Corona und die sozial-ökonomische Krise

Bild: Brian McGowan/Unsplash

Kommentar: Krisen sind gute Voraussetzungen, die eigenen Szenarien, Methoden und Politiken zu überdenken

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Gemeldet wurde vor ein paar Tagen, dass es Unruhen in ärmeren Vierteln in Madrid gab, weil es Signale gab, dass ein neuer Lockdown drohe (siehe dazu Nun wird Madrid doch abgeriegelt), der die Lebensgrundlage vieler Menschen gefährdet. Auch die Gastwirte im Süden Frankreichs opponieren gegen neue Beschränkungen, da sie das Ende ihrer Existenz befürchten.

Die Corona-Maßnahmen mit der einseitigen Fixierung auf die Infiziertenzahlen seit Anbeginn (leider auch des Massenmediums Fernsehen) greifen immer mehr in das Leben der Menschen ein, auch in Deutschland. Die Creditreform meldet nun, dass zirka 15,5 Millionen Haushalte in Deutschland in einer schwierigen finanziellen Lage sind, das sind 37 Prozent der deutschen Haushalte!

Vor allem Gering- und Normalverdiener leiden unter den Corona-Einschränkungen, die wieder einmal "am Ende der Nahrungskette" stehen und die größte Last tragen müssen. Stundungen von Krediten sind erforderlich, Konsumausgaben müssen weiter heruntergefahren werden. Fast 13 Prozent haben seit Mai bis August ihren Arbeitsplatz verloren, 42 Prozent sind in Kurzarbeit, 14 Prozent können ihre selbständige Tätigkeit nicht mehr ausführen, um 629.000 ist die Arbeitslosigkeit von Ende 2019 bis Ende August im Westen gestiegen (das sind 34 Prozent), so schnell wie nie zuvor, im Osten um 60.000 (15 Prozent).

Etwa fünf Millionen Kurzarbeiter gibt es derzeit, die bis zu 40 Prozent weniger Nettogehalt bekommen. Bei einem Netto-Einkommen von 2.000 Euro sind das 800 Euro weniger, was diese Geringverdiener wahrscheinlich vor kaum überbrückbare Schwierigkeiten stellt.

Sollten die Einschränkungen weiter anhalten, könnte es im schlimmsten Fall nächstes Jahr sieben oder acht Millionen Arbeitslose geben. In der Finanzmarkt- und Eurokrise 2007/2008 gab es keinen Lockdown, weshalb die Wirtschaft selbst an der Überwindung der Krise mitwirken konnte, heute ist das nicht der Fall.

Die Konsequenz ist derzeit, dass die Wirtschaft weiter auf tieferem Niveau verharrt oder womöglich nach weiteren Beschränkungen oder sogar einen Lockdown, durch nicht immer logisch nachvollziehbare politische Entscheidungen, erneut abrutscht, solange es keinen sicheren Impfstoff gibt; ob er gefunden wird, ist überhaupt nicht sicher. Pragmatische Lösungen im Umgang mit Corona sind nicht in Sicht, Angst beherrscht zu häufig die öffentliche Diskussion; und Angst ist in einer Krise kein guter Ratgeber.

Auch die Unzufriedenheit der Menschen in Deutschland dürfte zunehmen. Menschen dauerhaft wichtige Grund- und Freiheitsrecht in einem demokratischen Staat zu nehmen, die Berufsfreiheit zu beschneiden, nagt an den Grundfesten eines Verfassungsstaates. Und wenn die eigene sozio-ökonomische Lage prekärer wird, sind die Konsequenzen kaum absehbar.

Die Schweigespirale

Elisabeth Noelle-Neumann, die Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, hat in den 1960er Jahren die Theorie der Schweigespirale entwickelt. Deren Aussage ist, dass es immer eine schweigende Mehrheit gibt, die sich nicht traut, ihre Meinung zu sagen, wenn sie meint, sie sei in der Minderheit. Das kann bedeuten, dass zum Beispiel die Corona-Maßnahmen öffentlich von Bürgern befürwortet werden, insgeheim lehnen sie diese aber ab. Sobald die scheinbare Minderheit erkennt, dass sie gar keine Minderheit ist, kann das zu plötzlichen Verwerfungen führen, Missachtung der Corona-Beschränkungen, Demonstrationen und anderes mehr.

Der kanadische Journalist und Autor Malcolm Gladwell hat in seinem Buch "Tipping Point" beschrieben, dass es Situation gibt, wo scheinbar unbedeutende Ereignisse Gesellschafts-Verhältnisse plötzlich kippen lassen und eine ganz neue, nicht mehr beherrschbare Lage entsteht. Wir Deutschen müssten uns noch erinnern, als der SED-Spitzenfunktionär Günter Schabowski am Ende einer Pressekonferenz am 9. November 1989 meinte, ob die Grenze nach Westdeutschland geöffnet wird: "Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich." Diese beiläufige Bemerkung löste den Sturm auf die Mauer aus.

Wie viele Menschen also wirklich noch hinter den Corona-Maßnahmen stehen, sagen die Umfragen möglicherweise nicht genau. Das hat schon Sigmund Freund, basierend auf Gustave Le Bon (Psychologie der Massen) beschrieben. Denn Menschen schließen sich oft der Mehrheitsmeinung an, um sich in Gemeinschaft nicht isoliert zu fühlen, obwohl sie anderer Meinung sind.

Die Politik diskutiert diese Möglichkeiten nicht öffentlich, wahrscheinlich aber doch hinter verschlossenen Türen. Noch ist die Rettung jedes Coronainfizierten höchste politische Priorität, während andere Kranken derzeit vernachlässigt werden, die wahrscheinlich diese Aufmerksamkeit auch gerne hätten - Hunderttausende von Operationen sind aufgeschoben worden.

Was würde nun geschehen, wenn der Schaden durch Corona die Wirtschaft so sehr trifft, dass Deutschland (und Europa) in eine Rezession geraten würden, die Ausmaße annimmt vergleichbar der Situation wie 1929 oder sogar noch ernster? Müsste man Corona-Einschränkungen dann aufheben mit dem Risiko, dass mehr Menschen in Deutschland an Corona sterben als bisher, um so die Wirtschaft zu retten?

Ausgeblendete Krisenszenarien

Die Konzentration nur auf die Corona-Infizierten hat dieses Krisenszenarium ausgeblendet, pragmatische Methoden im Umgang mit dem Virus verhindert, wie der Virologe Hendrik Streeck angemahnt hatte. Sozio-ökonomische Katastrophen werden zwar nicht ausgeblendet, aber nicht intensiv in ihren Auswirkungen diskutiert. Was aber geschieht, wenn die Wirtschaft weiter absackt, immer mehr Haushalte ihre finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen können, die Banken auch nicht mehr bereit sind, zu helfen oder das gar nicht mehr können?

Auch der Staat hat nur so viel Kredit, wie ihm die Wirtschaft, die Unternehmen, die Steuerzahler geben können. Fallen diese aus, dann wird auch der Staat kreditunwürdig. Zwar ist es soweit noch nicht, aber die Staatsverschuldung ist mittlerweile so hoch wie nie zuvor.

Corona zeigt deutlicher als der Finanzcrash von 2007/2008 und der Ansturm der Flüchtlinge 2015, dass die Politik kaum einen Plan hat, mit Krisensituationen umzugehen. Auch sehen wir, wie verletzlich das kapitalistische System ist, ähnlich verletzlich wie die Missernten in früheren Jahrhunderten, die die Menschen in Hungersnöte stürzten.

Wie die Landwirtschaft einen Ernteausfall nicht ohne weiteres kompensieren kann, ist auch eine Volkswirtschaft kaum in der Lage, mehrere Monate auf Sparflamme zu arbeiten, es sei denn, wir nehmen erhebliche Wohlstandverluste in Kauf, was zu nicht kalkulierbaren und unbeherrschbaren (negativen) Kettenreaktionen führen kann.

Keiner will das Schlimmste annehmen. Die Corona-Krise wäre aber die Möglichkeit, sich endlich einmal mit größeren Szenarien zu beschäftigen, die eine kapitalistische Wirtschaft treffen können. Die Frage stellt sich, ob unsere heutige Form des Kapitalismus' langfristig sinnvoll ist, wenn wir zum Beispiel an die Klimaerwärmung denken. Solch ein Umbau würde allerdings Jahre in Anspruch nehmen.

Zum Teil chaotische Informationen

Die Corona-Debatte zeigt leider, wie chaotisch zum Teil die Informationen sind, die verbreitet werden (auch für niedergelassene Ärzte). Dass jeder meint, er sei Experte, macht es für die Bevölkerung kaum durchschaubar, was wirklich der Stand des Wissens ist, welche Maßnahmen wirklich sinnvoll sind. Besonders das Massenmedium Fernsehen hätte hier eine Bringschuld. Jeden Tag Millionen von Zuschauern mit hohen Infiziertenzahlen zu beunruhigen (wer infiziert ist, steht nicht kurz vor dem Tod. Manche Menschen glauben das aber), löst keine Probleme, macht Angst und blockiert.

In der Krise ist die Zeit der Politiker gekommen, die eine klare Linie verfolgen, auch wenn sie Mängel aufweist und möglicherweise wenig pragmatisch ist. In Angst und dem Wunsch nach Sicherheit sehnen sich die Menschen nach dem starken Mann (oder Frau), der das Denken übernimmt, was schon Gustav le Bon wusste. Differenzierte Sichtweisen werden blockiert, Alternativen ausgeblendet.

Sind Methoden der Krisenbekämpfung einmal eingeführt, dann werden diese selten verlassen, sondern fortgeführt, auch wenn sie schaden. Das Phänomen kennen wir aus der Sozialpsychologie. Jemand, der sich für eine Sache entschieden hat, hält an ihr fest, selbst wenn es ein falscher Entschluss war, umso eher, wenn er ein hohes Ansehen hat. Denn er müsste ja eingestehen, dass er unrecht hatte, einen schlimmen Fehler gemacht hat. Es wäre dann äußerst peinlich, zurückrudern zu müssen.

Krisen sind eigentlich gute Voraussetzungen, die eigenen Szenarien, Methoden und Politiken zu überdenken, um sich auf anstehende Herausforderungen besser vorzubereiten. Aus der Finanzmarkt-, Euro- und Flüchtlingskrise wurde bisher allerdings wenig gelernt und kaum eine neue Politik entwickelt. Wie wird es nach Corona sein? Blicken wir zurück, bleibt wenig Hoffnung.