Spahn: Corona ist ein "Charaktertest für die Gesellschaft"

Deutsche Katastrophenpädagogik, "Gesinnungsfolklore" und Rücksicht. "Wo wollen wir hin?"

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Wie viel Macht hat eigentlich die "Merkel-Diktatur"? Es scheint nicht weit her mit der unterstellten Machtfülle. "Kakophonie und Unruhe" angesichts rasch steigender Infektionszahlen, beschreibt Le Monde den augenblicklichen Stand der Corona-Politik in Deutschland.

"Strategie immer weniger lesbar"

Die Strategie der deutschen Regierung und Behörden werde "immer weniger lesbar", so der Deutschland-Korrespondent. Dabei sei das Land doch bislang gut durch die Krise gekommen: Neben den steigenden Infektionszahlen gebe es nur eine relativ kleine Zahl von ernsthaften Erkrankungen und Todesfällen.

Doch der deutsche Föderalismus, die fehlende Abstimmung, eine Folge widersprüchlicher Anweisungen zwischen der Zentralregierung und den Ländern, dazu die Rivalitäten zwischen den Ländern ("das liberale Berlin" gegen "das disziplinierte München") und der Wettbewerb unter den Kandidaten zur Nachfolge Merkels führen zum Durcheinander.

"Aus Erfahrung dumm"

In der NZZ wird das schärfer zugespitzt: "Wird Deutschland aus Erfahrung dumm?", kommentiert die Schweizer Zeitung das Wirrwarr an Regelungen, etwa bei den Reisebeschränkungen innerhalb Deutschlands, "das Bürger in die Verzweiflung treibt". Es grassiere eine Art Verwaltungsfieber bei gleichzeitig auftretenden institutionellen Erschöpfungszuständen, sorgt sich der Berlin-Korrespondent der Zeitung, der naheliegenderweise besonders Berlin aufs Korn nimmt. Dort erkennt er besonders viel "Gesinnungsfolklore und wenig Kompetenz für pragmatische Lösungen".

Als Beispiele nennt er die Schulen, die keine Anweisungen hätten, was im Notfall zu tun sei, wenn Corona-Fälle gemeldet würden. Außerdem würden Superspreader-Events nicht unterbunden, genauso wenig der Partybetrieb. Angeführt wird auch, dass die grüne Bürgermeisterin von Kreuzberg aus ideologischen Gründen, die Hilfe von Bundeswehrsoldaten bei der Kontaktnachverfolgung in ihrem Bezirk ablehne.

Ein "bisschen Feiern mit Abstand zueinander"

Doch ist bei dem NZZ-Korrespondenten auch eine politische Voreinstellung wahrzunehmen, die von folkloristischer Anti-Links-Gesinnung nicht unberührt ist. Wird es konkret, so gibt es etwa vom Fraktionschef der Linken, Carsten Schatz, im Berliner Senat Aussagen, die nicht ganz zum Big Picture des NZZ-Kommentars passen. Schatz sagt zur Debatte von seiner Seite, dass es nicht nur um schärfere Maßnahmen gehen kann, "sondern um wirksamere".

Ein "bisschen Feiern mit Abstand zueinander" sei nicht das Problem, nur eine von 20 Infektionen finde draußen statt. Problematisch sei das Verschwinden von Abständen durch Alkoholkonsum (…"Und dann das Knutschen"). Das pure Alkoholverbot sei aber teilweise vor Gericht gescheitert. Zum Einsatz der Bundeswehr als Hilfe zur Nachverfolgung von Corona-Infizierten äußert er eine persönliche Einschätzung jenseits der Parteilinie. Ihm seien Soldaten in der Bezirksverwaltung, um Infizierte zu kontaktieren, lieber als in Mali, weil der Einsatz in dem Berliner Bezirk "Katastrophenschutz" sei.

Wo wollen wir hin? Zustimmung der Bevölkerung?

Je genauer man die Einzelheiten von Entscheidungen beleuchtet, desto schwieriger werden sie (siehe z.B. auch das Beherbungsverbot, das weitere finanzielle Belastungen für das Hotelgewerbe und absurde Situationen mit sich bringt) - es sei denn man hat eine ideologische Schablone. Zwischen den Polen "alles eine Hysterie" und "die Katastrophe droht" gibt es die Einschätzungen von moderaten Stimmen wie dem oft genannten Bonner Virologen Hendrik Streeck, der davor warnt, nur auf die Infektionszahlen zu schauen und die Hoffnung auf einen Impfstoff dämpft, wonach er die Lage grundlegend verändern könne, weil das Virus weiter bei uns sein wird. "Wo wollen wir eigentlich hin?", fragte er kürzlich in einer Talkshow.

Letztlich geht jede Maßnahme nur mit Zustimmung der Bevölkerung, so Carsten Schatz. Dazu hat nun Gesundheitsminister Spahn eine eigenartige Messlatte ausgegeben. Er macht den Umgang mit dem Corona-Virus zum Charaktertest:

Das ist ein Charaktertest für die Gesellschaft. Es liegt an uns allen, ob wir es schaffen. Wenn 80 Millionen mitmachen, sinken die Chancen des Virus' gewaltig.

Jens Spahn

Dass man in Deutschland gerne mit Moll-Tönen agiert, und sich Angst hierzulande gut verkauft, beobachtete der Politologe Kurt Sontheimer schon Ende der 1990er-Jahre als Phänomen: "Angst ist im öffentlichen Leben der Bundesrepublik immer präsent". Er verwies in seinen "Anmerkungen zur politischen Kultur in Deutschland"1 auf eine Kritik des Journalisten Erich Wiedemann von 1988, wo sich dieser gegen die verbreitete "Katastrophenpädagogik in der deutschen Informationsgesellschaft" wendet.

Das Neueste ist da nicht besser geworden. Skeptiker sagen, dass für die Deutschen zähle: "Was nicht verboten ist, ist erlaubt", auch das hat einen pädagogischen Unterton, als ob man es mit lauter Kindsköpfen zu tun hätte. Pragmatisch geboten ist für eine kooperative Gesellschaft, die Risikogruppen gezielt und so gut wie möglich zu schützen. Am besten durch selbstbestimmte Verhaltensweisen, die mehr Rücksicht kennen, als es die zum Teil hochaggressiven ideologischen oder auf "Besserwisserei" setzenden Kommentare zur Epidemie zeigen.

"Wo wollen wir eigentlich hin?" Zu einem zivilisierten Handeln in einer Kultur, die mit Geboten auskommt.