Russen sind Corona-müde und noch nicht impfbereit

Bild: Gamaleja-Zentrum

Die Zahl der Corona-Infizierten in Russland erreicht neue Rekordhöhen. Wladimir Putin hat die Registrierung des zweiten russischen Anti-Corona-Impfstoffes mit dem Namen EliVakCorona bekanntgegeben. Der Anti-Corona-Impfstoff "Sputnik V" soll Anfang Dezember zur massenhaften Impfung bereitstehen

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Am Mittwoch gab der russische Präsident Wladimir Putin bekannt, dass das Zentrum für Virologie und Biotechnologie "Vektor" im sibirischen Nowosibirsk den zweiten russischen Anti-Corona-Impfstoff mit dem Namen "EliVakCorona" registriert hat. Anfang August wurde bereits der russische Anti-Corona-Impfstoff "Sputnik V" registriert. Außerdem wird am Moskauer Tschumakow-Forschungsinstitut an einem dritten russischen Anti-Corona-Impfstoff gearbeitet.

Die russische Vizeministerpräsidentin Tatjana Golikowa erklärte, dass sie sich mit EliVakCorona hat impfen lassen. EliVakCorona wird zweimal im Abstand von 14 Tagen in einer Menge von 0,5 Milliliter in einen Muskel im Schulterbereich gespritzt. Golikowa sagte, dass es bei ihr weder nach der ersten noch nach der zweiten Impfung irgendwelche Begleiterscheinungen gab.

Nach Angaben von Golikowa sollen die ersten 60.000 Impfchargen von EliVakCorona "demnächst" zur Verfügung stehen. Nach Angaben des russischen Gesundheitsministeriums soll der Impfstoff EliVakCorona ab Anfang Januar zur allgemeinen Impfung in hoher Zahl bereitstehen. Der Impfstoff Sputnik V soll bereits Anfang Dezember zur massenhaften Impfung vorhanden sein. Der russische Gesundheitsminister Michail Muraschko erklärte Anfang Oktober, die Produktion von Sputnik V sei "in großem Maßstab" angelaufen. Im Handel gibt es Sputnik V jedoch noch nicht.

Weltweite Vermarktung

Westliche Medien kritisierten, die Registrierung des Impfstoffes Sputnik V in Russland sei überstürzt erfolgt. Weniger als 80 Personen seien in der ersten Testphase geimpft worden. Die russischen Behörden bestreiten nicht, dass die Testphase verkürzt wurde. Das wird mit "Gefahr im Verzuge" begründet.

Dass "Sputnik V" ein Reinfall wird, ist unwahrscheinlich. Zu groß wäre der Image-Verlust angesichts einer groß aufgezogenen Werbekampagne. Sputnik V wird bereits weltweit vermarktet.

Der russische "Fonds für strategische Investitionen", der führend an der Produktion und Vermarktung von Sputnik V beteiligt ist, erklärte, an der dritten Testphase, die Anfang August begann, würden sich auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi Arabien und "eine Reihe anderer Länder" beteiligen.

Nach Angaben des russischen Fonds wurden bisher eine Milliarde Chargen "Sputnik V" aus insgesamt zwanzig Ländern in Russland bestellt. Gemeinsam mit ausländischen Partnern sei man bereit, mehr als 500 Millionen Impfdosen im Jahr an fünf Länder zu liefern. Eine Steigerung der Produktion sei geplant. Wo die große Menge an Impfdosen produziert werden soll, ist bisher nicht bekannt.

Kommen Erfahrungen der 1950er Jahre wieder zum Tragen?

Die politische Großwetterlage ist ungünstig für eine weltweite, ungehinderte Vermarktung von Sputnik V. Doch schon zu Zeiten des Kalten Krieges zeigte sich, dass es Lösungen gibt. Als es Ende der 1950er Jahre nur ein von dem sowjetischen Forscher Michail Tschumakow entwickeltes wirksames Medikament gegen Kinderlähmung gab und die USA diesen Impfstoff aus politischen Gründen nicht übernehmen wollten, übernahm die in Österreich ansässige Pharmafirma Immuno das sowjetische Patent und passte den sowjetischen Impfstoff an westliche Standards an. So kam der sowjetische Impfstoff in den Westen.

Der Impfstoff wurde damals von der Sowjetunion "faktisch umsonst" abgegeben, sagt mit bitterem Unterton Aleksandr Ginsburg, Leiter der Forschungsgruppe, die den Impfstoff Sputnik V entwickelt hat, in einem Interview mit der Rossiskaja Gaseta.

Jahrzehntelange Erfahrung mit Impfstoffen

Sputnik V wurde vom Moskauer Gamaleja-Zentrum entwickelt. Mit der Entwicklung des Impfstoffes musste man nicht bei Null anfangen. Das Gamaleja-Zentrum hatte schon Impfstoffe gegen den MERS- und den Ebola-Virus entwickelt. Die Erfahrungen mit diesen Impfstoffen halfen bei der Entwicklung von Sputnik V.

Der neue Impfstoff "Sputnik V" arbeitet auf der Basis von Adenovirus-Vektoren. "Vektoren sind Träger, die genetisches Material von einem anderen Virus in eine Zelle abgeben können", liest man auf der Website des Gamaleja-Zentrums. "Dabei wird das genetische Material des Adenovirus, das die Infektion verursacht, entfernt, während ein Gen mit dem Code eines Proteins von einem anderen Virus eingefügt wird. Dieses eingefügte Element ist sicher für den Körper. Es hilft dem Immunsystem, zu reagieren und Antikörper zu produzieren, die vor der Infektion schützen."

Alexandr Ginsburg - Leiter der Sputnik-V-Forschergruppe am Moskauer Gamaleja-Institut. Screenshot: Rossija 24

Das Gamaleja-Forschungszentrum für Epidemiologie und Mikrobiologie wurde 1891 gegründet. Das Zentrum residiert in einem alten, zweistöckigen Gebäude im neoklassizistischen Stil im Nordwesten von Moskau. Am Eingang des Forschungszentrums hängen Steinreliefs bärtiger russischer Gelehrter, die Bedeutendes auf dem Gebiet der Epidemiologie geleistet haben. Man sieht das Porträt von Nikolai Gamaleja (1859 bis 1949), dem Gründer der russischen Mikrobiologie. Und man sieht den Kopf von Jewgeni Pawlowski (1884 bis 1965). Er entwickelte die Lehre über die natürlichen Reservoire von Krankheitserregern für Menschen. Als solche identifizierte er wildlebende Nagetiere und Vögel. Für seine Forschungen wurde Pawlowski 1958 mit der britischen Darwin-Wallace-Medaille ausgezeichnet.

Muskelschmerzen und Schwäche

Wladimir Putin, der sich selbst bisher nicht hat impfen lassen, berichtete Anfang August von der Impfung einer seiner beiden Töchter. Nach der ersten Impfung sei die Temperatur der Tochter auf 38 Grad angestiegen. Die Temperatur sei dann auf 37 Grad und schließlich am dritten Tag auf das Normal-Niveau gefallen. Dass es nach der Impfung Begleiterscheinungen gibt, berichtete auch der russische Gesundheitsminister Michael Muraschko. Er erklärte, bei 14 Prozent derjenigen, die sich freiwillig impfen ließen, habe es unangenehme Begleiterscheinungen gegeben, wie Muskelschmerzen, Schwäche und erhöhte Temperatur.

Sputnik V wurde zunächst an Mäusen, Schweinen und Affen getestet. Dann so berichtet die New Yorker Nachrichtenagentur Bloomberg, ohne Quellen zu nennen, habe das Gamaleja-Zentrum "hunderten" erkrankten Mitgliedern der russischen Elite eine Impfung angeboten. Die russische Nesawisimaja Gaseta zitierte diese Meldung kommentarlos.

Vereinzelt Kritik von russischen Medien an neuen Impfstoffen

In russischen Medien und von Organisationen im russischen Gesundheitssektor gab es kritische Fragen zu Sputnik V. Die "Assoziation der Organisationen für klinische Forschungen" kritisierte die Registrierung des neuen Impfstoffes Anfang August als "übereilt" und forderte in einem Brief an das Gesundheitsministerium, den neuen Impfstoff nicht eher freizugeben, bis die dritte klinische Testphase abgeschlossen ist.

Das russische Wirtschaftsmagazin Ekspert meinte, die normale Testzeit für neue Medikamente betrage zehn Monate, deshalb sei "unklar, welches Ergebnis man nach einem halben Jahr erwarten kann".

Impfen, ja oder nein?

Russische Medien berichten, dass die Menschen der Hygiene-Anweisungen müde sind und Schutzmaßnahmen wie Masken und Handschuhe nur nachlässig oder gar nicht mehr getragen werden. Auch der Autor dieser Zeilen hat derartige Beobachtungen gemacht.

Die Bereitschaft zu einer Anti-Corona-Impfung hält sich in der russischen Bevölkerung in Grenzen. Nach einer im August durchgeführten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM erklärten 42 Prozent der Befragten auf die Frage "Werden wir uns impfen lassen oder nicht?", "Ja, wahrscheinlich". 52 Prozent antworteten: "Nein, wir werden uns nicht impfen lassen."

Die Regierungszeitung "Rossiskaja Gaseta" befragte Aleksandr Ginsburg, den Leiter der Arbeitsgruppe, die Sputnik V entwickelt hatte. Ginsburg erklärte, er und seine Mitarbeiter hätten sich bereits impfen lassen. Vom Gesetz her sei das Impfen freiwillig, aber er könne nicht zulassen, dass seine Mitarbeiter sich im Kontakt mit dem Coronavirus infizieren. Die Reporterin fragte, ob der Impfstoff negative Auswirkungen auf die männliche Potenz habe. Der Forscher antwortete mit einem knappen "Nein".

In russischen Medien wird berichtet, dass bei einer massenhaften Impfung zunächst Lehrer und Ärzte geimpft werden sollen. Laut Gesetz sind Impfungen freiwillig. Aber es scheint, dass man bestimmte Berufsgruppen zur Impfung verpflichten will.

Neuer Anstieg bei der Zahl der Infizierten

Die neuen Impfstoffe kommen gerade zur rechten Zeit. Folgt man den offiziellen Angaben, dann steht Russland in diesen Tagen vor einer neuen Herausforderung. Nachdem die Zahl der Neu-Infizierten im Sommer stark zurückging, werden in ganz Russland seit Anfang Oktober neue Rekord-Zahlen von Corona-Infizierten gemeldet. Vergangene Woche lag die Zahl der Infizierten um 31 Prozent höher als in der Vorwoche. Am Dienstag wurden in ganz Russland 13.868 Neu-Infizierte gemeldet. Seit Beginn der Corona-Krise starben in Russland nach offiziellen Angaben 22.966 Personen an dem Virus.

Um einen erneuten Anstieg der Infektionszahlen zu bremsen, arbeitet ein Teil der Beschäftigten in Moskau - wie schon im Frühjahr - wieder von zuhause. Der Moskauer Bürgermeister hat angeordnet, dass in den Schulen nur die Schüler der Klassen 1 bis 5 unterrichtet werden. Die älteren Schüler sollen über das Internet unterrichtet werden. Menschen über 65 und Menschen mit chronischen Erkrankungen sind aufgerufen, zuhause zu bleiben. Einen Lockdown - wie im Frühjahr - will die russische Regierung möglichst verhindern, ganz ausschließen will sie diese Maßnahme aber nicht.