Maaßen zum Breitscheidplatz-Anschlag: Alle haben Schuld, nur der Verfassungsschutz nicht

Ex-Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen vor Beginn seiner Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss. Bild: DBT/Simone M. Neumann

Die Vernehmung des früheren BfV-Präsidenten im Untersuchungsausschuss des Bundestags zeigt immerhin, dass die Causa Amri ganz oben angesiedelt war

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Die Frage sei nicht mehr, ob der frühere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Parlament und Öffentlichkeit belogen habe, sondern: Warum. Das sagte die Abgeordnete der Linksfraktion im Bundestag, Martina Renner, im Rahmen der Fraktionsstatements vor Beginn der Sitzung des Untersuchungsausschusses gegenüber der Presse.

Nach dem Anschlag vom 19. Dezember 2016 hatte Hans-Georg Maaßen mehrfach erklärt, Anis Amri, in offizieller Lesart der Attentäter, sei ein "reiner Polizeifall" gewesen, der Verfassungsschutz sei höchstens am Rande mit ihm befasst gewesen. Diese Darstellung pflegen BfV-Verantwortliche im Grundsatz bis heute. Im Ausschuss dagegen herrscht weitgehende Einigkeit, dass die These vom reinen Polizeifall "komplett widerlegt" (Fritz Felgentreu, SPD) sei.

Damit war die Front gezogen, entlang der Maaßen vernommen werden sollte. Das Grundproblem ist allerdings: Der Ausschuss kann inzwischen zwar darlegen, wie der Anschlagskomplex Breitscheidplatz und seine Hintergründe nicht waren. Aber wie es sich tatsächlich abgespielt hat, das bleibt im Dunklen. Und zwar nicht zuletzt auch dadurch, dass den Abgeordneten verweigert wird, Führungsbeamte von V-Leuten in der Szene zu vernehmen.

Das lässt den Geheimen Spielraum. Und Maaßen nutzte ihn in geradezu schamloser Weise. Dazu gehörten zunächst sogar Aussagen aus seiner politischen Agenda. Er verknüpfte islamistisch motivierten Terrorismus mit der Flüchtlingsbewegung und erklärte vor allem muslimische Männer zu einem Sicherheitsrisiko.

Mit Flucht, offenen Grenzen und dem Recht auf Schutz und Asyl hatte der Anschlag vom Breitscheidplatz in Berlin nichts zu tun. Die Tätergruppierung bestand nach allem, was man inzwischen weiß, mutmaßlich aus einem "deutschen" Teil in und um die Berliner Fussilet-Moschee sowie einem "ausländischen, tunesischen" Teil professioneller reisender Dschihadisten. Hinzu kommt ein bislang unbekannter dritter Teil von Personal des Sicherheitsapparates.

Maaßen, in Desinformationspolitik geübt, operierte im Ausschuss nach dem Motto "Haltet den Dieb!" und verteilte umfangreich Schuldzuweisungen an andere Stellen. In einer Mischung aus Wahrem und Unwahrem proklamierte er in rhetorischer Weise: Wie habe es sein können, dass sich Amri in Italien nach seiner Haftentlassung frei bewegen konnte; dass er dann nicht aus Deutschland nach Italien zurückgeschoben wurde; dass er nicht in Abschiebehaft kam; dass keine räumliche Aufenthaltsbeschränkung für ihn verhängt wurde; dass man hinnahm, dass sich Tunesien mit der Ausstellung der Papiere Zeit ließ; dass nicht der Botschafter des Landes einbestellt wurde; dass Amri nicht verboten wurde, ein Smartphone zu benutzen; dass Amri nicht in Haft genommen wurde; dass er am 19. Dezember 2016 noch in Deutschland gewesen sei. Das mache ihn fassungslos.

Maaßens Fazit: Der Anschlag sei vermeidbar gewesen

Vermutlich hat er sogar Recht, wenn auch in anderer Weise als von ihm proklamiert. Denn hinter der offiziellen Geschichte vom angeblich falsch eingeschätzten Attentäter gibt es eine andere, in die auch seine Geheimdienstbehörde involviert ist.

Über Anis Amri sowie andere nominelle Islamismusfiguren wurde wiederholt versucht, eine schützende Hand zu halten. Etwa beim Mitbewohner Kamel A., beim Namensvetter Soufiane A. oder beim Moschee-Vertreter Emrah C. Solcherart Fürsorge galt noch nach dem Anschlag, wofür besonders die Abschiebung des Tatverdächtigen Bilel Ben Ammar steht.

Er habe mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, wie schnell Ben Ammar abgeschoben wurde, erklärte Maaßen. Eingebunden gewesen sei das BfV nicht. Ob das Amt zu Ben Ammar für die Anschlagsermittlungen Erkenntnisse beigesteuert hat, konnte sein Ex-Chef nicht sagen. Vielleicht hätte man noch weiterermitteln können, meinte er nur. Er wollte seine Verwunderung aber nicht als Kritik an etwaigen Vertuschungen verstanden wissen, sondern eher als Beispiel, wie man auch mit dem Fall Amri hätte umgehen sollen.

Dabei können die realen Tatsachen durchaus eine konspirative Logik entfalten: Potentielle Terroristen, denen man bis zum Anschlag Bewegungsfreiheit bescherte - und die man nach dem Anschlag schnell außer Landes brachte. Die zweite Aktion hätte helfen sollen, die erste zu verschleiern.

Obwohl das BfV nichts mit Amri zu tun gehabt haben will, ist sein ehemaliger Chef ganz im Sinne der Ermittlungsbehörden der Ansicht, Amri habe die Tat alleine begangen. Ob er aber Unterstützer oder Mittäter in Deutschland gehabt habe, das wiederum wisse das BfV nicht, das könnten nur die Strafverfolgungsbehörden beurteilen.

Maaßens Motto: Nichts wissen und doch wissen, wie es war und wie es nicht war

Im Januar 2016 war das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nachweislich zum ersten Mal mit Anis Amri befasst. Es stellte für Sicherheitsbehörden ein internes sogenanntes Behördenzeugnis aus, mit dem die Herkunft von Informationen des Landeskriminalamtes (LKA) Düsseldorf verschleiert werden sollte. Darin ging es auch Bilel Ben Ammar und Habib Selim. Unterzeichnet von BfV-Chef Maaßen.

Wie für andere BfV-Mitarbeiter war der Vorgang auch für Maaßen "ungewöhnlich", wie er erklärte. Quellenverschleierungen durch Behördenzeugnisse gehören zum Tagesgeschäft, hier jedoch seien die Informationen vollständig von anderen Behörden gekommen. Das BfV habe keine eigenen Erkenntnisse gehabt. Ein "besonderer Fall" deshalb, weil er keinen zweiten dieser Art kenne.

Allerdings legte das BfV zeitgleich ein Akte zu Amri an, wie zu anderen Islamisten auch. Islamistischer Terrorismus habe für ihn "Toppriorität" gehabt, so Maaßen. Er habe sich regelmäßig unterrichten lassen, habe die Hauptakteure kennen wollen, jeden Freitag sei ihm eine tapetengroße Übersicht über alle operativen Quellen und Sachverhalte mit Gefährdern vorgelegt worden.

Seltsam nun, dass Amri, vor dem doch mittels Behördenzeugnis gewarnt wurde, nicht darunter gewesen sein soll. "Polizeifälle" hätten sie nicht behandelt, so Maaßen wieder. Unklar ist, ob die Fälle Ben Ammar und Selim darunter waren. Ihnen wurden Kontakte zum Islamischen Staat (IS) nachgesagt. Ben Ammar wurde in der Szene als "Nachrichtenmittler" (eine technische Quelle) eingesetzt.

Das BfV war auf seine Weise am Verfahren gegen fünf Beschuldigte der DIK-Moschee in Hildesheim beteiligt, denen vorgeworfen wird, den IS unterstützt zu haben. Darunter Abu Walaa, Boban S. oder Hasan C. Das BfV hatte in dem Kreis mindestens drei Spitzel im Einsatz. Anis Amri wurde dabei mit erfasst und galt als einer der gefährlichsten in der Gruppierung. Trotzdem wurde er nie in das Strafverfahren einbezogen. Bis heute ist nicht klar, warum eigentlich nicht. Auch er wurde wie Ben Ammar als sogenannter "Nachrichtenmittler" abgehört. Mit welchem Ergebnis, weiß man bisher ebenfalls nicht. Im Staatsschutzverfahren vor dem Oberlandesgericht Celle sollen die mittels Amri gewonnenen Erkenntnisse keine Rolle spielen.

Auf Fragen der Abgeordneten Martina Renner wollte Hans-Georg Maaßen nicht ausschließen, dass die Namen Abu Walaa oder Boban S.[...] in Besprechungen im Haus gefallen sind. Jedenfalls sei "Hildesheim" für das BfV ein wichtiger Fall gewesen. Als die Abgeordnete nachfragte, warum denn das BfV überhaupt damit befasst war, da der Fall doch ebenfalls als "reiner Polizeifall" gegolten habe, zog Maaßen die Notbremse: Er sei für seinen Auftritt auf diesen Fall nicht vorbereitet.

Das ersparte ihm obendrein Erklärungen zu weiteren Widersprüchlichkeiten. Zum Beispiel, dass der Hildesheim-Angeklagte Boban S. und Amri ein enges Verhältnis hatten. Amri hatte bei S. übernachtet, besaß einen Schlüssel zu dessen Moschee in Dortmund und warnte ihn als einen der ersten, als er im Februar 2016 in Berlin von der Polizei kontrolliert worden war. Also Boban S. ein Fall fürs BfV, Anis A. aber nicht? Schulterzucken beim Ex-Geheimdienstchef.

Am 2. November 2016 wurde die Causa Amri im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehr-Zentrum (GTAZ) zum letzten und insgesamt dreizehnten Mal verhandelt. Dabei wurde das BfV "beauftragt", Hinweise eines marokkanischen Dienstes auf die Gefährlichkeit Amris zu überprüfen. An den Vorgang knüpfen sich mehrere Merkwürdigkeiten: Warum ein Nachrichtendienst, wenn Amri doch ein "Polizeifall" war? Warum nicht der Auslandsdienst BND? Und schließlich: Warum wandte sich das BfV nicht, wie besprochen, an den marokkanischen Dienst, sondern an einen US-amerikanischen Dienst? Unklar ist bisher, ob das erst nach dem Anschlag geschah.

Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen)/MdB: Das BfV hat also absprachewidrig gehandelt?
Hans-Georg Maaßen/Zeuge: Das war natürlich mit mir nicht abgesprochen.
Von Notz/MdB: Warum natürlich? Sie haben doch erklärt, der Typ hätte nicht mal einreisen dürfen. Hätte Ihnen berichtet werden müssen, dass nicht in Marokko nachgefragt wurde, sondern bei den Amerikanern?
Maaßen/Zeuge: Bei Operativ-Runden werden mir Fälle vorgetragen ...
Von Notz/MdB: Was war am Fall Amri ...
Maaßen/Zeuge: Bitte lassen Sie mich ausreden! Polizeifälle wurden mir nicht vorgetragen.
Von Notz/MdB. Was war am Fall Amri ... Maaßen/Zeuge: Lassen Sie mich doch ausreden! Amri war ein Fall der Polizei Nordrhein-Westfalen, dann der Polizei Berlin, dann wieder NRW. Der GTAZ-Auftrag ans BfV hieß nicht, dass es ein Verfassungsschutz-Fall war. Insofern war er nicht berichtspflichtig gegenüber der Amtsleitung. Das erschien mir plausibel. Fraglich ist nur, warum das BfV den Auftrag mit nach Hause nahm und nicht der BND.
Von Notz/MdB: Was war am Fall Amri ab September 2016, als alle polizeilichen Überwachungsmaßnahmen ausliefen, noch Polizeifall? Er war einfach noch "Gefährder". Die Sache mit der Kalaschnikow war weg, es gab keinen Polizeivorgang mehr. Oder etwa doch?
Maaßen/Zeuge: Schauen Sie. Wenn die Polizei ihn als "Gefährder" behandelt, liegt die Federführung bei der Polizei. Beim Nachrichtendienst liegt sie, wenn die Polizei so entscheidet.

Dass das BfV die Causa Amri nicht beim marokkanischen, sondern bei einem US-amerikanischen Nachrichtendienst angesprochen hat, war bisher nicht bestätigt. Das hat der frühere BfV-Präsident erst jetzt im Eifer seiner Zeugenbefragung unfreiwillig eingestanden. Doch damit sind weitere Fragen aufgeworfen: Warum wandte sich das BfV an einen Dienst der USA? Gibt es dort spezifisches Wissen über Amri? Oder spezifisches Wissen über den Anschlag? Denn auch diese Frage stellt sich, wenn der Informationsbeschaffungskontakt nach dem Anschlag stattgefunden haben sollte. Und last but not least: Wie lauteten die Antworten aus den USA?

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