COVID-19 und die Kapitulation des Schulsystems

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Kinder sind Kosten. Wir schleusen sie durch, irgendwie

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Über Verlierer in der COVID-19-Epidemie wird hier und da spekuliert, aber zweifellos gibt es sie: Da sind aber mal nicht die Kranken oder Toten gemeint, auch nicht die Autohersteller, Reiseveranstalter, Airlines, Gastronomen, Messebauer oder Clubbetreiber, sondern die am unteren Ende der Rangordnung: Alte, Abgehängte, Flüchtlinge, Slumbewohner, Arbeitssklaven, Leute, die ein Homeoffice nur vom Hörensagen kennen, das Heer der täglichen Malocher, die jeden Morgen die Züge, U-Bahnen und Busse bevölkern: mit oder ohne Corona.

Und hier und heute die Kinder, unser Nachwuchs. Und - ja - die vielgeschmähten Lehrer.

Marode Schulen, der Naturzustand

Die Schule erwirtschaftet keinen Gewinn, sie ist im Rahmen der kapitalistischen Logik ein Kostenfaktor. Und dementsprechend sieht es in den Schulen auch aus: Wie in verwahrlosten Enklaven, den vergessenen Räumen einer auf Wachstum und Rendite getrimmten Gesellschaft. Ausgenommen sind vielleicht Privatschulen und oftmals kirchliche Träger, die über andere Finanzierungsmodelle verfügen, als es in einer kommunalen Erziehungsanstalt üblich ist. Die aus Steuergeldern finanzierten Bildungsanstalten hängen einfach durch und Politiker tun so, als handle es sich bei dem maroden System um einen Naturzustand.

So schwafeln mitten in der Coronakrise die Verantwortlichen von "Digitalpakt", "Schule der Zukunft" und "verlässlichem Unterricht" und ziehen sich damit bequem-fahrlässig auf Euphemismen zurück, die nichts mit der Schulwirklichkeit zu tun haben.

Der Schulsektor befindet sich seit Jahren in einer systemgemachten Schrumpfung, erst recht in Zeiten chronisch knapper Kassen gibt es keine Gemeinwohlökonomie und keine Solidarität. Es ist eine ganz besondere Schande, wie mit den Kindern und Jugendlichen verfahren wird in dieser Krise. Wie brachial, dumm und rücksichtslos. Wie unintelligent.

Kinder sind Kosten

Kinder sind Kosten. Wir schleusen sie durch, irgendwie.

Ja, Kinder sind Kosten in diesem erfolgsgetriebenen System, das zeigt sich jetzt in seiner ganzen ungeschminkten Wirklichkeit. Die Kids mögen bewaffnet sein mit glänzenden Smartphones und einer modischen Kruste, aber sie produzieren nur Aufwand und erwirtschaften keine Gewinne. Und wenn Gewinne wegbrechen wie gerade in der Coronapandemie ist das doppelt lästig.

Da reden die öffentlichen Funktionsträger von Zukunft, Verantwortung und Übergang zu einem normalen Schulbetrieb. Wer da mitten drin steckt, sieht das im Herbst 2020 ganz anders. Die lieben Kleinen stecken frühmorgens in überfüllten Bussen, stapfen in unzulänglich gewartete Schulgebäude und finden sich, fein säuberlich getrennt nach Bundesland, in schlecht gelüfteten Klassenräumen wieder.

In vielen Schulen seit Jahren ein bekanntes Dilemma: Fenster, die (vorgeblich aus Sicherheitsgründen) sich nicht oder nur äußerst schwer öffnen lassen, nicht vorhandene Schlüssel, veraltete technische Infrastruktur, kaum Luftaustausch (und keine Ahnung, wie zu bewerkstelligen ...), lustlose Hausmeister, die mangels kommunaler Geldtöpfe technische und infrastrukturelle Probleme aus dem Ärmel beheben müssen, mangelhafte Vorrichtungen für Alles und Jedes.

In den Disziplinier- und Reproduktionsanstalten der Republik geht es erbärmlich zu.

"Einfach schrecklich - erklär mal!"

Es ist Nachmittag, ein ganz normaler Wochentag, 16:30 Uhr. Da, wo ich wohne, führt ein Fußweg hoch, den Kids um diese Zeit benutzen, wenn sie von der Schule kommen. Einen spreche ich an. Na, wie war's in der Schule, was macht Corona? Der Junge, um die 15, bleibt stehen, lädt seufzend seinen Schulrucksack ab und sieht mich an. "Einfach schrecklich!" ist die Antwort. Ich frage nach: "Schrecklich - erklär mal!" Dann sprudelt es aus ihm raus: "Wir sitzen da, keiner weiß, wie es weitergeht." - "Und, mit Maske?", frage ich. - "Das ist totaler Blödsinn", kommt es zurück, "morgens in den Bussen hängen wir eingeklemmt, alle aufeinander, was sollen da die Masken, wenn, dann stecken wir uns da schon an!"

Seine Mutter, erfahre ich noch, hat deswegen schon vorgesprochen, ohne Erfolg, die Busse sind überfüllt und alle müssen morgens hin und nachmittags wieder zurück. Dann greift der Knabe seinen Rucksack und dreht ab: "Ich muss weiter, Essen wartet ...". Man bleibt ratlos zurück.

Leersätze aus dem Antwortkasten

Bei Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hört sich das so an, hier im Focus-Gespräch Ende September:

Die Digitalisierung ermöglicht es, individueller auf die Schülerinnen und Schüler einzugehen. (…) Wir müssen alle Beteiligten auf den neuesten Stand der Pädagogik bringen. Als Bund fördern wir bereits Projekte (…). Die Länder müssen sich jetzt stark um die Lehrerweiterbildung kümmern.

Anja Karliczek

Ein Leersatz (nicht: Lehrsatz) aus dem Interview-Setzkasten ("die Digitalisierung ermöglicht ...") tritt an die Stelle realer Verhältnisse. Auf solche kraftlosen Möglichkeitssätze folgen wohlfeile Appelle, wer sich um was kümmern muss ("Länder müssen sich um die Lehrerweiterbildung kümmern", man muss "alle Beteiligten auf den neuesten Stand der Pädagogik bringen") - das ganze Interview verrät nichts außer Resignation und Ratlosigkeit. So kapitulieren Bildung und ihre führenden Köpfe vor dem Anspruch, eine moderne Gesellschaft fit zu machen für klar definierbare Herausforderungen, und um was es dabei geht, weiß man seit Jahren und mittlerweile Jahrzehnten sehr genau, einschließlich der Zeitachse, die Herumbummeln bestraft.

"Wir müssen die Dynamik jetzt mitnehmen", findet die Bildungsministerin (man glaubt seinen Ohren nicht zu trauen: Welche Dynamik?), Hektik sei aber fehl am Platz, fügt sie sogleich hinzu. Bildungsinstitutionen seien im Übrigen ein "Hort der Ruhe und der Sicherheit", man könne nicht alle Strukturen von jetzt auf gleich auf den Prüfstand stellen.

Das bleibt jetzt unkommentiert.

Schule und Corona, Herbst 2020

Nun zur aktuellen Lage, Schule und Corona im Herbst 2020. Beispiel Nordrhein-Westfalen (NRW): Nach Auskunft des Düsseldorfer Schulministeriums sind in NRW derzeit (Stand: 07.10.2020) mehr als 18.000 Schüler und etwa 1.700 Lehrer coronabedingt in Quarantäne. 0,9 Prozent Schüler von 2 Millionen. Bei einem Bruchteil werde am Ende eine tatsächliche Infektion nachgewiesen, heißt es.

In der NRW-Millionenstadt Köln gibt es aktuell an 33 Schulen Coronafälle. 753 Schüler und Lehrer befinden sich in Quarantäne, es trifft auch ganze Lerngruppen. Schulleiter betrachten das Geschehen mit zunehmender Sorge, nur wenige machen ihrem Unmut öffentlich Luft.

Stefan Behlau, Vorsitzender der Bildungsgewerkschaft (VBE) in Nordrhein-Westfalen, bringt die Stimmungslage auf den Punkt:

Expertenrunden und bereitgestellte Mittel ersetzen weder Lüftungsanlagen noch fehlende digitale Infrastruktur und schon gar nicht die an allen Ecken und Enden fehlenden Lehrkräfte.

Stefan Behlau

Masken statt Konzepte

NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) setzt bisher auf Masken. Was ist mit Konzepten? Zum Beispiel geteilte Klassen, die im Wechsel Präsenz- und Distanzunterricht haben. Was ist mit einem Anspruch auf Test, wenn man in Quarantäne landet? Wie soll es weitergehen mit den überfüllten Bussen? Was sagt man den besorgten Eltern, wer kennt die Nöte der Schüler und hört sie sich an? Mit welchem Ergebnis?

Es ist ein Jammer, was geschieht. Und mehr noch, was unterbleibt. Seit Beginn der Pandemie sind Monate verstrichen, viel verlorene Zeit für die Entwicklung von Konzepten. Zeit auch, die Betroffenen einzubeziehen: Eltern, Lehrer und Erzieher, und nicht zuletzt die Kids, unser "soziales Kapital". Nebenbei in der Regel lernwillige, neugierige Menschen mit Anspruch auf Zukunft. Mit dem Recht auf Fürsorge. Auf anständige Konzepte und menschenwürdige Zustände.

Fazit: Ein verheerendes Corona-Zeugnis

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für Focus Online und NetMoms stellen die Eltern den Schulen ihrer Kinder ein verheerendes Corona-Zeugnis aus. Während die Kids selber technisch hochgerüstet sind, sagen zwei Drittel der Eltern: Die Schule meines Kindes ist nicht gut genug für das Unterrichten von Zuhause aus ausgestattet. Nur jedes fünfte Elternteil hält die technisches Ausstattung an der Schule für ausreichend.

Ergo, man kann dem Resümee aus der Civey-Umfrage nur zustimmen, das der Focus zieht: Das deutsche Bildungssystem hat während des Corona-Homeschoolings kollektiv versagt. Ernüchterndes Fazit:

Die Schulen sind zu Digitalunterricht technisch nicht in der Lage, die Lehrer pädagogisch nicht (…) Beim Homeschooling ist dem deutschen Bildungssystem die verschlafene Digitalisierung krachend auf die Füße gefallen.

Focus

Bleibt zu guter Letzt bloß noch hinzuzufügen: Corona bringt es an den Tag.