Schweden: Milde Grippesaison machte Sars-CoV-2 gefährlicher?

Bild: Jonathan Brinkhorst/Unsplash

Staatsepidemiologe Anders Tegnells Erklärung für die Corona-Toten und seine Zuversicht: Man werde sehen, welche Strategie die nachhaltigere ist

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Covid-19 hat Brigitta Gustavsson schon hinter sich. Die alleinstehende 69-jährige Rentnerin aus der südschwedischen Kleinstadt Nybro hatte sich im Februar vermutlich bei einer Reise nach Schonen im Zug angesteckt und war dann schlimm krank.

Sie sei gegen Grippe geimpft gewesen, somit könnte es Covid-19 gewesen sein, wie sie am Telefon erzählt. Das bestätigte sich im Juni, für den Antikörpertest musste sie 30 Kilometer fahren und umgerechnet 75 Euro bezahlen. In der Zeit davor litt sie unter der Isolation. Obwohl sie als Liberale keine Freundin der rotgrünen Regierung ist, will sie an den schwedischen Epidemie-Maßnahmen, die stark durch den Staatsepidemologen Anders Tegnell geprägt sind, nichts aussetzen.

Die vielen Toten in den Altersheimen, wo das Coronavirus sich stark verbreitet hatte, sei durch Probleme wie etwa den Personalmangel bedingt, zudem habe die Regierung ja ein Besuchsverbot für die Pflegestätten erlassen.

Das Vertrauen in den Staat in Schweden ist generell hoch.

Die vielen Toten, derzeit 5865, sind das Manko des schwedischen Sonderwegs, der auf einen Lockdown im Frühjahr verzichtete. Und der nun weit mehr Anerkennung im Ausland erfährt, da die schwedischen Fall- und Todeszahlen auf niedrigem Niveau bleiben, während es in Europa wie etwa in Frankreich und Spanien wieder zum Anwachsen der Infektionen kommt und Maßnahmenverschärfungen drohen.

Auch der 64-jährige Mediziner Tegnell wies immer auf die Strukturprobleme der Altenheime hin, wo rund die Hälfte der Covid-19 Toten festgestellt wurden, und: Diese Probleme seien nicht mit der schwedischen Corona-Strategie verbunden.

Als Reaktion auf einen norwegischen Kollegen präsentierte der Beamte des schwedischen Gesundheitsamts gegenüber der Zeitung Dagens Nyheter eine neue Theorie. Die milde Grippewelle im letzten Winter in Schweden erklärt seiner Ansicht nach die vielen letalen Covid-19 Fälle.

Die Grippesaison des vergangenen Jahres führte dazu, dass viele der Gebrechlichen und Kranken, welche die ersten sind, die bei einer normalen Grippe sterben, zurechtkamen und stattdessen starben, als sie von Covid-19 erwischt wurden.

Anders Tegnell

Tegnell verwies auf eine aktuelle Studie des in Schweden gelegenen ECDC, des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, dass die Grippesaison in den Nachbarländern Norwegen und Finnland heftiger gewesen sei. In Schweden wurden diesen Winter 8.000 Grippeerkrankungen nachgewiesen, in der Saison zuvor waren es 14.000.

Im Nachbarland Norwegen, wo über fünf Millionen Menschen leben, liegt die Zahl der Toten mit Sars-CoV-2 bei gerade 265.

Frode Forland, Experte des norwegischen Gesundheitsamt, konnte erstmals diese Woche im öffentlich-rechtlichen Fernsehen SVT auftreten und die Zahl illustrieren. Der harte Lockdown im März, das Glück mit dem richtigen Timing sowie der effektive Schutz der Alten und Kranken führte zur relativ geringen Anzahl von Toten.

Noch im Frühjahr hatte der Norweger den schwedischen Weg öffentlich hart kritisiert, er befinde sich jedoch wöchentlich im Austausch mit den Fach-Kollegen des Nachbarlandes.

In Norwegen kam es in der letzten Zeit zu einem Anstieg der Zahlen - bedingt durch eine Studentenparty in der Großstadt Bergen sowie dank einer freikirchlichen Versammlung nahe der schwedischen Grenze.

Kritiker

Die Theorie zur Grippe wird nicht von anderen schwedischen Medizinern geteilt, vor allem nicht von denen, die Tegnell in schwedischen wie ausländischen Medien seit März kritisieren. So zum Beispiel Joacim Rocklöv, Professor für Epidemologie der Universität Umea, der via Twitter kommentierte, dass die schwache Grippesaison nur einen geringen Einfluss habe und die hohe Anzahl der Toten nicht wirklich erkläre.

Auch Frode Forland sowie Mika Salminen, Chef des finnischen Instituts für Gesundheit und Wohlfahrt, halten Tegnells Argumentation nicht für überzeugend. Die milde Grippesaison könne einen Einfluss haben, jedoch nicht den großen Unterschied der Todesraten zwischen Schweden und ihren Ländern erklären. In Finnland wurden bislang 339 Todesfälle mit Covid-19 registriert.

Die liberal-konservative Zeitung Svenska Dagbladet weist daraufhin, dass es in Norwegen und Finnland auch in der vergangenen Grippesaison vier Prozent weniger Tote als im Vorjahr gegeben habe, in Schweden waren es fünf Prozent weniger. Allerdings war hier nur von Personen, die einen "gewöhnlichen Tod" sterben die Rede, nicht von Grippetoten.

Tegnell argumentiert, wie schon mehrfach zuvor, dass es noch zu früh sei, die Länder zu vergleichen. Den Herbst sieht der Epidemiologe für Schweden optimistisch und er stellt dann dennoch einen Vergleich an, jedoch ist unklar mit wem.

Wir haben so viel bessere Voraussetzungen, gegen einen Anwachsen (der Fallzahlen) vorzugehen. Wir haben Tests vor Ort, ein Gesundheitssystem, das funktioniert, sowie Contact-Tracing.

Anders Tegnell

Masken etwa in Geschäften oder öffentlichen Verkehrsmitteln lehnt der Schwede weiterhin ab, da sie ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln würden.

In Interviews mit ausländischen Medien kündigte er einen baldigen Beweis an, dass der Weg seines Landes der bessere sei:

"Letztendlich werden wir sehen, was es bedeutet, eine nachhaltigere Strategie zu haben, die sie über einen längeren Zeitraum beibehalten können, anstatt einer Strategie, bei der sie immer wieder herunterfahren, lockern und herunterfahren."