ende 2019 nach dem Anschlag auf die Skripals um sechs Nowitschok-Familien erweitert wurde, vier davon hatte übrigens Russland vorgeschlagen. Auffällig war bereits im Skripal-Fall, dass die OPCW nur von einer "toxischen Substanz" gesprochen hatte. Man könnte den Verdacht hegen, dass die genaue Substanz vielleicht deswegen nicht genannt wird, um eine Diskussion darüber zu vermeiden, dass sie nicht auf der Liste 1 der verbotenen Chemiewaffen steht.

Russland bemängelt, dass Deutschland keine Belege für den Vergiftungsverdacht übermittelt

Natürlich reagieren russische Staatsmedien auf die Nachricht, dass die OPCW eingeschaltet und Nowitschok von zwei weiteren Laboren bestätigt wurde. Alexander Sabaev, Chef-Toxikologe der Region Omsk, kritisierte, dass immer noch keine Beweise vorgelegt wurden, das sei aber notwendig, um von einer Straftat zu sprechen. Seit vier Wochen warte man nun nach einer Anfrage der russischen Ärzte auf eine Antwort ihrer deutschen Kollegen, die Nawalny betreut haben: "Vielleicht werden sie morgen sagen, dass fünf weitere Labors es bestätigt haben. Wahrsagerei im Kaffeesatz, eine Art Show am Montag." Er behauptet weiterhin, Nawalny sei wegen einer Stoffwechselstörung zusammengebrochen.

Der russische Präsident Wladimir Putin nahm erstmals selbst Stellung zum Fall Nawalny. In einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron beschwerte sich Putin, es gehe nicht, dass in diesem Kontext unbegründete Anklagen gegen Russland gemacht würden. Um die wirklichen Umstände erkennen zu können, sei es notwendig, dass die "deutschen Spezialisten Biomaterial nach Russland schicken müssen". Überdies müsse es eine "offizielle Erklärung zu den Testergebnissen der von Nawalny gesammelten Proben geben". Und die deutschen Ärzte müssten mit den russischen zusammenarbeiten. Tatsächlich sind das die Schwachpunkte der Bundesregierung, die Anlass zu Misstrauen bieten, wenn man sich weiterhin hinter wenig aussagekräftigen Behauptungen zurückzieht.

Auch Maria Sacharowa, Sprecherin den Außenministeriums, machte erneut auf die Weigerung und die Ausflüchte Deutschlands aufmerksam, Informationen zu übermitteln. Standardargument ist stets, dass Russland erst nach Vorlage von Beweisen für eine Vergiftung ein Ermittlungsverfahren einleiten könne. Außenminister Lawrow sagte seinen Besuch in Berlin ab, nachdem der deutsche Außenminister Heiko Maas, der sich besonders gegen Russland positioniert hat, wegen Änderungen in seinem Terminplan an der Feier zum Abschluss des Deutsch-Russischen Jahres der Hochschulkooperation und Wissenschaft 2018/2020 nicht mehr teilnimmt und für Gespräche mit Lawrow nur noch 1,5 Stunden möglich wären.

Das ist eine Düpierung des russischen Kollegen, die vermutlich seinen Grund im Nawalny-Fall hat. Lawrow sagte in einem Interview, die westlichen Ländern würden ihre Arroganz demonstrieren, wenn sie die Untersuchungen und den Professionalismus der russischen Ärzte in Zweifel ziehen. Hätte es den Fall Nawalny nicht gegeben, so hätten sie etwas anderes erfunden, um neue Sanktionen zu legitimieren.

Angeblich hat die russische Generalstaatsanwaltschaft, wie angekündigt, ein weiteres Rechtshilfeersuchen gestellt, auch wenn auf das erste Ersuchen vom 27. August noch keine Antwort gekommen wäre. Gebeten wird um weitere Erklärungen, Informationen und Kopien von Dokumenten über die Behandlung und Untersuchung von Navalny. Auf das erste Ersuchen hat die zuständige Generalstaatsanwaltschaft Berlin erst am 3. September ausweichend geantwortet. Man werde dem Ersuchen zustimmen, aber medizinische Daten könnten nur mit Zustimmung von Nawalny übergeben werden.

Man kann davon ausgehen, dass der Fall Nawalny eine wichtige Rolle bei den Regionalwahlen in Sibirien gespielt hat. Die Wahlbeteiligung war zwar weiterhin sehr niedrig, aber die Kremlpartei Vereintes Russland büßte erhelblich an Stimmen ein und das von Nawalny propagierte Smart Voting brachte vor allem in Tomsk und Nowosibirsk der Opposition Erfolge.

Reuters berichtet, dass nach Aussagen von fünf Sanitätern, die Nawalny betreut hatten, kein Anstieg des Blutzuckers und keine Stoffwechselstörungen gefunden worden seien. Der Blutzucker sei auf dem Flugplatz normal gewesen, beobachtet habe man aber Zeichen einer Vergiftung. Sabaev, der Cheftoxikologe, bestreitet dies, gemessen worden sei ein Blutzuckerspiegel von 13 mmol pro Liter. Zudem hätten die Sanitäter Nawalny kein Atropin injiziert. Reuters spricht von einem "Informationskrieg", was die Sachlage korrekt charakterisiert.