Corona als Religion

Im Land der Sünder, der Leugner und der Gläubigen: Die Ohnmacht der Menschen und die Allmacht der Seuche. Kommentar

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Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist. ... Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert 'noch' möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.

Walter Benjamin: "Über den Begriff der Geschichte", 1940

Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.

Walter Benjamin: "Kapitalismus als Religion", 1921

Noch immer gehen die Allermeisten davon aus, dass Corona einen klar begrenzten Ausnahmezustand markiert und nicht einen Kultur- und Ökonomiebruch. Noch immer glauben die allermeisten, dass wir irgendwann im nächsten Jahr wieder zu einem Zustand zurückkehren, der so sein wird, wie er bis zum Februar dieses Jahres gewesen ist. Da sollte man sich nicht so sicher sein. Zu fürchten ist vielmehr, dass wir, jedenfalls wir Erwachsenen, für den Rest unseres Lebens und die Gegenwart in eine Zeit "vor Corona" und "nach Corona" einteilen werden.

Dies sollten gerade jene sich bewusst machen, die sich selbst eher als Skeptiker verstehen. Damit sind nicht plumpe Ignoranten und Krankheitsherunterspieler gemeint, sondern die nicht wenigen, die zwar die Krankheit zur Kenntnis nehmen, die Reaktion darauf aber für heillos übertrieben halten. Und die die gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Folgen dieser Reaktion als schlimmer und gefährlicher einschätzen als die Krankheit, die hier bekämpft werden soll.

Die Reaktion von Regierenden und gesellschaftlicher Mehrheit verrät vor allem unsere Unfähigkeit, mit Gefahr und Risiko, auch gerade mit Todesgefahr und Gesundheitsrisiko angemessen umzugehen. Sie verrät unsere Fähigkeit zur Realitätsverleugnung und unsere Fähigkeit, uns die Dinge schönzureden.

Corona wird die allermeisten unserer gegenwärtigen Diskurse obsolet machen. Mindestens die Art, wie wir bisher über Dinge reden, teilweise die Themen selbst. Corona wird viele Fragen des Umweltschutzes, der Klimapolitik, der Gleichstellung der Geschlechter, der Diversität und einen Großteil ähnlicher Themen, mit denen wir uns durchaus mit guten Gründen, aber eben auch aus einer Luxusposition heraus, bislang die Zeit vertrieben haben, marginalisieren.

Im Land der Träumer, Phantasten und Corona-Gläubigen

Wir möchten weiter davon träumen, dass wir unsere Gesellschaft so erhalten können, wie sie vor Corona war. Selbst mit ihren Schattenseiten. Wir möchten nicht anerkennen, dass wir vor die Situation gestellt werden, mit dem Tod vieler Menschen umgehen zu müssen, und damit, dass unter diesen Toten auch Menschen sind, die wir kennen, die wir lieben, vielleicht wir selbst. Es mögen in Deutschland vergleichsweise wenig sterben, dafür anderswo umso mehr. Dies betrifft auch uns. Diese Tode zu akzeptieren, haben wir verlernt - ob dieses Verlernen aber ein Zivilisationsfortschritt ist, ist noch keineswegs ausgemacht. Das ist ein schwieriges Terrain.

Wir möchten uns stattdessen vormachen, dass es möglich sein könnte, mit möglichst strengen Hygiene- und Vorsorgemaßnahmen und medizinischen Maßnahmen und einem sehr harten, sehr unfreien Gesundheits-Regime die Krankheit zu vernichten und die Bedrohung zu tilgen. Wir möchten uns einreden, dass es möglich wäre, wenn man sich ein paar Monate "wirklich" zusammenreißt und "nur" paar Monate lang das gesellschaftliche Leben aussetzt, das Übel loszuwerden. Und dann könnte es ein für allemal weg sein.

Es ist nach meiner Auffassung eine puritanische Reinheits- und Asketismusphantasie, die nicht erst durch Corona entstand, sich aber nun hier auslebt.

Wir gefallen uns dann darin, alle möglichen Teile und Schichten und Gruppen der Gesellschaft - unserer eigenen, erst recht der der anderen - zu kritisieren, ihnen teilweise mit harten Polizei- und Bürokratiemaßnahmen zu drohen, bis hin zur Verhaftung, bis hin zu horrenden Geldstrafen, die jedes Maß sprengen. Wir nennen sie "Corona-Leugner" und begreifen doch nicht, dass wir selbst hier die Corona-Gläubigen sind.

Wir glauben an Corona wie an einen "Gott": an etwas, das von außen kommt, das ungleich viel mächtiger ist als wir selbst und das uns Gebote auferlegt, die wir treu zu befolgen haben, und dass wir dann dafür, dass wir sie treu befolgen, belohnt werden. Diejenigen, die die Gebote nicht befolgen, behandeln wir wie eine religiöse Sekte die Häretiker behandelt: Wir grenzen sie aus; wir ächten sie; wir nennen sie Sünder ("Corona Sünder"). Wir legen ihnen Strafen auf.

Am heftigsten aber und besonders wütend kritisieren wir diejenigen, die an den gleichen "Gott" glauben, die aber einer anderen Sekte angehören. Das heißt die, denen "Gott" sich ebenfalls offenbart hat, die aber auf die gleichen Gebote des "Gottes" mit anderen Maßnahmen reagieren (China, Schweden). Wir haben den unbedingten Wunsch nachzuweisen, dass wir richtig liegen und warum die anderen falsch liegen.

Wir freuen uns bis zu einem bestimmten Grad, wenn sie Misserfolg zu haben scheinen, wenn die Gnade unseres "Gottes" über uns mehr leuchtet als über den anderen. Wir freuen uns auch in gewisser Weise, dass unsere Freiheit eingeschränkt ist, dass wir endlich wissen, was zu tun ist, denn der "Herr hat uns eine Botschaft gesandt".

Was dabei mindestens übersehen wird, ist aber, dass der Gott des Alten Testaments wie der des Neuen Testaments ein strenger, strafender und ein rächender Gott gewesen ist. Mitunter sogar ein rachsüchtiger. Wir übersehen, dass dieser Gott nicht lieb und nachsichtig zu den Menschen ist. Dass er von Abraham verlangt hat, seinen Sohn Isaak zu opfern, dass er seinen eigenen Sohn gab und es zugelassen hat, dass dieser Sohn zu Tode gefoltert wurde und einen grausamen Tod gestorben ist - erst dann durfte er wiederauferstehen, und erst dann durfte er zum Leitstern einer neuen Religion werden.

Schon diese Liebe zum Leid, zur Folter und zum Tod sollte uns skeptisch machen gegenüber den religiösen Ansätzen unserer eigenen Umgangsweisen mit Corona.