Nawalny: Maria Pevchikh (Pewtschich) im Visier

Screenshot BBC

Selbst wenn die Geschichte mit der Flasche aus dem Hotelzimmer in Tomsk stimmt, mit der Nawalny vergiftet worden sein soll, wurden Beweismittel entwertet und Ermittlungen behindert - gewollt?

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Maria Pevchikh (Pewtschich), die die Ermittlungsarbeit von Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung FBK von London aus leitet, ist zur Zeit eine der Schlüsselpersonen zur Aufklärung des mutmaßlichen Giftanschlags auf Nawalny. Sie hatte Nawalny auf dessen Reise nach Nowosibirsk und Tomsk begleitet, um über Korruptionsfälle zu recherchieren und die von Nawalny propagierte Taktik zu propagieren, die Stimmen den Oppositionspolitikern zu geben, die die größten Chancen auf einen Sieg haben. In den beiden sibirischen Städten konnten sie vergangenes Wochenende auch Erfolge erzielen.

Pevchikh wohnte wie andere Teammitglieder im selben Hotel wie Nawalny, gemunkelt wurde, sie könnte auch eine Beziehung zu ihm haben. Jedenfalls flog sie nicht mit Nawalny mit, sondern blieb in Tomsk und fuhr dann nach Nowosibirsk, um von dort nach Omsk zu fliegen und dann zusammen mit Nawalny und seiner Frau in dem deutschen, von Cinema for Peace finanzierten Rettungsflugzeug nach Berlin zu fliegen. Nachdem die deutschen Ärzte Nawalny im Krankenhaus besucht und die behandelnden russischen Ärzte keine Bedenken mehr wegen seines gesundheitlichen Befindens äußerten, verzögerte sich aber der Abflug noch um einige Zeit. Als Grund wurde genannt, dass die Crew "gesetzliche Ruhezeiten" einhalten musste.

Möglicherweise wurde aber auch auf Pevchikh gewartet. Sie nämlich könnte die Wasserflaschen aus dem Hotel, verpackt in Plastiktüten, gebracht und mit nach Berlin genommen haben. Vermutlich ist sie kurz zu Beginn des Videos zu sehen, das das Nawalny-Team eine Stunde nach seinen Zusammenbruch um 11:45, wie sich an der Uhr erkennen lässt, gedreht hat, etwa 5 Stunden nachdem Nawalny und seine Begleitung das Hotelzimmer verlassen haben. Angeblich waren die Zurückgebliebenen noch beim Frühstück und das Hotelpersonal hat noch nicht begonnen, das Zimmer aufzuräumen, in dem angeblich Nawalny geschlafen hat.

Sie haben das Zimmer durchsucht und die drei fast leeren Wasserflaschen in Plastiktüten mit Plastikhandschuhen eingepackt. Das sieht nicht nach Nowitschok-Verdacht aus. Was sie noch mitgenommen haben, ist aus dem Video nicht erkenntlich, aber sie haben mehr eingesammelt, wie sie sagen. John Helmer, der den Fall minutiös verfolgt, geht in einem Artikel davon aus, dass die Plastikhandschuhe nicht zum Schutz, sondern zur Vermeidung von Fingerabdrücken getragen wurden. Er ist auch nach der Unordnung im Zimmer der Ansicht, dass das Hotelpersonal von der Polizei angewiesen worden war, das Zimmer nicht zu betreten.

Die Flaschen der Marke Swatoj Istotschnik wurden offenbar gegen den Einspruch einer Hotelangestellten mitgenommen. Sie sagte nach der Übersetzung von Helmer: "Wenn Sie keine offizielle Genehmigung haben, kann ich Ihnen gar nichts geben." Eine Frauenstimme (Pevchikh?) sagte: "Wir brauchen keine Genehmigung, um leere Flaschen mitzunehmen", worauf die Hotelangestellte entgegnet: "Wenn Sie Flaschen mitnehmen wollen, brauchen Sie die Genehmigung der Polizei." Einer der Männer sagt, dem könne man nicht nachkommen.

Update: Nawalnys Sprecherin Kirma Jarisch hat gestern in einem Interview versichert, dass nur auf dem Hals einer Flasche vom Bundeswehrlabor Nowitschok-Spuren gefunden wurden, aber auf keinen anderen Gegenständen, die er berührt hatte und die mit den drei Flaschen mitgenommen wurden. Immerhin würde es sich um den ungenehmigten und kaum gesicherten Transport und die Einfuhr nach Deutschland eines verbotenen chemischen Kampfstoffs handeln. Man wird sich noch erinnern, welche Vorkehrungen die britischen Behörden in Salisbury nach dem Anschlag auf Skripals trafen.

Sein Gepäck mit seinen persönlichen Sachen hatte er im Flugzeug dabei. Das Bundeswehrlabor habe nicht berichtet, dass die giftige Substanz auf anderen Gegenständen gefunden wurde. Die Laborergebnisse würden erst nach Zustimmung von Nawalny veröffentlicht werden. Die Zurückhaltung nährt das Misstrauen. Es ist kaum nachvollziehbar, warum er Informationen über den Nachweis des Nowitschok-Giftstoffs verhindern kann und sollte.

Interessant wäre zu wissen, ob denn auf der angeblich mit Nowitschok kontaminierten Flasche - das Gift soll nach Nawalnys Sprecherin nicht im Wasser gewesen sein -, Fingerabdrücke abgenommen und identifiziert wurden. Es müssten zumindest die von Nawalny auf der Flasche sein, aber auch vom Hotelpersonal. Zudem stellt sich die Frage, wie der mögliche Täter, der eine der Wasserflaschen mit Nowitschok beschmiert hat (wo? Verschluss? Flaschenhals? Flaschenkörper?), wissen konnte, dass Nawalny sie benutzen würde? Hätte also auch ein anderer aus dem Team vergiftet werden können?

Was das Nawalny-Team auf jeden Fall geleistet hat, ist eine nachhaltige Verwischung der Spuren am Tatort, sollte er es denn gewesen sein. Desto dringender würde es sein, wenn man von Russland eine Aufklärung fordert, alle Informationen über die Flaschen und andere Gegenstände, einschließlich des Nowitschok-Nachweises, der russischen Staatsanwaltschaft zu übergeben. Die konnte alle zurückgebliebenen Mitglieder des Teams befragen, aber angeblich nicht Pevchikh, bevor sie abflog. Sie meinte gegenüber Meduza, die Polizei habe sich bei ihr nicht gemeldet, obgleich sie immer ihr Handy angeschaltet hatte.

Pevchikh: Die Flasche ist nur wichtig, um zu beweisen, dass er vergiftet wurde, bevor er am Flughafen ankam

Unklar ist, ob Pevchikh in Berlin vernommen wurde oder gegenüber Ermittlern eine Aussage gemacht hat. Sie scheint weiterhin in Berlin zu sein und sagt. Sie besuche weiter Nawalny. BBC hat ein Interview mit ihr gemacht, bei dem ihre Angaben aber nicht hinterfragt wurden. Ihre Story ist, dass ihr Kollege Zhora, der von Flugzeugen fasziniert sei, beim Frühstücken auf Flightradar gesehen habe, dass das Flugzeug mit Nawalny an Bord in Omsk gelandet sei. Dann soll er an Kira Jarmisch, Nawalnys Sprecherin, die mitgeflogen war, eine SMS geschickt haben, wie es ihnen in Omsk gehe. Erst einmal sei keine Antwort gekommen, dann habe man über Twitter erfahren, dass Nawalny zusammengebrochen und im Koma in ein Krankenhaus gebracht worden war. Man habe auch das Video gesehen, auf dem er vor Schmerzen geschrien habe:

Gesunde Menschen fallen nicht einfach so ins Koma, er hat keine Diabetes, er hat keine Krankheiten, die dazu führen könnten. Uns war klar, dass etwas sehr falsch gelaufen war. Und das ist natürlich Russland. Eine Vergiftung hier ist zu meiner großen Bestürzung fast die Norm. Es ist einigen Leuten zweimal passiert. Und wenn wir über Vergiftungen sprechen, bedeutet dies, dass dies Spuren hinterlassen haben könnte.

Pevchikh

Das soll zu dem Entschluss geführt haben, sofort in das Hotelzimmer zu gehen. Es sei jemand vom Hotel dabei gewesen. Man habe sie zuerst nicht ins Zimmer gelassen, aber dann hätten sie nicht lange diskutiert, sondern seien einfach hineingegangen. Sie hätten wegen Corona Handschuhe mitgenommen und dann alles eingesammelt, was ein Mensch berühren konnte. Sie seien dann nach Nowosibirsk gefahren, weil es keinen Flug vom Tomsk nach Omsk gibt, und von dort aus nach Omsk geflogen. Die Fundsachen hätten sie im Gepäck versteckt. Bei den Wasserflaschen habe man eine "kleine Wahrscheinlichkeit" vermutet, dass sie wertvoll sein könnten. Wenn sie diese nicht mitgenommen hätten, wären sie sicher weggeworfen worden (das dürfte allerdings eine Schutzbehauptung sein).

Den russischen Ärzten wurden die Flaschen nicht übergeben, sie hätten doch Nawalny gehabt und ihn direkt untersuchen können. Interessant ist, dass sie gleichzeitig die Bedeutung der Flaschen herunterzuspielen versucht. Sie verstehe den Hype um die Flasche nicht. Man habe auf ihr Spuren von Nowitschok gefunden, drei Labore hätten die gleiche Substanz in Nawalnys Körper entdeckt (möglicherweise waren die Nowitschok-Spuren auf der Flasche aber entscheidend, um Nowitschok- Metaboliten im Körper finden zu können).

Die Flasche sei nur wichtig, um zu beweisen, dass er vergiftet wurde, bevor er am Flughafen ankam. Ansonsten gibt sie sich zurückhaltend: "Ich hoffe wirklich, dass wir eines Tages herausfinden werden, wie Alexey vergiftet wurde. Aber jetzt haben wir nicht die geringste Ahnung." Das könnte man auch so verstehen, dass die Aufmerksamkeit vom Flughafen abgelenkt werden soll. Dort hatte Nawalny, auf einem Video dokumentiert, einen Tee getrunken. Bislang hatte auch Nawalnys Team hier die Vergiftung vermutet. Warum man nun, Wochen nach dem mutmaßlichen Giftanschlag, erst das Video vom 20. August veröffentlicht, um zu belegen, dass die Vergiftung bereits im Hotel stattgefunden habe, wurde nirgendwo erklärt - und wird offenbar auch von den Medien einfach akzeptiert. Musste die Herkunft der Flasche geklärt werden, die offensichtlich wichtig für die Bestätigung von Nowitschok war?

Pevchikh bestätigt, dass sie mit dem deutschen Rettungsflugzeug mitgeflogen sei, Julia Nawalny habe eine Begleitung benötigt: "Diese Person war ich. Das ist alles." Natürlich gibt es auch hier keine Nachfrage. Sie machte ziemlich deutlich, dass sie mit russischen Ermittlern nicht sprechen werde. Man stelle ihrer Familie in Russland nach und erzähle verrückte Geschichten über ihren Vater, mit dem sie seit 15 Jahren nicht mehr gesprochen habe, ihre Eltern seien geschieden.

Kreml: Absurde Geschichte

Im Kreml bleibt man dabei, dass die ganze Geschichte absurd ist. Zu der Flasche könne man nichts sagen, sie sei angeblich nach Deutschland gebracht worden, so Peskow. Wenn russische Wissenschaftler die Flasche nicht untersuchen können, können sie auch nichts darüber aussagen. Wenn es Spuren von Nowitschok in Russland geben sollte, hätte es sich um einen Notfall gehandelt und wäre der Präsident sofort informiert worden. Spezialisten würden sagen, dass dann Menschen, die die Flasche berührt haben oder in der Nähe gewesen waren, auch vergiftet worden sein können. Das Wegschaffen der Flaschen könne auch bedeuten, dass eine Untersuchung vermieden werden soll.

Überhaupt könne man nicht untersuchen, ob eine Vergiftung stattgefunden habe. Die russischen Ärzte hätten keinen Hinweis darauf gefunden, aber sie würden von Deutschland oder von Nawalny auch keine Untersuchungsergebnisse erhalten, die dies belegen. Man habe auch kaum Möglichkeiten, dies auf eigene Faust zu untersuchen, weil Gegenstände aus Russland fortgeschafft wurden. Und von der OPCW habe man auch noch keine Informationen erhalten: "Die Situation ist so: Das Technische Sekretariat der OPCW sagt, wir wissen nichts, fragen Sie die Deutschen, und die Deutschen sagen, wir wissen nichts, fragen Sie die OPCW."

Und so lange das Bundeswehrlabor, die Bundesregierung oder die OPCW nicht bekannt geben - nicht gegenüber Russland, sondern vor allem gegenüber der Öffentlichkeit -, um welche Nowitschok-Verbindung es sich handelt, ist auch unklar, ob es ein Fall für die OPCW ist. Auf der OPCW-Liste stehen nur einige Nowitschok-Verbindungen - auf Russlands Gesuch 2019 wurden weitere vier Verbindungen auf die Liste gesetzt. Man hat den Eindruck, dass ein Verstoß gegen das Chemiewaffenverbot suggeriert werden soll, der sich gegen Russland richtet. Sollte es sich um eine nicht von der OPCW gelistete Substanz handeln, wäre es zwar weiterhin ein Mordversuch, aber kein Verstoß gegen das Chemiewaffenverbot.