Aufgeblasenes Ego in Kombination mit einer bescheidenen Kompetenz

Der Dunning-Kruger-Effekt

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Wir sind in den meisten Dingen nicht sonderlich talentiert. Generell können Menschen davon ausgehen, dass sie im Normalbereich liegen; mag es um Kompetenz, Attraktivität, IQ, Körpergröße oder was auch immer gehen.

Wenn es keine harten Fakten gibt, die das Gegenteil belegen, stehen unsere Chancen gut, dass wir nichts Besonderes sind. Ignorieren wir diese Tatsache, so kommen amüsante Statistiken zustande, wie etwa die Umfrage, die zeigte, dass 94 Prozent der Dozenten an der University of Nebraska-Lincoln denken, dass sie überdurchschnittliche Leistungen in der Lehre erbringen, oder das Ergebnis, dass 87 Prozent der MBA-Studenten in Stanford ihren akademischen Rang über dem Mittelwert ihrer Kommilitonen einordnen. 93 Prozent der Autofahrer in den USA schätzen darüber hinaus ihre Fähigkeiten im Straßenverkehr als über dem Durchschnitt liegend ein.

Nicht selten begegnen uns im Alltag oder in den Medien Individuen, die, obwohl alle Indizien gegen sie sprechen, ganz klar von ihrem Können überzeugt sind. Dieses Phänomen wird der Dunning-Kruger-Effekt genannt, nach den beiden Psychologen David Dunning und Justin Kruger von der Cornell Universität. In ihrer Studie Unskilled and Unaware of it, aus dem Jahr 1999, untersuchten sie die Kompetenz von Studenten in den Bereichen Humor, Grammatik und Logik und baten sie um ihre eigene Einschätzung ihrer Leistung. Das Ergebnis war, dass die Teilnehmer im unteren Viertel ihre Ergebnisse deutlich zu hoch einschätzten (Prozentrang 62 anstatt 12).

Dieses Ergebnis könnte auf den ersten Blick ein statistisches Artefakt zweierlei Art sein. Einmal hat notwendigerweise jemand der einen sehr niedrigen Wert erreicht hat, eine weitaus größere Chance seine Leistung darüber als darunter einzuschätzen. Einfach, weil es weniger Werte darunter gibt.

Die andere mögliche Ursache für diese Diskrepanz ist die sogenannte Regression zur Mitte. Die Einschätzung der eigenen Leistung korreliert nicht vollständig mit dem tatsächlichen Abschneiden, deshalb tendiert sie zum Durchschnitt, selbst wenn das erbrachte Ergebnis sehr hoch oder sehr niedrig ist. Oder, um es mit einer Analogie zu verdeutlichen, bei jemandem, der zwei Meter groß ist, kann man trotzdem davon ausgehen, dass er eine normale Sehstärke hat, denn die beiden Eigenschaften sind weitestgehend unabhängig.

Solche Vermutungen sind allerdings nicht überzeugend, wenn man die Studie genauer betrachtet. Dunning und Kruger widersprechen diesen Einwänden darin ausdrücklich. Es scheint hingegen so zu sein, dass die Personen, die am schlechtesten abgeschnitten haben, Defizite in ihrem Vermögen aufwiesen, mögliche Fehler von richtigen Antworten unterscheiden zu können. Mit anderen Worten, ihre Urteilsfähigkeit war schwach ausgeprägt.

Kurioserweise ist dieses Phänomen nicht nur bei der Beurteilung geistiger Leistungen zu beobachten, sondern auch bei der Einschätzung der eigenen Attraktivität. Probanden, deren physische Attraktivität als weit unterdurchschnittlich eingestuft wird, bewerten sich in wissenschaftlichen Untersuchungen selbst deutlich besser. Ihre Meinung über die Attraktivität anderer Personen weicht ebenfalls vom allgemeinen Konsens ab. Die genaue Ursache hierfür ist allerdings noch unklar.

Viele männliche Narzissten fallen die Karriereleiter hinauf

Das beste prominente Beispiel, das einem hierbei in den Sinn kommt, sozusagen die Personifizierung des Dunning-Kruger-Effekts, ist natürlich Donald Trump. Manchmal muss man sich bei den Aussagen, die er zu seinen Fähigkeiten, seinem Aussehen und seinen Leistungen von sich gibt, fragen, ob er das ernst meint oder ob er sich einfach über seine Anhänger lustig macht. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob seine Präsidentschaft nicht vielleicht doch ein aus dem Ruder gelaufener Aprilscherz ist. Die Liste unglaublicher Zitate von ihm ist zu lang, als dass ich ihr hier gerecht werden könnte.

Eine seiner beliebtesten Behauptungen auf Twitter ist, dass er einen der höchsten IQs überhaupt hätte, und er bezeichnete sich mehrmals als Genie. Um dies zu untermauern, verweist er gerne mit Stolz auf sein Ergebnis im Montreal Cognitive Assessment-Test. Angeblich erreichte er dort 30 von 30 möglichen Punkten. Der Test ist allerdings lediglich dafür gedacht, Anzeichen von Demenz zu erfassen. Der durchschnittliche Wert von geistig gesunden Personen liegt bei 27 von 30 Punkten. Andererseits hat er mit dem Gedanken gespielt, Desinfektionsmittel in Menschen zu injizieren, um das Coronavirus zu bekämpfen, er hat ohne Augenschutz während einer Sonnenfinsternis direkt in die Sonne geschaut und er hat die Rechenaufgabe, 17 mit sechs zu multiplizieren, falsch beantwortet (hat aber darauf bestanden, dass er recht hat, also liegen wahrscheinlich sämtliche Taschenrechner daneben). Alles nicht wirklich Anzeichen dafür ein Genie zu sein.

Wir kennen aber wohl alle Personen mit einer ähnlichen Persönlichkeitsstruktur. Meist nicht sonderlich kultivierte, aber materiell überdurchschnittlich erfolgreiche Männer. Der Psychologe Tomas Chamorro-Premuzic hat für diese Tendenz eine durchaus einleuchtende Erklärung: Die meisten Menschen sind nicht gut darin, zwischen übertriebenem Selbstbewusstsein und ausgeprägter Kompetenz zu unterscheiden. Deshalb fallen viele Narzissten die Karriereleiter hinauf und Frauen, die im Durchschnitt deutlich weniger arrogant, manipulativ und risikofreudig sind als Männer und dazu neigen bescheiden, ehrlich und mitfühlend zu sein, bleiben oft auf halbem Weg zur Chefetage stecken, obwohl exakt diese Kombination von Charaktermerkmalen auf einen erfolgreichen Führungsstil hinweist.

Genau das, was einem den Aufstieg ermöglicht, führt also dazu, dass man ein schlechter Vorgesetzter ist und falsche Entscheidungen für die Firma trifft. Chamorro-Premuzic rät Frauen dringend davon ab den aggressiven, eitlen Umgang ihrer erfolgreichen männlichen Kollegen zu kopieren und schlägt stattdessen vor, dass die Gesellschaft sich viel eher davon distanzieren sollte solchen Personen den Aufstieg zu erleichtern.

Personen aus der Oberschicht neigen zur Selbstüberschätzung

Nicht nur das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern wird auf den Dunning-Kruger-Effekt zurückgeführt. Es wurde außerdem nachgewiesen, dass die soziale Schicht eine wichtige Rolle spielt.Personen aus der Oberschicht haben eher ein übermäßig entwickeltes Selbstvertrauen, das sie auch in Vorstellungsgesprächen viel kompetenter erscheinen lässt als sie eigentlich sind. Ein Teufelskreis.

In anderen Kulturen, vor allem den ostasiatischen, hat man eine grundverschiedene Einstellung zu seinem Selbstbild als in westlichen Ländern. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass Japaner, Chinesen und Koreaner allgemein dazu neigen ihre Fähigkeiten zu unterschätzen. Die Vorliebe in Nordamerika, das Selbstgefühl aufzublasen, schafft möglicherweise positive Gefühle und Kontrollüberzeugung, während die Selbstkritik der Ostasiaten eher zu negativen Gefühlen und einem starken Drang sich zu verbessern führt.

Ob nun Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit wichtiger ist als gute Laune und Überlegenheitsgefühl, muss jeder selbst entscheiden. Es ist jedenfalls nicht belegt, ob Menschen, die sich übertrieben positiv sehen, wirklich glücklicher sind. Verschiedene Studien sind dabei zu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen. Solche Personen scheinen jedenfalls generell Mängel im sozialen Miteinander aufzuweisen.

Ich denke, die beste Methode, um für sich selbst zu vermeiden, dass man seine Fähigkeiten falsch einschätzt, ist einfach davon auszugehen, dass man nicht sonderlich gut in etwas ist, außer mehrere unabhängige Personen (keine Verwandten, Freunde oder Lebensgefährten also) haben von sich aus auf eine Begabung hingewiesen.

Am sichersten kann man sich wohl sein, wenn jemand, der einen eigentlich überhaupt nicht ausstehen kann, sagt, dass man talentiert in etwas ist, oder wenn man in einer einigermaßen objektiven Leistungserfassung entsprechend abschneidet. Wenn sich jemand etwa für eine Mathematik-Olympiade qualifiziert hat, kann man ziemlich sicher sein, dass derjenige gut mit Zahlen umgehen kann, wenn jemand in Diktaten immer eine Eins bekommt, dann ist er mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit kein Legastheniker und wenn die Reaktion eines untersetzten Kunstlehrers auf eine Karikatur, die ihn als Gartenzwerg darstellt, ist, den Schüler für seine artistischen Fähigkeiten zu loben, dann kann man das als ein ziemlich sicheres Zeichen deuten, dass er nicht vollkommen unbegabt ist.

Auf der anderen Seite ist es sinnvoll, wenn sich die Hinweise häufen, dass man schlecht in etwas ist, anzunehmen, dass es dafür gute Gründe gibt. Allerdings bin ich der Meinung, es sollte den negativen Kommentaren weniger Gewicht beigemessen werden als den positiven, da nach meiner Erfahrung Menschen deutlich stärker motiviert sind etwas Schlechtes über jemanden zu sagen als etwas Gutes. Diese Annahme ist jedoch diskutabel.

Gelegentlich kommt es allerdings vor, dass jemand tatsächlich so kompetent auf einem Gebiet ist, dass praktisch niemand seinen Gedanken folgen kann. Das sprichwörtliche "verkannte Genie". Gregor Mendel, der Vater der Vererbungslehre, war so ein Fall. Nachdem seine bahnbrechenden Forschungsergebnisse nach der Veröffentlichung auf Verwirrung stießen und kaum rezensiert wurden, sind von ihm die Worte "Meine Zeit wird schon kommen!" überliefert.

Die amerikanische Kolumnistin Marilyn vos Savant hatte 1990 die richtige Lösung für das sogenannte Ziegenproblem, ein kontraintuitives statistisches Rätsel, gefunden, wurde jedoch von zahlreichen führenden Wissenschaftlern dafür kritisiert. Selbst Paul Erdős, einer der besten Mathematiker aller Zeiten, war nicht in der Lage, die korrekte Antwort nachzuvollziehen. Sie reagierte auf den Unglauben der Fachwelt mit der Aussage: "Mathematische Antworten werden nicht durch Abstimmung festgelegt!"

Diese Beispiele sind aber absolute Ausnahmen und beide waren bereits vorher als Personen mit herausragenden Fähigkeiten erkannt worden. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in diese Kategorie fällt ist verschwindend gering. Es ist ungleich wahrscheinlicher, dass jemand, der dies glaubt, über ein aufgeblasenes Ego in Kombination mit einer eher bescheidenen Kompetenz verfügt und deshalb überzeugt ist, den Experten überlegen zu sein. Tatsächlich neigen Personen, die wirklich begabt sind, dazu ihre Fähigkeiten zu unterschätzen, wie Dunning und Kruger festgestellt haben.

Man sollte, wie Kant forderte, den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen; man sollte aber auch die Ehrlichkeit haben, die Grenzen dieses Verstandes zu akzeptieren.