Gesichtslose und distanzierte Menschen

Soziale Distanzierung, Reduzierung der Kontakte und das Tragen der Mund-Nasen-Masken haben Auswirkungen, die nur dann realistisch einschätzbar sind, wenn einige zentrale Eigenschaften der Natur des Menschen ausreichend berücksichtigt werden - Teil 1

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I. Eine übersehene Pandemie

"Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Krankheit, die hierzulande immer häufiger auftritt und chronische Schmerzen verursacht - eine ansteckende, von der medizinischen Wissenschaft auch kaum erforschten Krankheit, die sich schneller ausbreitet, als die Immunität gegen sie aufgebaut werden kann, und die als eine der häufigsten Todesursachen in der zivilisierten westlichen Welt eingestuft wird. Eine Krankheit, die das Aufkommen anderer Leiden begünstigt, von Erkältungen über Depressionen und Demenz bis hin zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und Krebs. Diese Krankheit wäre mithin ein bedeutender Risikofaktor für andere häufige und tödliche Krankheiten. Zugleich wäre sie tückisch, denn viele Betroffenen wüssten gar nicht, dass sie an ihr leiden."

Angesichts der aktuellen Situation sollte jeder Leser der Antwort seine ganze Aufmerksamkeit schenken, die der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer gibt: "Diese Krankheit gibt es tatsächlich. Ihr Name: Einsamkeit."

Unterschätzte Gefahr

Sicherlich wird die ein oder der andere Leser an dieser Stelle ungläubig die Nase rümpfen. Zu sehr hat sich die Überzeugung verbreitet, der Mensch sei ein egoistischer Einzelkämpfer, im Kampf jeder gegen jeden ein unternehmerisches Selbst im Dauer-Wettbewerb mit den Mitbewerbern, so dass Einsamkeit eher als natürlicher Zustand und kaum als ein derart gesundheitsgefährdender Zustand angesehen wird. So sehr diese Überzeugung verbreitet sein mag und die Tatsache übersieht, dass der Mensch von seiner Natur aus ein hochsoziales Wesen ist, so sehr erscheint dies auch eine Erklärung, weshalb derzeit eine gesellschaftliche Diskussion über die Gefahr von Einsamkeit und sozialer Isolation kaum stattfindet.

Der Sachbuchautor Johan Hari bringt die Bedeutung von Einsamkeit in seinem Buch "Lost Connections" prägnant auf den Punkt: "Das Gefühl der Einsamkeit lässt ihren Cortisolspiegel so extrem in die Höhe schnellen, wie einige der beunruhigendsten Dinge, die einem je passieren können. Sich akut einsam zu fühlen, so fand das Experiment heraus, war wie das Erleben eines körperlichen Angriffs. (…) Es ist eine Wiederholung wert. Tief einsam zu sein schien genauso viel Stress zu verursachen wie von einem Fremden geschlagen zu werden."

Die Psychologin Julianne Holt-Lunstad von der Brigham Young University hat 70 Studien mit 3,4 Millionen Menschen für eine Metastudie zur chronischen Einsamkeit und sozialen Isolation in den USA ausgewertet. Ihre Schlussfolgerungen sind alarmierend:

Einsamkeit ist doppelt so schädlich wie Fettsucht.
Einsamkeit ist genauso schädlich wie 15 Zigaretten am Tag.
Einsamkeit ist genauso schädlich wie Alkoholmissbrauch.

Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob Menschen in einem Singlehaushalt wohnen, mit anderen zusammenleben oder verheiratet sind. Relevant ist letztlich die allgemeine soziale Integration, sprich, wie gut Menschen in ihr soziales Umfeld eingebunden und miteinander vernetzt sind.

Ein abschließendes vielsagendes Beispiel aus der Geschichte: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es nicht unüblich, dass Mütter ihre Kinder in der Regel nur einmal in der Woche einige Minuten lang besuchen durften, wenn diese im Krankenhaus behandelt wurden. Die immer wieder zu beobachtende Konsequenz: Wurden Kinder längere Zeit stationär behandelt, siechten sie an "Hospitalismus" dahin und starben zuhauf an unspezifischen Infektionen und Magen-Darm-Erkrankungen, die mit ihrer ursprünglichen Erkrankung in keinerlei Zusammenhang standen.

Die Studienlage zu gesundheitsgefährdenden Auswirkungen von Einsamkeit sprechen eine eindeutige Sprache: Auch wenn es dem Menschenbild einiger Zeitgenossen nicht entsprechen mag: Der Mensch ist zweifelsohne ein soziales Wesen. Ein Leben in Einsamkeit, das der Natur des Menschen widerspricht, hat entsprechend gravierende gesundheitsgefährdende Auswirkungen und verkürzt das Leben.

Ausmaß der Einsamkeit

Das Phänomen Einsamkeit hat besorgniserregende Ausmaße. Auch wenn die Studien über Einsamkeit zumeist auf subjektiven Aussagen basieren und somit mit etwas Vorsicht zu genießen sind, sind die Hinweise auf eine Ausbreitung der Einsamkeit zahlreich.

Soziale Isolation ist paradoxerweise gerade in unserer vernetzten modernen Welt zu einem Massenphänomen geworden. Die bereits zitierte Studie von Holt-Lunstad beziffert die Anzahl der US-Amerikaner über 45 Jahre, die an chronischer Einsamkeit leiden, mit sage und schreibe 42,6 Millionen. Jeder Dritte. In Großbritannien spricht man gar von einer "Einsamkeitsepidemie", insbesondere der älteren Generation. 1,2 Millionen Rentner gelten als "chronisch einsam". Eine halbe Millionen älterer Menschen verbringt fünf bis sechs Tage in der Woche, ohne einen anderen Menschen zu sehen oder zu sprechen. Als Reaktion auf dieses Massenphänomen hat Großbritannien nun ein Ministerium für Einsamkeit eingerichtet.

Einsamkeit ist aber nicht nur ein gravierendes Problem der älteren Generation. Junge Menschen fühlen sich ebenfalls einsam. In Frankreich leben 700.000 Personen zwischen 15 und 30 Jahren sogar in einer Situation sozialer Isolation. 60 Prozent dieser Menschen kommen sich nutzlos vor. Das entspricht gut sechs Prozent aller Franzosen in dieser Altersgruppe.

Ausbreitung und Ansteckung

Das Phänomen der Einsamkeit breitet sich aus. Julianne Holt-Lunstad betont, die Erfahrung der Einsamkeit der Menschen nehme zu. Bei einer Umfrage geben zudem 11 Prozent der Befragten an, sich einsam zu fühlen. Fast die Hälfte hat den Eindruck, die Einsamkeit nehme derzeit zu. In Deutschland leben zunehmend viele Senioren allein: Bundesweit sind es etwa 40 Prozent der Bevölkerung ab 65 Jahre.

Das Phänomen der Einsamkeit ist nachweislich ansteckend. Zu diesem Ergebnis kam eine aufwendige Studie. Dabei überträgt sich Einsamkeit nicht nur auf den nächsten Freund bzw. Bekannten, sondern auch auf den Freund/Bekannten des Freundes und sogar auf dessen Freund/Bekannten. Die Ansteckung der Einsamkeit kann also bis zu drei Verbindungen im sozialen Netzwerk nachverfolgt werden.

Eine der häufigsten Todesursachen

Einsamkeit ist also nachweisbar stark gesundheitsgefährdend, vergleichbar mit 15 Zigaretten täglich, sie betrifft einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft, ist ansteckend und last but not least eine der häufigsten Todesursachen.

Analysen von Todesursachen sind, wie man spätestens seit der Covid-Krise weiß, ein sehr komplexes Unterfangen. Entscheidend bei der konkreten Einschätzung der Gefährlichkeit von Einsamkeit ist die Fragestellung, wie stark sie die Wahrscheinlichkeit einer gefährlichen oder tödlichen Krankheit erhöht. Tatsächlich beweisen zahlreiche Studien, dass Einsamkeit diese Wahrscheinlichkeit erhöht. Eine Studie, die einen Beobachtungszeitraums von über 30 Jahren hatte, offenbarte, dass das Erkrankungsrisiko für jegliche Krankheit bei Erwachsenen, die in ihrer Kindheit und Jugend einsam waren, um ganze 158 Prozent höher lag, als bei Studienteilnehmern, die nicht an Einsamkeit gelitten hatten.

Daher ist es nicht überraschend: Einsame Menschen haben häufiger einen Herzinfarkt und leiden öfter unter Herzrhythmusstörungen, chronischer Herzschwäche, anderen Herz-Kreislauf-Störungen sowie Bluthochdruck. Einsamkeit vergrößert zudem die Wahrscheinlichkeit einer depressiven Erkrankung, von Demenz, Paranoia, Selbstmord und Alkoholismus.

Es kann kaum überraschen, dass Einsamkeit und besonders natürlich soziale Isolation auch die Wahrscheinlichkeit tödlicher Erkrankungen sehr stark erhöht, zum Beispiel steigt die Wahrscheinlichkeit an Krebs zu sterben bei sozialer Isolation um ein ganzes Viertel.

Eine breitangelegte Studie über einen Beobachtungszeitraum von neun Jahren kam zu dem Schluss, dass einsame Menschen in diesem Zeitraum mit einer ungefähr dreimal erhöhten Wahrscheinlichkeit verstarben. Einsame Menschen, die sich gesund ernährten hatten dabei eine höhere Sterbewahrscheinlichkeit als sozial eingebundene Menschen mit ungesundem Lebensstil.

Die bereits zitierte Metastudie von Holt-Lunstad, die 148 Studien mit mehr als 300.000 Probanden umfasst, untersuchte den Zusammenhang verschiedener Ursachen (Alkohol, Rauchen, soziale Isolation, Bluthochdruck etc.) auf die Mortalität. Das Ergebnis ist eindeutig: Wer weitgehend sozial isoliert lebt, hat ein doppelt bis dreifaches Risiko, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu versterben. Einsamkeit (soziale Isolation) war damit mit Abstand die Ursache, die den stärksten Einfluss auf die Mortalität hatte. Es ist daher nicht weit hergeholt, Einsamkeit vielleicht sogar als Todesursache Nummer 1 zu bezeichnen.

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