US-Wahlen: "Ausgang ist trotz allem offen"

Bild: Donald Trump: The White House (2020) / Bild Joe Biden: Gage Skidmore (2020) / CC-BY-SA-2.0

Roland Benedikter über die verfahrene politische und mediale Situation in den USA und die Wahl zwischen Pest und Cholera

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In drei Wochen wird in Amerika gewählt. Die Situation ist verwirrend. Corona, brennende Straßen und Plünderungen, tägliche Proteste und der gnadenlose politische Kampf, in dem auch die Medien kompromisslos mitwirken, sorgen für ein unübersichtlicheres Bild denn je. Man hat den Eindruck von Instabilität, verbunden mit Zerrissenheit und Verbissenheit.

Roland Benedikter: Ja, diese Art des politischen Kampfes mit Dialogverweigerung sowie die offene Parteinahme praktisch aller Medien, einschließlich "Qualitätsmedien" wie CNN oder New York Times, hat die Hoffnung der Bürger auf objektive Information auf der Grundlage verlässlicher Fakten zerstört. Und damit auch die Grundlage für sachliche, inhaltsorientierte Entscheidung durch den Wähler. Wenn Sie so wollen, ist schon das ein Sieg Trumps. Er hat die durchgängige Politisierung auch der Faktenproduktion durch alle Seiten in den Köpfen der Amerikaner verankert - auch derer, die ihn ablehnen.

Das Ergebnis ist Zorn über den Zustand von Gesellschaft und Politik - auf allen Seiten…

Roland Benedikter: Wir haben eine Situation, wie wir sie so in Amerikas Geschichte noch nie hatten. Die Zeit der großen Hoffnungsträger und Ideale ist bis auf weiteres vorbei. Man ist auf allen Seiten radikalisiert, vor allem unter den jüngeren Parlamentariern und Wählern, wählt aber zwischen den beiden ältesten Kontrahenten der Geschichte. Viele Amerikaner sind desillusioniert und sehen einen Kampf zwischen Pest und Cholera. Sie finden beide Kandidaten nicht geeignet, um in den kommenden Jahren substantiellen Fortschritt zu generieren und dazu die Lager aufeinander zuzubewegen - sowohl persönlich wie wegen ihrer politischen Geschichte.

Inwiefern hängen beide zusammen?

Roland Benedikter: Trump war zuerst Demokrat und Freund der Clintons, die Töchter Ivanka Trump und Chelsea Clinton engste Freundinnen, bevor er aus Opportunismus Republikaner und der Todfeind seiner ehemaligen Freunde wurde, die auf seiner Hochzeit tanzten. Biden hat meist wie ein Republikaner abgestimmt und dabei fehlende Rhetorik bewiesen. Er macht das oft mit einer Art Hinterhof-Schlägerauftrittsart wett und ist dabei in der Begegnung mit Frauen wenig politisch korrekt. Seine 47-jährige Geschichte als Washington-Politiker weist wenige Glanzlichter auf, mit denen er sich hätte als wegweisend profilieren können. Er hat meist gegen den Verlauf der Geschichte gestimmt. Trotz aller Fehler Trumps ist der Wahlausgang deshalb nach wie vor offen.

Aktuell liegt in den Umfragen Joe Biden klar vorne. Das war allerdings bei Hillary Clinton auch schon so. Wie ist das zu erklären?

Roland Benedikter: Trump liegt in den Umfragen zwar deutlich zurück. Aber zum Trump-Phänomen gehört ganz entscheidend, dass seine Wähler es in den Umfragen vorher (und nachher) nicht sagen, weil sie sich schämen oder aus anderen Gründen für sich behalten. Das relativiert die Umfragewerte, so wie wir es bereits bei Clinton gegen Trump 2015-16 gesehen haben.

Und: Seit Trumps Wahl am 8. November 2016 ist die Situation deutlich volatiler. Er hat Verhaltensweisen und Systemsicherheiten verändert, darunter die klassische Wählerträgheit in entwickelten Demokratien. Es kann in westlichen Demokratien nun "alles geschehen", wie der damalige französische US-Botschafter Gèrard Araud sagte, als Trumps überraschender Sieg feststand. Trump hat mit seiner (auch rhetorischen) "Umwertung aller Werte" die Idee der Demokratie an sich verschoben, ihre Wahrnehmung verändert - unter anderem die Idee ihrer Gründung auf Fakten und Wissenschaft. Darauf reagiert die Wählerschaft der Demokraten mit einer Mobilmachung, die vorher Trumps eingeschworener Unterstützerschaft vorbehalten war.

Das Gute ist, dass diesmal viele wählen dürften, die letztes Mal aus Antipathie gegen Clinton zuhause blieben - nicht aus Sympathie für Biden, sondern um eine zweite Amtszeit Trumps zu verhindern.

Zu dieser widersprüchlichen Situation kommt Ideologisierung…

Roland Benedikter: Viele Wähler verfolgen wegen der Polarisierung die Sachdebatte gar nicht mehr. Die Umstände sind ihnen zu schmerzhaft, aufwühlend oder anstrengend. Sie schlagen sich unabhängig davon auf eine Seite, auch weil es immer heißt: "Wir oder sie" und keine Kooperation zwischen den beiden Parlamentsparteien mehr besteht, sondern fast nur blinde gegenseitige Obstruktion. Das begünstigt die Rückkehr ideologischen Wahlverhaltens, dessen wichtigstes Ziel Vereinfachung ist.

Die Entsachlichung und Entinhaltlichung des Wahlkampfs wurde durch die erste Präsidenschaftsdebatte zwischen Trump und Biden auch dem letzten Wähler katastrophal deutlich. Eine solche Zuspitzung auf die 3 Ps des Populismus: Personalisierung, Provokation und Populismus hat es seit Einführung von Präsidentschafts-Fernsehdebatten in den USA 1956 (Eleanor Roosevelt gegen Margaret Chase Smith) noch nicht gegeben. Wobei sich beide Konkurrenten an unsachlichen Tiefschlägen kaum nachstanden.

Nun die Frage, die uns alle eigentlich am meisten interessiert: Wer wird gewinnen?

Roland Benedikter: Es gibt diametral entgegengesetzte Analysen, die meisten mit guten Argumenten. Die einen geben Trump verloren und sehen den Sargnagel in seiner Corona-Ansteckung - mit zuletzt wirren Statements unter Steroid-Einfluss, dass dies "ein Segen Gottes" gewesen sei. Differenzierter sieht dies Allan Lichtman, der einzige Analytiker, der bislang mit seinen Prognosen bei allen Voraussagen richtig lag und auch den Trump-Sieg 2016 prophezeite. Er erwartet in Anwendung seines Kriterienkatalogs "13 Schlüssel zum Weißen Haus", dass Trump diesmal verliert.

Die anderen dagegen sehen alles offen, trotz Corona. So wie die Einwohner von Vigo County, eines 107.000 Einwohner-Bezirks im US-Bundesstaat Indiana, die seit 1888 bis auf zweimal (1908 und 1952) immer richtig mit ihrer Wahl lagen: "ihr" Meistgewählter wurde stets US-Präsident. Hier liegt Trump klar vorne. Aus ihrer Sicht wirkt Biden oft senil und steht unter starkem Einfluss des radikalen Flügels seiner Partei. Das zeige sich in der Auswahl seiner Vize-Kandidatin Harris und in Programmen zur "Systemkorrektur". In der Tat sprechen sogar Anti-Trump-Medien wie CNN von einem "Wettrennen nach links" der Demokratischen Partei und ihrer Mitglieder, um Progressivität zu beweisen ("they try to outleft each other"). Sie warnen, dass eben das Biden den Sieg kosten könnte. Ich tendiere angesichts der Erfahrungen bei der letzten Wahl zu einem bis zuletzt offenen Rennen.

Das Verhalten von Donald Trump und Joe Biden ist problematisch

Donald Trump kennen wir mittlerweile ja, wie schaut es mit Joe Biden aus, wer ist dieser Mann? Und könnte er ein guter Präsident werden?

Roland Benedikter: Wohl ein ebenso "guter" wie Trump. An die intellektuellen und politischen Fähigkeiten eines Barack Obama oder Bill Clinton reichen beide nicht heran. Trump bedient sich seiner Regierung, um sie mittels Vorwahlentscheidungen für den Wahlkampf einzusetzen - was in dieser Weise unziemlich ist. Biden wählt extreme Sprache wie "Rassist", um sich abzuheben, wobei in der Vergangenheit gerade er durch rassistische Statements und Handlungen aufgefallen ist. Das verändert allerdings das gesamte Sprachklima der USA, wodurch indirekt Sprachgewalt legitimer wird. Damit hat Trump aktiv begonnen. Leider setzt Biden das mit seinem Anti-Trump-Sprachgebrauch fort. Das fördert die Radikalisierung von Sprache nun sowohl von rechts wie von links.

Auch das Verhalten beider Seiten ist problematisch. Trump hat dafür gesorgt, dass es Unruhen geben könnte, wenn er verliert, was völlig unamerikanisch ist. Das hat er bereits in nie dagewesener Weise 2016 gemacht, als er behauptete, wenn Clinton den Staat Pennsylvania gewinnen würde, hätte sie betrogen. Er hat den Staat 2016 dann deutlich gewonnen, was den Wahlausgang stark beeinflusste. Interessanterweise könnte genau der "swing state" Pennsylvania bei diesen Wahlen den Ausschlag geben, und hier liegt derzeit Trump vorne. Er kann für mehr Enthusiasmus sorgen als Biden, oft mit Lügen.

Biden dagegen weigert sich regelmäßig, genaue Angaben zu den Politiken der Demokraten zu machen, da er fürchtet, sie seien zu radikal. Er vertritt zum Teil Trumps Positionen, die er sich zu eigen gemacht hat - etwa betreffend seinen Slogan "Kauft amerikanisch!", was nur eine Variante von "Make America great again!" ist. Das fällt vielen auf. Biden ist eine widersprüchliche Mischung aus eigenen Positionen, die oft ähnlich wie jene Trumps klingen, und den diametral entgegengesetzten Positionen des Linksflügels der Demokraten, der zum Beispiel Immigration erleichtern, die Aufnahmezahlen von Flüchtlingen erhöhen und eine größere Rolle des Staates im Leben der Amerikaner (etwa bei Gesundheitsversorgung, öffentlichen Beiträgen und Stimulusprogrammen) will und für eine Reduktion oder gar teilweise Abschaffung von Polizeikräften eintritt.

Da ist er wieder, der Systemkampf…

Roland Benedikter: Die Methoden, um "unsere Ideale für Amerika" (Kamala Harris) durchzusetzen, sind ebenfalls problematisch - auf beiden Seiten. Trump hält an seiner paradoxalen Beweisführung fest: wer nicht einverstanden ist mit seinen zum Teil frei erfundenen Behauptungen, muss ihm das Gegenteil beweisen, was unmöglich ist, weil er den Beweis nicht annimmt. Er hat immer "alternative Fakten" parat und macht in seiner Selbstwahrnehmung nie Fehler, muss also auch nie etwas korrigieren. Er kennt keine Mitte und beschreibt ein Biden-Amerika schlichtweg als Apokalypse und Untergang. Das hat seine Nichte Mary L. Trump in ihrem Buch "Zu viel und nie genug" überzeugend aus seiner Kindheitsgeschichte heraus beschrieben. Im Grunde handelt es sich hier um Symptome eines ausgeprägten Narzissmus, der im Persönlichkeitskern angelegt ist.

Die Demokraten dagegen versuchen alles, um die Macht langfristig an sich zu reißen, zum Beispiel mit dem Vorschlag der Einführung einer Kongress-Kommission, die regelmäßig den Gesundheitszustand des Präsidenten und damit seine Amtsfähigkeit überprüfen soll. Dieses Gremium soll von beiden Parteien gleichermaßen besetzt werden und aus 16 medizinischen Experten sowie ehemals führenden Politikern bestehen. Das könnte faktisch die Einführung eines übergeordneten Prüfmechanismus von großer Macht darstellen, was von der Verfassung nicht vorgesehen ist.

Eine andere Idee der Demokraten ist das sogenannte "court packing", das heißt eine Nachwahl-Aufstockung des Höchstgerichts (supreme court) der USA mit dem Ziel, eine demokratische beziehungsweise linksliberale Mehrheit zu schaffen. Das wäre allerdings ein Bruch mit einer jahrhundertalten Konsens-Tradition, den obersten Gerichtshof bei 9 Mitgliedern zu belassen. Diese ständig neuen Ideen ungewöhnlicher Veränderung zeigen letztlich die Verzweiflung der Demokraten, das Ruder möglichst schnell und dauerhaft herumzureißen.

Höhepunkt im US-Wahlkampf sind immer die TV-Debatten: Zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten hat es bislang erst eine Debatte gegeben. Wie haben sich die beiden Männer geschlagen?

Roland Benedikter: Es war die katastrophalste Debatte in der Geschichte und eine verpasste Chance für beide. Es gab kaum Sachthemen, sondern fast nur persönliche Beleidigungen unter der Gürtellinie, eine "Rauferei im Schulhof". Von Trump ist man das gewohnt. Für Biden war es ein größerer Schaden, da er sich weitgehend ebenfalls auf diesem Niveau bewegt hat.

Kombination zwischen erbittertem Weltanschauungskampf und dem Einfluss satirischer Verzerrung

Es schaut aktuell so aus, als ob es keine weiteren Debatten mehr geben wird, bzw. in anderer Form. Welchen Einfluss wird das auf die Bürger haben?

Roland Benedikter: Es kann sein, dass es eine zweite Debatte am 22. Oktober geben wird, wenn Trumps Quarantäne definitiv beendet ist. Fernsehdebatten sind in den USA traditionell sehr wichtig und verschieben regelmäßig mehrere Prozentpunkte an Stimmen. Das kann in einer 50:50-Demokratie den Ausschlag geben.

Andererseits ist unter Trump der Ideologisierungsgrad so hoch und flächendeckend, dass es nur noch wenige "Neutrale" gibt, die man gewinnen könnte. Die meisten haben sich bereits auf der Grundlage eines "Weltanschauungskampfes" prinzipieller Natur entschieden, unabhängig von Sachthemen oder Tv-Performance. Das wurde durch die Medien selbst auf allen Seiten durch ständigen Alarmismus ("breaking news") und Apokalypse-Erwartungen von links gegen rechts (CNN, MSNBC) und rechts gegen links (Fox News) gefördert.

Fast genauso wichtig sind im Übrigen in der Fernsehdemokratie Amerika Satiresendungen, wie etwa "Saturday Night Live". Sie prägen mit ihren Karikaturen die Wahrnehmung der Kandidaten inzwischen entscheidend mit. Oft sind die Karikaturen sogar bekannter und beliebter als die Kandidaten selbst. Die Kombination zwischen erbittertem Weltanschauungskampf und dem Einfluss satirischer Verzerrung für den Wahlausgang mag skurril erscheinen. Sie ist aber ein Spiegel der Zustände einer Demokratie in Krise.

Bleiben wir beim Thema Einfluss: Welchen Einfluss hat Trumps Coronainfektion auf die Wahlen im November und deren Ausgang?

Roland Benedikter: Die Demokraten versuchen zwar, die Corona-Ansteckung auszuschlachten. Vergessen wir aber nicht, dass auch in Europa Spitzenpolitiker angesteckt wurden - auf EU-Ebene etwa die bulgarische Kommissarin für Forschung und Innovation, Mariya Gabriel. Auch Kommissionspräsidentin Von der Leyen war in Quarantäne. Ich glaube nicht, dass Corona allein die US-Wahl entscheiden wird, obwohl Analytiker davon ausgehen, dass begleitende Verschwörungstheorien wie etwa der "parasitäre" QAnon-Kult bei den Wahlen eine gewisse Rolle spielen könnten. Das zeigen die hohen Beteiligungszahlen an dieser wirren Theorie im Internet. Viele sind so verunsichert, dass sie glauben, alles habe einen doppelten Boden. Das Vertrauen in die bestehende Ordnung, ihre Identität und Transparenz ist gesunken. Allein das ist ein Zeichen des Niedergangs der US-Demokratie, der besorgt machen sollte.

Sie zitieren oft den französischen Politikwissenschaftler Alexis de Tocqueville, wenn es um die Grundsatzbetrachtung des heutigen Amerika geht. Was würde Tocqueville zur aktuellen Situation und zu den Perspektiven des Landes sagen?

Roland Benedikter: Tocqueville hat im achten Kapitel seines Werks "Über die Demokratie in Amerika" (1835-40) darauf hingewiesen, dass Amerika eine Republik ist, also auf Repräsentanten- und nicht Stimmenmehrheiten aufbaut. Seiner Meinung nach sind Republiken umso näher am Volk, also am demokratischsten und am wenigsten manipulierbar, je kleiner sie sind. Er spricht dabei von einheitlichen Republiken, nicht von Allianzen zwischen Republiken.

Despotie wirkt sich Tocquevilles Meinung nach in kleinen Gemeinwesen unmittelbarer auf alle Bereiche des Lebens aus. Sie wird direkter erfahren, daher werden Tyrannen auch eher in kleinen als in großen Gemeinwesen gestürzt. Deshalb sind kleine Gemeinwesen der "Ursprung und Hort der Freiheit". Dies wird geschmälert oder eingebüßt, je größer sie werden. Tocqueville verweist darauf, dass je größer eine Republik ist, und die USA sind sehr groß, desto schwieriger ist es, Eigendynamiken von Ideen im Zaum zu halten, weil diese sich verschieden kontextualisieren und durch die Teilnahme sehr vieler Menschen unabhängig von ihrem Gehalt an Fahrt gewinnen.

Große Republiken haben den Vorteil großer Macht, was günstigere Bedingungen für den einzelnen schafft, zum Beispiel billigere Güter. Sie haben aber den Nachteil, mit steigender Macht immer größere Dimensionen von Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten bewältigen zu müssen, was sie fehleranfälliger macht und den Realismus schmälert. Je größer das Gemeinwesen, desto schwieriger wird es, dauerhaft konsensuale Mehrheiten zu formen, und desto anfälliger wird es für Slogans und Vereinfachungen. Die Ambitionen und Ansprüche der einzelnen Bürger steigen proportional dazu, je größer die Macht einer Nation wird - was ihre innere Zerstrittenheit fördert.

Wörtlich schreibt Tocqueville: "Die Intensität der menschlichen Leidenschaften wird [in größeren Republiken] erhöht, nicht nur durch die Bedeutung des Ziels, das sie zu erreichen beabsichtigen, sondern auch durch die Vielzahl von Individuen, die gleichzeitig von ihnen beseelt sind. Jeder von uns hatte Gelegenheit zu bemerken, dass seine Emotionen inmitten einer mitfühlenden Menge weitaus größer sind als diejenigen, die er in Einsamkeit mit sich selbst empfunden hätte. In großen Republiken ist der Impuls der politischen Leidenschaft unwiderstehlich, nicht nur, weil sie auf gigantische Ziele abzielt, sondern weil sie von Millionen von Menschen gleichzeitig gefühlt und geteilt wird. Man kann daher allgemein behaupten, dass nichts dem Wohlergehen und der Freiheit des Menschen mehr entgegensteht als riesige Imperien."

Was heißt das für uns Heutige?

Roland Benedikter: Einiges von dem, was Tocqueville im 19. Jahrhundert am Werk sah, erkennen wir heute in den politischen Dynamiken der USA wieder. Ein Teil der Demokratietheorie ist mit dem aktuellen Zustand der USA überfordert. Deshalb tritt heute der neue Begriff des Maßstabs (scale) in die Politikanalyse ein: Sind die USA als offene Gesellschaft im Zeitalter von Digitalisierung und neuen Medien auf Dauer zu groß für ein Zweiparteiensystem? Es lohnt sich, Tocqueville mit Blick auf die Nachwahlzeit wiederzulesen: ob sie Erosion oder Neubeginn sein kann.

Roland Benedikter ist Forschungsprofessor für Multidisziplinäre Politikanalyse am Willy Brandt Zentrum der Universität Wroclaw-Breslau und Co-Leiter des Eurac Center for Advanced Studies Bozen. Stefanie Terzer ist Redakteurin bei RMI-Südtirol Journal Radio Network Bozen.

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