Die unsichtbare Intelligenz

Warum in der Stadttechnik unsere Zukunft liegt

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In einer Kurzgeschichte namens "Die Stadt" wies Hermann Hesse 1910 auf die entscheidenden Punkte derselben hin. Auf wenigen Seiten entwarf der Nobelpreisträger darin eine rasante Entwicklungsgeschichte, die zugleich das Fundament aller städtischen Zivilisation beschreibt. Nämlich die Infrastruktur, also das Wege- und Verkehrsnetz der Menschen und Dinge als eigentliches Betriebssystem von Handel und Wandel.

Denn es sind die Straßen, die Wasserversorgung, die Kloake, die Elektrizitätsversorgung, die Eisenbahn, die Tram, die Metro, das Telefonnetz und auch das Internet, die eine Stadt hervorbringen, indem sie den Austausch in ihrem Inneren und mit ihrer Umgebung ermöglichen.

Viele Selbstverständlichkeiten des städtischen Lebens hängen am seidenen Faden eines ausgeklügelten Systems infrastruktureller Netze, die häufig kaum in unserem Alltagsbewusstsein verankert sind. Stadttechnische Systeme zur Wasser- und Stromversorgung, zur Abwasserentsorgung oder zur Fernwärmezuleitung machen das Wohnen und Arbeiten, das kreative und produktive Element der modernen Stadt erst möglich. Über Jahrzehnte ausgebaut, ausdifferenziert und perfektioniert, hat das dazu geführt, dass im Adersystem unserer Städte ein gewaltiger Berg an Geld gebunden ist. Allerdings wirkt es weithin auch wie "totes Kapital": strukturell vernachlässigt, stellenweise runtergekommen, irgendwie ungeliebt. Vielfach hält man es für ein Derivat, etwas Überkommenes, das im Hightech-Zeitalter seltsam antiquiert erscheint. Doch das ist falsch: Es ist erneuerungsbedürftig, aber alles andere als obsolet.

Man kann das Gerüst der Stadt holzschnittartig in drei Kategorien unterteilen. Doch während die Bedeutung der sozialen Infrastruktur - von Schulen zu Senioreneinrichtungen, vom Kindergarten zum Krankenhaus, vom Spielplatz zum Schwimmbad - und des Grüns (in Form von Parks, Gärten und auch Laubenpiperkolonien) unmittelbar einsichtig ist, wird die Relevanz von grauer, also technischer Infrastruktur für das Urbane häufig verkannt. Das wäre endlich gerade zu rücken.

Karl Kraus hat einmal seine Erwartungshaltung auf die prägnante Formel gebracht: "Ich verlange von der Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst." Die Attraktivität städtischer Lebensgestaltung basiert nicht zuletzt auf dem Untergründigen. In der Stadttechnik, mag sie auch noch so sehr im Verborgenen wirken, liegt eine entscheidende Triebfeder der Urbanisierung: die Hoffnung auf ein Zurückdrängen des Reichs der Notwendigkeit zugunsten des Reichs der Freiheit, wie es Karl Marx als emanzipatorische Perspektive der Entfaltung der Produktivkräfte formuliert hat.

Bis weit in die jüngere Geschichte hinein hat sich die Stadt gegen das Land definiert: Sie war der Ort, an dem die neugewonnene Unabhängigkeit von den Widrigkeiten der Schöpfung gelebt werden konnte. In der Stadt lässt sich sprichwörtlich die Nacht zum Tag machen, weil sie zu einer Art Maschine wurde, die den einzelnen davon befreit, den eigenen Kot fortzuschaffen, Wasser am Brunnen zu holen, die Kranken zu pflegen und den eigenen Lebensrhythmus dem Wetter anpassen zu müssen. Sie entlastet von bestimmten Arbeiten und von Verantwortung, gibt dadurch Freiheit für andere, selbstgewählte Aktivitäten im Beruf, im Verein oder für Faulenzerei. Das ist die progressive Logik der Technisierung und Rationalisierung der urbanen Haushaltsführung. Und das ist auch die historische Leistung einer immer ausgefeilteren Stadttechnik.

In gewisser Weise kann man sagen, dass die Angst vor der Cholera so etwas wie den Beginn moderner Stadtentwicklung markiert. Seit den 1830er Jahren überzog sie Europa, trat zumeist und zuerst in den dicht besiedelten Armenvierteln auf, wie erste Überblickskarten über Sterbefälle belegten, machte aber hier nicht Halt. In Sorge um die eigene Gesundheit versuchten sich die Stadtväter einen Überblick über diese ihnen gänzlich unbekannten Brutstätten von Krankheit, Unmoral und Aufruhr zu verschaffen.

Absperrtor in der Dresdener Kanalisation. Bild: Tiefbauamt Dresden / Gemeinfrei

Dementsprechend wurde die Stadt im 19. Jahrhundert weithin beschrieben: Müll und Dreck allenthalben. Und Gestank: intensiv, atemraubend. Fasziniert und angeekelt seien die bürgerlichen Betrachter von den Zuständen in den städtischen Vierteln der Armen gewesen. Benebelt und berauscht vom Gestank des Abfalls und der Kloaken verschwamm im bourgeoisen Blick aufs Volk die Topografie der Quartiere mit der Moral ihrer Bewohner. Von Arbeit und Armut über den Schmutz zum Laster - eine semantische Kette.

Man muss kein allzu überzeugter Anhänger Freudscher Ideen sein, um die Beschreibungen vom konkreten und moralischen Dreck, "von Sündenpfuhlen und Senkgruben des Lasters", in Zusammenhang mit der Körperfeindlichkeit der bürgerlichen Klassen zu bringen. Die "lower parts of town" korrespondieren mit den menschlichen "lower parts". Die Rede von Letzteren war tabuisiert; verschoben auf die Slums produzierte sie dort geradezu ein Crescendo an fragwürdigen, aber gesellschaftlich gängigen Metaphern.

Aber irgendwann mündete dies auch in gezielte - kommunale wie staatliche - Interventionen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese Stadttechnik massiv ausgebaut, wie zugleich auch die Rohrpost und der öffentliche Nahverkehr. Dabei ist die Entwicklung moderner Urbanität ohne Elektrizität undenkbar. Die Stromversorgung revolutionierte die Produktion in den Industriemetropolen wie auch den gesamten Großstadtverkehr. Letzteres kommt immer dann unsanft zu Bewusstsein, wenn S- oder U-Bahnstrecken vorübergehend außer Betrieb gesetzt werden müssen. Elektrizität ist überall verfügbar, aber wie sie hergestellt wird und wie sie von der Produktion bis zur Steckdose gelangt, ist kaum jemanden geläufig.

Über ein Jahrhundert lang bedingten Stadttechnik und Städtebau einander

Die Entwicklung des einen Bereichs wäre ohne die des anderen nicht möglich gewesen. Auch der "civil-engineer" spielt eine entscheidende, doch irgendwie ambivalente Rolle. Einerseits wird kaum einem anderen Fachmann eine so große Kompetenz zugebilligt, dass seine Arbeit quasi jeder öffentlichen Anteilnahme und Diskussion entzogen ist. Andererseits wird er gerade deswegen auch misstrauisch beäugt - weiß man doch nie so recht, was da gerade wieder in der Erde verbuddelt wird, und warum.

Anhand der Medien Wasser, Abwasser, Strom und Gas lassen sich noch heute Voraussetzungen, Abläufe, Maßnahmen und - im Wortsinne - "Untergründiges" der Stadtentwicklung veranschaulichen. Mitunter euphemistisch als "unsichtbare Intelligenz unserer Städte" bezeichnet, haben diese Erschließungsanlagen immerhin eine längere Lebensdauer als die Wohnbebauung, als Schulen, Büros und Amtsstuben. Aborte und Kanalquerschnitte, Gaslaternen und Stromnetze, Absatzbecken und Pumpwerke, Schwemmkanalisation und Aufbau der Radialsysteme: Das sind entscheidende Schlagworte nicht bloß in der Geschichte, sondern auch für die Zukunft der Stadt.

Riesiger Erneuerungsbedarf der urbanen Infrastruktur

Lange haben es die Kommunen verdrängt, schamhaft verschwiegen oder für irrelevant erklärt: Den Städten drohen heute und absehbar gigantische Kosten aus dem Erneuerungsbedarf der Infrastruktur. Insbesondere der Straßen und der Leitungsnetze für Trink- und Abwasser, Fernheizung, Strom. Wissenschaftliche Abschätzungen machen die Brisanz der Infrastrukturaufgabe in den deutschen Städten deutlich.

So hat Deutsche Institut für Urbanistik im Jahr 2008 errechnet, dass die öffentliche Hand und private Investoren pro Jahr rund 47 Mrd. Euro investieren müssten, um die Qualität und Funktionsfähigkeit unseres Bestands an materieller Infrastruktur zu erhalten. Zwischen 2006 und dem Jahr 2020 wären das insgesamt 755 Mrd. €, legt man Preise von 2000 zugrunde. Dabei sind die ostdeutschen Länder mit einem Durchschnittswert von rd. 858 € je Einwohner deutlich stärker betroffen als die westdeutschen Ländern, deren Einwohner pro Jahr jeweils rd. 755 € für die Infrastrukturinvestitionen hätten aufbringen sollen. Geschehen ist seitdem deutlich weniger, auch das bedeutet: Wir leben hier teilweise von der Substanz. Im Ergebnis zeigt dieser Überblick zur Leistungsfähigkeit einer kommunalen Infrastrukturpolitik traditioneller Prägung eine gewaltige Lücke zwischen Aufgabenumfang und öffentlicher Lösungskraft.

Wachsende demografisch bedingte Finanzierungsprobleme

Mit Blick auf die Gesamtheit der Städte in Deutschland, die ja nicht zuletzt durch ein Nebeneinander von wachsenden und schrumpfenden Räumen gekennzeichnet ist, tut sich ein weiteres empfindliches Problem auf. Überall dort, wo stadttechnische Systeme und Netze auf eine rückläufige Bevölkerung und abnehmende Nutzerzahlen treffen, gerät die herkömmliche wirtschaftliche Basis der Ver- und Entsorgung aus den Fugen.

Denkt man Ver- und Entsorgung vereinfacht als System von Rohren, an das in regelmäßigen Abständen Haushalte (also Nutzer) angeschlossen sind, und versteht, dass Wartung und Betrieb dieses Rohrsystems zu gleichen Teilen von den angeschlossenen Haushalten über Gebühren zu finanzieren sind, zeigt sich schnell der auch soziale Sprengstoff rückläufiger Bevölkerungszahlen: Jeder Zahler, der aus dem System ausscheidet, bürdet Teile der von ihm getragenen Kosten den verbliebenen auf, die über das Gebührenrecht automatisch für dieselbe Leistung mehr bezahlen müssen.

Mittlerweile wird wenigstens nicht mehr in Zweifel gezogen, dass in den nächsten Jahren die bestehenden Einrichtungen instandgesetzt werden müssen. Dahinter steht eine selbst für Laien leicht nachvollziehbare Kosten-Nutzen-Abwägung. Zum einen produzieren die für hohe Beanspruchung ausgelegten Leitungsnetze bei Unternutzung (etwa durch verkleinerte Haushalte oder in ausgedünnten Siedlungsgebieten) exponentiell steigende Unterhaltungskosten. Zum anderen wachsen sich insbesondere überproportionale Wärmeverluste, Verstopfung, Verkeimung und Reparaturanfälligkeit der Leitungen zu wahren Kostentreibern aus. Implizit geht es damit auch um Antworten auf die Frage, wie eine ökologisch wie ökonomisch erforderliche "Mehrfachnutzung" von Energie, Wasser, Abwasser und Müll aussehen kann - oder gar muss.

Mit Blick auf die Herausforderung der leeren Gemeindekassen, des demografischen Wandels und der drängenden Herausforderungen des Klimawandels erhält die infrastrukturelle Komponente der Stadtentwicklung eine völlig neue Bedeutung. Sie wird aber zu wenig ernstgenommen. Oder anders herum: Das Urbane verliert ohne Stadttechnik rasant an Funktion und Attraktivität.

Obgleich sie in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist, spielt sie in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie keine Rolle. Und wenn, dann eine negative: Es stinkt, funktioniert mal wieder nicht etc. Sie ist teuer und komplex, aber nicht sexy. Zudem droht sie vom Hype um Digitalisierung und "smart grids" vollständig überdeckt zu werden. Aber die unsichtbare Intelligenz der Stadt basiert auch weiterhin auf harten Infrastrukturen: Ohne sie ist selbst eine "smart city" nicht zu haben.