Corona-Recht: Wenn Abgeordnete nicht mehr immun sein sollen

Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat der Bundestag die vorsorgliche Aufhebung der politischen Immunität seiner Mitglieder bis zum 31. Dezember 2020 verlängert

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Der Tagesordnungspunkt dauerte knapp fünf Minuten. Dann hatte der Bundestag am 17. September 2020 ohne großes Aufsehen eine Maßnahme verlängert, die eigentlich am 30. September auslaufen sollte: die vorsorgliche Aussetzung der politischen Immunität seiner Mitglieder nach dem Infektionsschutzgesetz.

Ein Virus streckt ein parlamentarisches Schutzrecht darnieder. Dabei ist die Maßnahme an sich medizinisch völlig irrelevant. Sie demonstriert vielmehr das Interesse, den politischen Ausnahmezustand zu verlängern. Oder die Unfähigkeit, aus ihm auszusteigen.

Das Corona-Sonderrecht, eingeführt am 25. März 2020, ermächtigt beispielsweise den Bundesgesundheitsminister zum Oberkommandierenden des Infektionsschutzes, der selber Gesetze erlassen kann und der es den Landesregierungen in den Bundesländern erlaubt, per Verordnungen zu regieren. Zu diesem Sonderrecht gehört auch, Grundrechte außer Kraft setzen zu können. Einige sind es bis heute: beispielsweise die Freiheit der Person (Artikel 2 Grundgesetz), die Religionsfreiheit (Artikel 4), die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Berufsfreiheit (Artikel 12), teilweise die Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13).

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, da doch jede Woche Demonstrationen stattfinden, auch gegen die Corona-Politik: Unter den Bedingungen des aktuellen Infektionsschutzgesetzes müssen Demonstrationen angemeldet, mit einem Hygienekonzept versehen und schließlich von Polizei und Gesundheitsbehörden genehmigt werden. Das ist nicht das Gleiche wie Demonstrations-FREIHEIT.

Das Corona-Ausnahmerecht soll bis längstens 31. März 2021 dauern. So wurde es am 25. März beschlossen. Der aktuelle Beschluss vom 17. September zu Aussetzung der politischen Immunität lässt allerdings daran zweifeln, ob es bei der Befristung bleibt.

Die Abgeordneten haben ihre eigene politische Immunität zugunsten eines vermeintlichen Infektionsschutzes geopfert

Zu den Grundgesetz-Artikeln, die an das Corona-Recht angepasst wurden, zählt auch Artikel 46: "Indemnität und Immunität der Abgeordneten". Indemnität bedeutet, dass ein Abgeordneter nicht wegen seines Abstimmungsverhaltens oder wegen einer Äußerung im Bundestag verfolgt werden darf. Immunität bedeutet, dass ein Abgeordneter nur mit Zustimmung des Bundestages strafrechtlich verfolgt oder verhaftet werden darf. Es sei denn, er wird in flagranti erwischt. "Jedes Strafverfahren gegen einen Abgeordneten", heißt es im letzten Satz von Artikel 46, "jede Haft und jede sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit sind auf Verlangen des Bundestages auszusetzen."

Indemnität und Immunität sind zentrale Schutzrechte der Parlamente gegen mögliche Angriffe von außen. Sie verhindern beispielsweise, dass eine Staatsanwaltschaft gegen Abgeordnete vorgehen, sie verhaften lassen und dadurch ein Parlament schwächen oder gar liquidieren könnte.

Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde auch Grundgesetz-Artikel 46 vom Deutschen Bundestag an jenem 25. März kassiert. Die Abgeordneten haben ihre eigene politische Immunität zugunsten eines vermeintlichen Infektionsschutzes geopfert. Dazu wurde der Weg über die Geschäftsordnung des Bundestags gewählt. Laut Geschäftsordnung war das Parlament bisher beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte seiner Mitglieder anwesend war, sprich: mindestens 50% + 1.

Klammer auf: Dass das Quorum bei vielen Abstimmungen nicht eingehalten wird, ist eine andere Frage. Die Fraktionen einigen sich untereinander und stimmen quotengetreu ab. Klammer zu.

Unter Corona sollte der Bundestag beschlussfähig sein, wenn mindestens ein Viertel seiner Mitglieder anwesend ist, sprich: 25% + 1. Doch nun wird es kurios. Diese Reduktion wird als notwendig erachtet, weil das Parlament sozusagen vorsorglich erlaubt, dass seine Mitglieder dem Infektionsschutzgesetz und "freiheitsbeschränkenden Maßnahmen" unterworfen werden können. Sprich: Die angebliche Notwendigkeit zur Anpassung seiner Beschlussfähigkeit hat der Bundestag selber herbeigeführt (Drucksache 19/18126).

Bedenklich ist aber vor allem die vorsorgliche Genehmigung, "Freiheitsbeschränkungen" gegen Mitglieder des Bundestags anordnen zu können. Das steht im ersten Satz der neuen Nummer 6a der geänderten Geschäftsordnung. Dann wird es aber rätselhaft. Denn im letzten Satz der Nummer 6a heißt es: "Im Übrigen dürfen durch allgemeine Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz, wie etwa Ausgangssperren, Abgeordnete nicht an der Ausübung ihres Mandats, insbesondere der Anreise zu Sitzungen des Deutschen Bundestages, gehindert werden."

Einerseits: "Freiheitsbeschränkungen ja" - andererseits: "keine Behinderungen des Mandats". Wie passt das zusammen? Ein Widerspruch oder eine Sowohl-als-auch-Regelung?

Patrick Sensburg (CDU), Vorsitzender des zuständigen Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, der die geänderte Geschäftsordnung erarbeitet hat, bestreitet einen Widerspruch. Satz 1 mit den "freiheitsbeschränkenden Maßnahmen" betreffe konkrete Fälle, erklärt er, beispielsweise wenn ein MdB in Quarantäne müsse, weil er corona-positiv sei. Der Schlusssatz hingegen mit der ungehinderten Ausübung des Mandats gelte allgemein für Corona-Maßnahmen.

So steht das allerdings nicht im Text der Geschäftsordnung. Es ist eine Auslegung des Politikers, auf die man sich nicht unbedingt berufen kann. Die tatsächlichen Formulierungen bleiben widersprüchlich und unbestimmt und lassen beides zu: Abgeordnete unter Hausarrest zu stellen und zugleich ihre Mandatsausübung zu reklamieren. Man könnte auch sagen: Mit dem einen Satz kann man den anderen abschwächen. So benutzt sie der Politiker Sensburg - alles halb so wild.

Dabei zeigt die Herabsetzung der Beschlussfähigkeit auf ein Viertel + 1 der Mitglieder, dass es um mehr als einzelne Fälle von erkrankten Abgeordneten geht, die zuhause bleiben müssen. Tatsächlich wird ja von einer Mehrheit ausgegangen, von drei Viertel minus 1 der Bundestagsmitglieder, deren "Freiheitsbeschränkung" akzeptiert werden soll.

Die Aufhebung eines derart bedeutenden Prinzips der parlamentarischen Demokratie, wie die politische Immunität von Abgeordneten, erscheint wie ein Sieg der Exekutive über die Legislative. Die Polizei ist dem Infektionsschutzgesetz nicht unterworfen, Ausgangssperre gilt für sie nicht.

Dass es obendrein die Parlamentarier selber sind, die ihr eigenes Parlament schwächen, macht den Vorgang umso bemerkenswerter. Am 25. März 2020 stimmten alle Parteien der Regelung und der neuen Corona-Geschäftsordnung zu, von der AfD kamen drei Enthaltungen. Die Fraktion kritisierte lediglich die Befristung bis 30. September 2020. Sie wollte die Regelung bis 31. Mai 2020 laufen lassen.

"§ 126a findet ab 30. September 2020 keine Anwendung mehr. Vor diesem Datum kann die Regelung jederzeit durch Beschluss des Deutschen Bundestages aufgehoben werden." So steht es im Text.

Längstens bis 30. September, vorzeitiges Ende möglich, von einer Verlängerung ist nicht die Rede. Doch die wurde jetzt am 17. September tatsächlich beschlossen

Ganz ohne Not, weil medizinisch und gesundheitspolitisch unbedeutsam. Wieder waren alle Fraktionen dafür, bis auf die AfD, die diesmal sogar dagegen stimmte.

Man kann darin aber auch eine populistische Anpassung an das allgemeine gesellschaftliche Klima sehen, das sich zu ändern beginnt. Die FDP wollte das Ende der "Epidemie von nationaler Tragweite" ausgerufen haben. Das bekam sie nicht, stattdessen trug sie die Verlängerung der Epidemiemaßnahme "Immunitätsverzicht" mit. Die Linkspartei hält die Verlängerung aufgrund "wissenschaftlicher Erkenntnisse" für nötig. Die Grünen schlugen einen Pandemierat mit "breiterer wissenschaftlicher Perspektive" vor. Immerhin ein Eingeständnis ungenügender Daten- und Erkenntnisbasis in der Epidemie.

Doch auch den Pandemierat gibt es nicht. Stattdessen Symbolpolitik.