Der Brand von Moria

Die Kalkulation mit dem Elend

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Als Akt der Humanität lässt sich die Politik in Deutschland angesichts der Aufnahme von etwas über 1500 Flüchtlingen aus Griechenland feiern. Journalisten versteigen sich sogar, dies als Ergebnis des Drucks der Zivilbevölkerung zu feiern (Constanze von Bullion: Moral verbindet, SZ 15.9.2020).

Der Brand des Flüchtlingslagers auf Lesbos hat das Elend der Flüchtlinge in den Lagern auf den griechischen Inseln mal wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt und es ist gleichzeitig von einer Schande für die europäische Flüchtlingspolitik die Rede. Ganz so, als ob diese Zustände nicht zu dieser Politik dazu gehören würde. Bekannt waren die Zustände schon lange, aber ein Anlass für eine Veränderung der Situation war dies nicht und wurde auch allenfalls von Flüchtlingsvertretern oder Menschenrechtsgruppen angemahnt. Diese fanden jedoch kaum Gehör. Thema waren die Lager allenfalls, wenn wieder einmal ein Politiker wie Robert Habeck oder Armin Laschet sich vor der Kulisse der Lager fotografieren lassen wollten, um ihre humanitäre Weltsicht zu Weihnachten oder seine europapolitische Kompetenz vor Wahlen zu dokumentieren.

Dass die Aufnahme von Flüchtlingen, die bereits als Asylberechtigte anerkannt und sich gar nicht mehr in den Lagern befinden, die Lage in den Lagern nicht verändert, tritt bei den Jubelmeldungen meist in den Hintergrund. Denn die Lager auf den griechischen Inseln sollen bleiben. Insofern entpuppt sich die als Akt christlicher Nächstenliebe deklarierte Entscheidung als reine Heuchelei und offenbar gehen die hochgelobten Werte wunderbar in eins mit den weiterhin katastrophalen Zuständen in den Lagern.

Der Ruf nach einer europäischen Lösung

Ganz ohne Kritik wurde die Entscheidung der Regierung nicht aufgenommen und als Alleingang kritisiert selbst aus Reihen der Regierungskoalition. Gefordert wurde eine europäische Lösung, die auch zuvor der Innenminister Horst Seehofer angemahnt hatte. Eine seltsame Forderung angesichts dessen, dass es seit Jahren eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage gibt, die unter dem Stichwort Dublin II firmiert. Darin hatte Deutschland es geschafft, dass kein Flüchtling rechtskonform deutschen Boden betreten kann. Denn Flüchtlinge haben dort ihren Antrag zu stellen, wo sie zuerst mit ihrem Fuß auf europäischen Boden betreten. Da Deutschland keine EU-Außengrenzen aufweist, wurde so die Verantwortung an die Grenzstaaten delegiert, vorzugsweise Griechenland, Italien und Spanien. Für mit dem Flugzeug einreisende Flüchtlinge hatte man die Flughafenlösung gefunden, bei der die Betroffenen gleich am Flughafen kaserniert wurden.

Auf Dauer waren die Hauptaufnahmeländer nicht bereit, diese Bürde zu tragen und ließen die Flüchtlinge in die Metropolen der EU und damit nach Deutschland weiterreisen. In einem demonstrativen Akt hat Deutschland in der sogenannten Flüchtlingskrise viele Flüchtlinge aufgenommen und sich so zum Betroffenen der Flüchtlingswelle erklärt. Auf diese Weise reklamierte Deutschland seine Mitzuständigkeit für die Kontrolle der Außengrenzen und für die Abwicklung der Asylverfahren.

Dies ist alles andere als ein humanitärer Akt, sondern eine diplomatische Botschaft an die Länder der EU-Außengrenzen mit der Aufforderung, ihre Hoheit über Grenzen und Aufnahme von Asylbewerbern an die EU abzutreten und damit Deutschland eine Mitzuständigkeit einzuräumen. Dagegen verwahrte sich nicht nur ein Regierungschef Orban, sondern auch andere Regierungen waren damit nicht einverstanden, und so gibt es seitdem den Streit um eine europäische Lösung. Der Vorwurf aus deutscher Sicht lautet, die anderen würden eine solche Lösung blockieren.

Eine seltsame Blockade

Bei allem Jammern über das Fehlen einer europäischen Lösung sind die Regierungen der EU in Sachen Flüchtlingspolitik nicht untätig geblieben. Denn in vielen Punkten sind sie sich einig: So sollen Flüchtlinge Europa gar nicht erst erreichen können. Und da sind die Regierungen arbeitsteilig vorgegangen, um die Anrainerstaaten des Mittelmeeres dazu zu verpflichten, Flüchtlinge an der Überfahrt nach Europa zu hindern.

Deutschland hat sich besonders in Verhandlungen mit der Türkei und Ägypten hervorgetan, während Italien libysche Milizen mit Booten ausgestattet und sie in den Status einer Küstenwache erhoben hat, damit diese Bootsflüchtlinge gleich an der Küste abfangen und einsperren. Die KZ-ähnlichen Lager, in die die Flüchtlinge eingesperrt sind, sind bekannt. Aber sie sind kaum einer Meldung wert, und wenn doch, dann um die dortigen Machthaber zu kritisieren, ganz so, als ob diese nicht im Auftrag und der Finanzierung durch die EU tätig wären. So wurde erreicht, dass alle Anrainerstaaten sich verpflichtet haben, entweder Flüchtlinge gar nicht erst in ihr Land zu lassen oder sie an der Weiterreise zu hindern. Daß diese Push-back-Strategie nicht den in verschiedenen Verträgen eingegangenen Verpflichtungen entspricht, müssen selbst der Regierung wohlgesonnene Journalisten feststellen, wenn sie dieser Versagen vorhalten:

Europa verstößt mit diesem Versagen dauerhaft gegen die Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen, gegen die garantierte Menschenwürde im deutschen Grundgesetz.

Jörg Quoos: Es ist eine Verpflichtung, WAZ 16.9.2020

Eine Klage in Karlsruhe oder beim Menschenrechtgerichtshof beabsichtigt der Kommentator allerdings nicht, ist er doch zu sehr Realist des politischen Geschehens, um der Regierung durch die Aufnahme der Flüchtlinge jetzt, Pflichterfüllung zu bescheinigen, auch wenn die Lage in den Lagern sich nicht ändert.

Auch der Krieg in Mali wird mit der Bedeutung des Landes für die Fluchtwege nach Norden begründet und so hat sich die Grenzsicherung Europas bis weit hinein nach Afrika verlagert. So geht eben die Beseitigung der Fluchtursachen, die nicht in dem Elend der Menschen besteht, sondern in der mangelnden Kontrolle der Elendsfiguren durch ihre Herrschaft. Und dort, wo diese versagen, hat man durch die Behinderung der Seenotrettung dafür gesorgt, dass die Chancen für das Überleben bei einer Überfahrt erheblich gesunken sind.

Denjenigen, die es dennoch geschafft haben, Griechenland oder Italien zu erreichen, blüht ein Lagerleben. Nicht nur Politiker, sondern auch viele Journalisten kennen "gute" Gründe, weswegen es sich geradezu verbietet, Flüchtlinge aus dem Elend der Lager auf den griechischen Inseln zu befreien. Dieses könnte nach ihren Worten einen Pull-Effekt haben, sprich weitere Flüchtlinge anziehen und ermuntern, nach Europa zu kommen. Stattdessen setzen sie auf einen Push-Effekt, möglichst viele Elendsfiguren von einer Flucht nach Europa abzuhalten.

Und dies beschränkt sich nicht auf die Lager, die nicht elendig genug ausfallen können, um nicht nur denen, die dort leben müssen, deutlich zu machen, dass sie keine Chance auf ein besseres Leben in Europa haben. Sie gehen mit Recht davon aus, dass die Flüchtlinge per Handy in Verbindung zu ihren Angehörigen stehen und so auch diese davon erfahren und weiter verbreiten, dass sich eine Flucht nicht lohnt.

Deutschlands Hilfsangebote für Griechenland

Deutschlands Politiker werden nicht müde, ihre Bereitschaft zu bekunden, Griechenland und Italien bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu helfen. Angebote wie zusätzliche Polizisten für die Grenzsicherung im Rahmen von Frontex, zusätzliche Beamte bei der Abwicklung der Asylverfahren und Angebote zum Aufbau eines europäischen Aufnahmezentrums. Angebote, die immer auf ein und dasselbe zielen: Griechenland soll die Kontrolle der Grenze Europa überantworten. Aber weil es dazu nicht bereit ist, bleiben die Angebote ungenutzt.

Auch beim Wiederaufbau des Lagers auf Lesbos soll dies als europäisches Aufnahmelager fungieren und sollen dort europäische Beamte über den Asylantrag entscheiden. Denn dass die Flüchtlinge wieder eingesperrt werden und in den Lagern über die Entscheidung ihres Asylantrags warten sollen, darin ist sich Deutschland mit Griechenland einig. Und die, deren Antrag abgelehnt wird, werden dort so lange eingesperrt, bis sich ein Aufnahmeland zur Abschiebung findet, das kann lange dauern. So erspart sich Deutschland auch die vielen Flüchtlinge mit Duldungsstatus.

Mit seinen Hilfsangeboten stellt sich Deutschland dar als Nation, die sich um die Elenden der Welt kümmert, und seine europäischen Partner, die sich der deutschen Lösung verweigern, als Unmenschen. Ein Vorwurf, der nur deshalb zieht, weil alle Staaten von sich behaupten, dass ihre Herrschaft der Natur des Menschen entspricht und sie ganz im Dienst der Menschen steht. Alle Staaten berufen sich in ihrer Legitimation auf die Menschenrechte, entsprechend denen ihre Herrschaft der Natur ihrer Bürger entspricht. So gehört es zum diplomatischen Umgang untereinander, anderen Staaten bei Gelegenheit den Verstoß gegen diese Prinzipien vorzuhalten. So müssen sie sich selber oft den Vorwurf des Verstoßes gegen die Menschenrechte gefallen lassen, haben aber gleichzeitig einen Einmischungstitel gegenüber anderen Staaten, von dem sie rege Gebrauch machen. Der Vorwurf greift die Legitimation an, nicht aber die wirkliche Basis ihrer Herrschaft. So dient jede Elendsgestalt im Herrschaftsbereich des anderen als lebender Beweis für die schlechte Herrschaft dort und als Legitimation für die Einmischung Deutschlands in die dortigen Verhältnisse.

Es gibt viel zu tun

Dass jede Menge Menschen einen Grund zur Flucht aus ihren Lebensverhältnissen haben, davon gehen die verantwortlichen Politiker und die ihre Sorgen teilende Journaille aus. Schließlich haben sie mit ihrer Außen- und Wirtschaftspolitik dafür gesorgt, dass es viel Elend in der Welt gibt. Da sind die Kriege, die unter Beteiligung europäischer Länder stattfinden oder stattgefunden haben, erwähnt seien nur Afghanistan, Libyen oder der Irak oder Mali. In einigen Ländern wurden Proteste bis hin zum Bürgerkrieg angestachelt wie in Syrien oder Länder mit Kriegsmitteln ausgestattet wie Saudi-Arabien im Jemenkrieg.

Doch auch mit ihrer Wirtschaftspolitik hat die EU einiges an Elend vor allem in Afrika zu verantworten, wo sie die dortige Wirtschaft durch ihre überlegene Konkurrenz ruiniert, die Rohstoffe dort ausbeutet und Menschen von ihrem Land vertreibt, weil dieses Land für das Geschäft mit Obst, Gemüse oder Blumen durch europäische Firmen und für Europa gebraucht wird.

Also haben europäische Politiker aller Couleur die Sorge, wie sie die Menschen davon abhalten können, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Deshalb gehören auch die Flüchtlinge auf Lesbos wieder in ein Lager eingesperrt, damit sie dort ihre abschreckende Wirkung entfalten. Und damit dies geschieht, kann die griechische Regierung auf umfassende Hilfe aus Deutschland rechnen. Auch das Technische Hilfswerk kann beim Wiederaufbau helfen.

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