Wie wird sich die Pandemie weiterentwickeln?

Analysen und Gedanken zum neuartigen Coronavirus - Teil 3

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Erfahrungen mit der saisonalen und pandemischen Influenza

Bei den in den gemäßigten Breiten auftretenden Grippewellen ist eine ausgeprägte Saisonalität zu beobachten. Diese wird im Wesentlichen durch folgende Faktoren bestimmt1:

  1. Die Umweltbedingungen: Erkältungsviren und insbesondere Influenzaviren bevorzugen kalte Luft mit einer niedrigen absoluten Luftfeuchtigkeit, wie sie im Winter üblich ist.

  2. Das menschliche Verhalten: im Winter verbringen die Menschen mehr Zeit in geschlossenen Räumen und haben so engeren Kontakt zueinander.

  3. Das menschliche Immunsystem: die vermehrte Vitamin D - Synthese und möglicherweise auch die reduzierte Melatoninsynthese im Frühjahr und Sommer haben günstige Wirkung auf die Immunabwehr.

Daneben ist die Empfänglichkeit der Menschen für die Erkrankung entscheidend: je mehr Menschen sich mit einem Virus infizieren und eine Immunität aufbauen, desto weniger kann sich das Virus in der Bevölkerung weiterverbreiten bis das Reff schließlich unter 1 fällt und die Infektionszahlen gegen 0 laufen. Steigt die Empfänglichkeit wieder, kann eine erneute Ausbreitung stattfinden.2

In welchem Verhältnis diese Faktoren zueinander stehen ist nicht sicher geklärt. Treten allerdings neue Virusvarianten auf, wie dies bei der Influenza alle 8 bis 42 Jahre beobachtet wird3, treffen diese auf eine erhöhte Empfänglichkeit, so dass die drei oben genannten Faktoren in den Hintergrund treten und damit die Saisonalität weniger ausgeprägt ist.

Die meisten Influenzapandemien breiteten sich erst einige Zeit nach der winterlichen Grippewelle aus, da die Menschen unmittelbar nach dem Kontakt mit der saisonalen Influenza eine Teilimmunität gegenüber der neuen Influenzavariante erwarben.4 Mit nachlassender Immunität zeigte sich dann eine erste Infektionswelle im Frühjahr/ Sommer, die allerdings wegen der drei oben genannten Faktoren weniger stark ausfiel.5 Im Folgewinter trat dann mit der erneut nachlassenden Immunität eine zweite Welle auf, die angesichts der nun begünstigenden drei Faktoren größer als die erste ausfiel.6 Einzelne Abweichungen von diesem Verlauf sind möglicherweise auf Mutationen der jeweiligen Viren zurückzuführen.

Erfahrungen mit den endemischen Coronaviren

Die humanen Coronaviren 229E, OC43, NL63 und HKU1 zeigen in gemäßigten Klimazonen analog zur Influenza eine ausgeprägte Saisonalität mit einer Häufung von Dezember bis April7. Es wird vermutet, dass die Viren bei niedriger Luftfeuchtigkeit stabiler sind während gleichzeitig die Abwehrmechanismen der Atemwege durch die trockene Luft herabgesetzt sind.8

Von besonderem Interesse ist die Pandemie 1889-1895 (Russische Grippe), die zunächst dem Influenzavirus H2N2, später H3N8 zugeschrieben wurde.9 Der genaue Verursacher konnte jedoch bis heute nicht sicher geklärt werden. Molekulargenetische Untersuchungen des humanen Coronavirus OC43 haben gezeigt, dass dieses Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit um 1890 herum vom Rind auf den Menschen übergegangen ist.10 Da die damalige Pandemie vor allem bei der älteren Bevölkerung zu schweren Verläufen führte, neben Atemwegssymptomen auch neurologische Symptome hervorrief und damit eine gewisse Ähnlichkeit zu SARS-CoV-1 besaß, könnte die Russische Grippe tatsächlich auf das humane Coronavirus OC43 zurückgehen.11 Der Verlauf dieser Pandemie erstreckte sich über fünf Wellen in fünf Jahren. Dabei erkrankten 45-70% der Bevölkerung, das R0 wurde auf durchschnittlich 2,1 und die CFR auf 0,1-0,28% geschätzt.12 Entgegen dem neuartigen Coronavirus, bei dem nur etwa die Hälfte der Infizierten erkrankt, waren also mutmaßlich nahezu alle Infizierten betroffen, was möglicherweise damit zu erklären wäre, dass bis 1890 Coronaviren dem menschlichen Immunsystem noch fremd waren. Die Altersverteilung und die Symptomatik ähneln sich dagegen stark. So wurden auch bei COVID-19 vor allem ältere Menschen von schweren Verläufen betroffen und es werden häufig neurologische Symptome beobachtet.13

Erkenntnisse über das neuartige Coronavirus und Projektionen in die Zukunft

Die bisherigen Beobachtungen legen nahe, dass das neuartige Coronavirus ähnlich wie Influenzaviren und die endemischen Coronaviren einer starken Saisonalität unterliegt.14 Da es sich um einen neuen Erreger handelt, ist allerdings analog zu früheren Pandemien auch eine Ausbreitung im Sommer möglich. Welchen Einfluss die vorbestehende und verbreitete (Teil)immunität in Form kreuzreagierender T-Zellen15 hat, ist bisher nicht geklärt. Die schnelle Ausbreitung des Erregers im Frühjahr scheint jedoch dagegen zu sprechen, dass diese vorbestehende Immunität die Ausbreitung wesentlich abbremst. Möglicherweise kann diese (Teil)immunität aber den hohen Anteil asymptomatischer und milder Verläufe erklären.

Kissler et al16 schrieben "Modelling the SARS-CoV-2 transmission dynamic based on other human coronaviruses suggests that it can drop from winter peak to summer peak by 20% but can still generate substantial outbreaks (R0>1) if no control measures are in place." Die Beobachtungen der letzten Monate scheinen diese Annahmen zu bestätigen, wobei die derzeit zu beobachtende geringe Virusaktivität wahrscheinlich vorwiegend der Saisonalität und in geringerem Maße den Kontaktbeschränkungen zuzuschreiben ist. Wenn sich die Ausbreitungsbedingungen im Herbst/ Winter wieder verbessern, ist eine deutlich gesteigerte Infektionsdynamik zu erwarten. Es bleibt unklar inwieweit Kontaktbeschränkungen auf Ebene ganzer Länder die Virusausbreitung dann tatsächlich suffizient abbremsen oder gar eindämmen können.

Inwieweit jene Personen, die bereits in Kontakt mit dem Virus gekommen sind, eine länger anhaltende Immunität gegen eine erneute Infektion aufbauen, ist bislang nicht sicher geklärt. Bilden sich wie bei einem Großteil der Infizierten neutralisierende Antikörper im Blut, ist eine länger anhaltende Immunität anzunehmen. Auch wenn die Antikörperspiegel oftmals nach wenigen Wochen wieder abfallen, zeigten sich unabhängig vom Antikörperspiegel spezifische B-Gedächtniszellen, die bei Bedarf aktivierbar sind und somit einen länger anhaltenden Schutz bieten dürften.17 Insbesondere asymptomatisch Infizierte und mild Erkrankte bilden häufiger keine nachweisbaren Antikörper aus. Hier kommt der spezifischen T-Zell-Immunität18 und der mukosalen IgA-Produktion19 eine wichtige Rolle zu. Ob diese Schutzmechanismen auch einen zuverlässigen Schutz vor erneuter Ansteckung und Erkrankung bieten ist bisher nicht belegt. Im Tiermodell konnte zumindest für Influenza, SARS-CoV-1 und MERS eine Schutzwirkung durch CD4+ T-Zellen gezeigt werden.20 Für SARS-CoV-1 konnte gezeigt werden, dass noch 17 Jahre nach der Infektion reaktive T-Gedächtnis-Zellen vorhanden waren, die im Übrigen auch eine robuste Kreuzreaktivität gegenüber SARS-CoV-2 haben.21 Dies lässt vermuten, dass auch bei SARS-CoV-2 eine effektive und langlebige zelluläre Immunität aufgebaut wird. Erfahrungsgemäß kann es aber einige Tage dauern, bis die Viren auf diesem Wege eliminiert werden, so dass bei erneuter Infektion eine Infektiösität von begrenzter Dauer denkbar ist.

Nach der pandemischen Phase wird ein Verhalten ähnlich den endemischen Coronaviren erwartet mit Winterzyklen und ohne wesentliche Aktivität im Sommer.22