Kapitalismus: Kein Spiel!

"Diese Wirtschaftsform wird alles überleben", schreibt Franziska Augstein in der SZ. Ein Kommentar

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SZ-Autorin Franziska Augstein sorgte sich im Wirtschschaftsteil der SZ vom 9. Oktober 2020 um den Kapitalismus, denn der sei "... in der Krise. Auch seine Anhänger sind besorgt." Grund genug für eine Entwarnung: "Das ist nicht nötig. Diese Wirtschaftsform wird alles überleben." Mithin auch die Zerstörung ihrer eigenen Existenzgrundlagen durch die Klimakatastrophe und die Vernichtung der ökologischen Systeme? Wohl kaum, denn sie soll sich ja auch daran (an: "alles") noch anpassen, mithin davon profitieren können.

Eine Voraussetzung für das Gelingen dieses Vorhabens allerdings gebe es zu bedenken: "Sie (die Wirtschaftsform) sollte (...) reformiert werden." Weshalb der Kapitalismus reformiert gehört, wenn er ohnehin "alles überleben" wird, bleibt Augsteins Geheimnis, das sie auch im Verlauf ihres Artikels nicht lüften wird. Einige Hinweise darauf aber gibt sie doch, und einer sei gleich zu Anfang verraten, denn er sagt etwas aus über die Bewunderung, die Frau Augstein dem Kapitalismus entgegenbringt. Den "Sozialhistoriker Jürgen Kocka" zitierend, meint sie:

Der Kapitalismus sei unter allen möglichen Regierungsformen möglich, "in demokratischen wie in autoritären und diktatorischen Herrschaftssystemen".

Franziska Augstein

Wenn einer Wirtschaftsform ihr Überleben unter allen möglichen Herrschaftsformen beglaubigt werden kann, dann ist das natürlich ein Gütezeichen allererster Klasse, angesichts dessen sämtliche Kritik schlichtweg zu verblassen hat. Was kümmern uns die Kollateralschäden, die der Kapitalismus bis hin zum drohenden Gehtnichtmehr hervorruft, wenn sich Herrschaften jeglicher Couleur derart erfolgreich seiner zu bedienen wissen? Sich einer Herrschaft entgegenzustellen, wäre angesichts deren Vermögens, sich an der Dienstbarkeitsbereitschaft ihrer Untertanen erfolgreich zu bedienen, gewissermaßen widersinnig, denn es ist ja gerade der Erfolg "dieser Wirtschaftsform", der ihre Bewunderer dazu veranlasst, ihr durch Dick & Dünn die Treue zu halten. Egal, wie dieser Erfolg auch zustande kommen mag.

Damit wir auch wirklich verstehen, warum der Kapitalismus nicht untergehen kann, klärt uns Franziska Augstein darüber auf, was Kapitalismus ist. Antwort darauf findet sie bei dem schon eingangs zitierten Jürgen Kocka:

... daß halt das Kapital im Kapitalismus "zentral" ist, "und damit verbunden, ein wirtschaftliches Verhalten mit einer bestimmten Temporalstruktur: Man benutzt Ressourcen der Gegenwart für Investitionen in der Erwartung größerer Vorteile in der Zukunft (...) Wandel, Wachstum und Expansion sind dieser Form des Wirtschaftens eingeschrieben, jedoch in unregelmäßigen Rhythmen, in Auf- und Abschwüngen, unterbrochen durch Krisen."

Franziska Augstein

Wir lernen: Das Kapital spielt im Kapitalismus eine zentrale (!) Rolle, und dieser unbestreitbare Sachverhalt trifft sich mit einem wirtschaftlichen (!) Verhalten der Kapitalisten, die aus ihrem vorgeschossenen Geld mehr Geld machen wollen, was ihnen aber, sofern alles in ihrem Sinne abläuft, nur in zeitversetzter Weise, d.h. in der Zukunft ("Temporalstruktur") gelingen kann. Aus anscheinend nicht weiter erläuternswerten Gründen geschieht dies unter sich fortwährend verändernden und umwälzenden Voraussetzungen, verläuft in einem krisenhaften Prozess, der den angestrebten Erfolg wieder zunichtemachen kann.

"Der Kapitalismus ist überlebensfähig wie eine Kellerassel"

Erfolg und Misserfolg, Schaffung und Zerstörung von Werten sind Bestandteil des Kapitalismus, aber anscheinend kein Grund, den Sinn & Zweck des Ganzen in Frage zu stellen:

Viel ist in den vergangenen Jahren über ein mögliches Ende des kapitalistischen Systems diskutiert worden. Das ist Mumpitz. Der Kapitalismus ist überlebensfähig wie eine Kellerassel, ein Insekt, das Biologen zufolge nach einem weltweiten Atomkrieg lebendig übrig bleiben würde.

Franziska Augsein

In ihrem Vergleich mit der Kellerassel reflektiert Frau Augstein auf eine verquere Art und Weise den Schein, das Kapital habe ein den Bürgern unabhängiges Eigenleben: der Wille der in das Kapitalverhältnis eingebundenen Menschen spiele hier überhaupt keine Rolle, sie könnten gar nicht anders, als sich den Bedingungen des kapitalistischen Produzierens zu unterwerfen, egal unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen auch immer. Dass die Beteiligten dabei als Nutznießer einerseits und Geschädigte andererseits mit ziemlich unterschiedlichen Resultaten beglückt werden, spielt für sie überhaupt keine Rolle.

Kapitalismus ist für diese Sichtweise kein der Veränderbarkeit zugängliches Verhältnis unter Menschen, sondern eine sachliche Naturgewalt, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Damit stellt sich für Frau Augstein auch nicht mehr die Frage nach den Zwängen, die die Bürger dazu nötigen, sich vom Kapital ausbeuten zu lassen, geschweige denn nach den Gründen, weshalb die Bürger ihre Ausbeutung gar nicht (mehr) als solche erkennen mögen.

Was aber nicht heißt, dass sie sich nicht für die Erfolgsbedingungen des kapitalistischen Systems interessieren würde. Dessen Erfolg nämlich steht für sie trotz aller Kritik an dessen Resultaten außer Frage. Deshalb erklärt sie erst mal, weshalb alle bisherigen Schadensmeldungen dem Kapitalismus nichts anhaben konnten. Sie wird beim Vater aller Kapitalismuskritik selbst fündig und weist ihm einen fundamentalen Irrtum nach:

Karl Marx hatte seine Kapitalismuskritik auf Hegel und dessen Idee von Dialektik aufgebaut. Simpel gesagt, ist das so: Eine Sache wird so lange fortgeschrieben, bis sie, eben weil sie funktioniert, die ihr innewohnenden Widersprüche gebiert und zum Wirken bringt. Dann kippt alles um und wird neu sortiert. Marx meinte, der Kapitalismus werde abgelöst und in eine Herrschaft aller für alle münden. Diese Annahme war falsch: Der Kapitalismus erneuert sich von selbst und in sich selbst.

Franziska Augstein

Wenn sich der Kapitalismus von "selbst und in sich selbst" erneuert, vollzieht er genau das, was Augstein, "simpel gesagt", an Hegels Dialektik beschreibt: die ihm innenwohnenden Widersprüche eskalieren und erzwingen eine Neusortierung und Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, auf dass eine neue Runde des Profitkarussels beginnen möge. Dass aus Krisensituationen eine kommunistische Gesellschaft hervorgehen würde, begreift Marx allerdings nur als Möglichkeit und nicht als Notwendigkeit, die sich nur so und nicht anders zu vollziehen hätte. Denn aus dem Zustand der Lohnabhängigkeit resultiert nicht automatisch ein Klassenbewusstsein, sondern am ehesten noch die Bereitschaft, gegen einen "gerechten Lohn" der Sache des Unternehmens dienen zu wollen. Darin inbegriffen die generelle Respektierung fremden Eigentums, wie heute und hierzulande im Grundgesetz vorgeschrieben, und dies entgegen aller eigenen lebenslangen Erfahrung, selbst nie in den Genuss verwertbaren Eigentums gelangen zu können.

Fetischcharakter der Ware

Damit sich der Kapitalismus immer wieder erneuern kann, benötigt er hierfür die Zustimmung seines variablen Kapitals, der Lohnarbeiterschaft. Solange er deren Akzeptanz oder wenigstens Duldung hat, kann es in seinem Sinne weitergehen, aber eben nur solange er die hat, und dies ist somit auch seine größte Schwachstelle. Marx' Analyse des Kapitals legt den Schluss nahe, dass die Arbeiterklasse gut daran täte, diese ihre Position im eigenen Emanzipationsinteresse zu nutzen. Dass daraus kein Automatismus der Gefolgschaftsaufkündigung abzuleiten ist, verdankt sich den Erkenntnishindernissen, die Marx im Verlauf der Entwicklung seiner Werttheorie an verschiedenen Stellen beschreibt, u.a. auch im sechsten Abschnitt des Kapital über den Arbeitslohn:

Auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Lohn des Arbeiters als Preis der Arbeit, ein bestimmtes Quantum Geld, das für ein bestimmtes Quantum Arbeit gezahlt wird. (...) Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit. (...) Bei der Lohnarbeit erscheint (...) selbst die Mehrarbeit oder unbezahlte Arbeit als bezahlt. (...) ... (denn) das Geldverhältnis (verbirgt) das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters.

Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 557 bzw. S. 562

Getauscht wird nicht Lohn gegen Arbeit, sondern Lohn gegen Arbeitskraft, was deren Benützung über die notwendige Arbeitszeit hinaus, die dem Ersatz ihrer Herstellungskosten dient, mit einschließt. Im Arbeitslohn verbirgt sich also die umsonst geleistete Mehrarbeit.

Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.

Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 562

Diese verkehrten "Rechtsvorstellungen" überwinden zu helfen, wäre Aufgabe der Linken.

Eine "Herrschaft aller für alle", wie Frau Augstein ihre Vorstellung von einer klassenlosen Gesellschaft umschreibt (Herrschaftsfreiheit scheint ihr ein Fremdwort zu ein), ist demnach kein Resultat, das einem als "Sache" missverstandenen Kapitalismus notwendig zu entspringen hätte, denn die Lohnarbeiterschaft ist zwar Bestandteil des Kapitalverhältnisses, besteht aber eben auch aus zahlenmäßig weit überlegenen Individuen, die mit einem freien Willen ausgestattet, also keine "Sache" sind, die nur im Sinne ihrer unternehmerischen Be- und Ausnutzer, nämlich sachzweckmäßig, zu funktionieren hätte. Wenn sie dies heute jedoch dennoch tut, ist dies allerdings keine Garantie dafür, dass dies auch für alle Zeit so bleiben muss.

Das Kapital bringt zwar fortwährend Sachen - Gebrauchswerte - hervor, aber kann dies nur, weil es selbst keine "Sache" ist, wie Augstein mit ihrer Hegelanalogie unterstellt, sondern ein auf versachlichten (oder auch: verdinglichten) Beziehungen beruhendes Verhältnis zwischen Menschen: Unternehmer und Lohnarbeiter. Marx thematisiert diesen Zusammenhang in Kapitel 4. seiner Warenanalyse, in dem er den Fetischcharakter der Ware beschreibt:

Das Geheimnisvolle der Warenform besteht (...) darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charakter ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen. (...) Es ist (...) das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.

Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 86

Die im Kapitalismus angelegten Widersprüche sind nicht ohne die gegensätzlichen Interessen der beteiligten Akteure zu verstehen, deren zweckdienliches Handeln zur Entfaltung eben dieser Widersprüche führt, indem sie ihren jeweiligen Geschäften und Nutzenkalkulationen nachgehen. Nicht ein als "Sache" gedachter Kapitalismus "floriert immer" und quasi aus sich selbst heraus, es sind dessen Nutznießer, die - ihren Interessen folgend - sich an den ihnen fortwährend stellenden und selbsterzeugten Sachzwängen abarbeiten und dabei die bekannten Folgen hervorbringen.

Die durch Konkurrenz und Krisen erzwungenen Erneuerungsleistungen des Kapitals sind darauf ausgerichtet, dessen Profitabilität unter andauernd sich verändernden Bedingungen wieder und wieder herzustellen und auf eine jeweils neue materielle und organisatorische Basis zu stellen: Die Voraussetzungen der Profitabilität werden angepasst, damit weiterhin und möglichst vermehrt Profit erwirtschaftet werden kann.

Was als ein sich pausenlos ereignendes Wunder an Produktion und Produktivität erscheint, ist nichts weiter als das Bemühen, dem immergleichen Zwang zum immergleichen Erwirtschaften von Profit gerecht zu werden: Das Kapital ist ein fortgesetzt sich revolutionierendes System des profitheischenden Stillstands, repräsentiert durch den als alternativlos deklarierten und immergleichen Verwertungszwang. Er ist der Gott des Kapitals, an ihm darf nicht gezweifelt, ihm soll auf ewig gehorcht werden (Augstein drückt ihre Bewunderung dafür folgendermaßen aus: "Der Kapitalismus ist überlebensfähig wie eine Kellerassel, ein Insekt, das Biologen zufolge nach einem weltweiten Atomkrieg lebendig übrigbleiben würde"). Wenn es um die kapitalistische Profitabilität geht, verstummt das Loblied auf die Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus, denn an der Profitschneiderei soll sich nichts ändern, sie ist eisernes und zwingendes Gebot: Stillstand als Fortschritt ins Nichts (nach: Götz Eisenberg)!

Kapitalismus als Spiel

Ist der Kapitalismus für Franziska Augstein sowohl unter "demokratischen wie in autoritären und diktatorischen Herrschaftssystemen" erfolgreich, was natürlich nur für ihn sprechen kann, so findet sie Gefallen auch an der Analogie eines Herrn Werner Plumpe - seines Zeichens Wirtschaftshistoriker -, der meint: "Mit Kapitalismus lasse sich das Regelwerk eines bestimmten Spiels bezeichnen, das nicht ein für alle Mal feststeht, sondern sich im Laufe der Zeit entsprechend der jeweiligen technischen Möglichkeiten, der normativen Vorstellungen und der institutionellen Zwänge ändert, auf jeden Fall ändern kann, vielleicht sogar ändern muß."

Der Kapitalismus solle demnach als Spiel gedacht werden, dessen Regeln veränderbar, anpassungsfähig an sich ändernde Voraussetzungen sein sollen. Beim Spiel gibt es Gewinner und Verlierer, mal kann es den/die eine/n, mal den/die andere/n treffen, beider Rollen sind austauschbar. Im Hinblick auf konkurrierende Unternehmen mag das Gewinner-Verlierer-Verhältnis zutreffen. Eine Beziehung, bei der es nicht um ein Vergnügen, sondern um Existenzen geht, unter den Spielebegriff zu subsumieren, ist jedoch ziemlich weitab der Realität. Wenn Unternehmen auf der Verliererseite landen und daran zugrunde gehen, sind die Lohnarbeiter die Hauptleidtragenden, denn sie hatten zuvor keinerlei Möglichkeiten, (verwertbares) Vermögen zu akkumulieren und gegebenenfalls beiseite zu schaffen.

Der Reichtum eines Unternehmers wächst und wächst, solange er erfolgreich ist, während der Lohn sich mit Regelmäßigkeit in die Lebenshaltungskosten verabschiedet und bestenfalls als Abzug vom alltäglichen Verbrauch auf ein Sparkonto wandert. Wenn es darum geht, als Gewinner aus einer Konkurrenzsituation hervorzugehen, so können mit "Regelwerk" eigentlich nur die Methoden gemeint sein, mittels derer mit möglichst geringem Kostenaufwand ein Maximum an Profit erwirtschaftet werden kann. Will man dies als "Spiel" betrachten, stellt sich die Frage, wo denn dabei das Vergnügen bleiben soll. Kein auf Lohnarbeit angewiesener Mensch, der sich den Direktiven seines "Arbeitgebers" zu beugen hat, um nach maximaler Leistung mit möglichst geringer Bezahlung abgespeist zu werden, wird diesen Dienst als "Spiel" missverstehen wollen.

Der gute und der schlechte Kapitalist

Aber natürlich hat Frau Augstein nicht nur Lob für den Kapitalismus übrig. Dafür erzählt sie uns, wie es zu laufen hat, wenn es akzeptabel sein soll:

Man geht ein Risiko ein, man investiert, man hat beim Aufbau eines Unternehmens vielleicht manch schlaflose Nacht, man beutet die Arbeiter aus; wenn alles glatt läuft, darf man reich werden und kann sich guten Gewissens des Sonntags in die vorderste Bank in der Kirche setzen. Alles das gehört zum Kapitalismus.

Franziska Augstein

Die reinste unternehmerische Idylle: Die Ausbeutung der Arbeiter geht in Ordnung, das daraus resultierende "gute Gewissen" erhält sogar seine christliche Beglaubigung, dafür nimmt man dann gern manch schlaflose Nacht in Kauf und trägt tapfer das selbstgewählte Risiko.

Dass aber ein Unternehmen sich vom Staat und also den Steuerzahlern nach erwiesener Unfähigkeit des eigenen Managements (...) vor der Insolvenz retten lässt, (...) hat mit dem herkömmlichen kapitalistischen Grundverständnis nichts zu tun.

Franziska Augstein

Das nämlich sieht vor, dass ein Unternehmen, welches in der Konkurrenz mit seinesgleichen dauerhaft den Kürzeren zieht, vom Markt verschwindet, denn nur so kommt kapitalistischer Fortschritt zustande. Was das für die betroffenen Arbeitskräfte bedeutet, steht hier nicht zur Debatte und scheint auch nicht erwähnenswert.

Nötig sei auch, "dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Länder, wo Hungerlöhne gezahlt werden, von den Unternehmen der wohlhabenden Länder überdacht werden müsse". Hungerlöhne im Inland - modern auch Niedriglöhne genannt - gehen also in Ordnung? Aber Frau Augstein wird noch strenger:

Es geht nicht an, dass die von der Produktion sichtbarer, anfassbarer Waren abgekoppelte Finanzwelt zunehmend das Wirtschaftsgeschehen bestimmt. Unerträglich ist die Gefahr für börsennotierte Unternehmen, dass Wetten auf den Fall des Werts ihrer Aktien lukrativ sein können. Schon gleich gar nicht tolerabel ist, dass erfolglose Manager ein Unternehmen vor die Wand fahren können und dafür auch noch prächtig entlohnt werden. Letzteres läuft übrigens dem Selbstverständnis gestandener Kapitalisten aller Jahrhunderte zuwider.

Franziska Augstein

Gestandene Kapitalisten dürfen guten Gewissens ausbeuten und mit Aktien spekulieren, auch anständig Pleite gehen, aber am eigenen Missmanagement auf Kosten der Steuerzahler profitieren? Das geht gar nicht, das ist gegen die christliche Moral! Es sei denn, sie haben es geschafft, vor dem Niedergang der Firma ihre Schäfchen ohne viel öffentlichen Aufhebens ins Trockene zu bringen, was die Regel sein dürfte. Dann lässt sich auch die eigene Firmenpleite abwickeln, ohne sich den Zorn einer wohlmeinenden kritischen Öffentlichkeit zuzuziehen.

"Die europäische Kapitalismuskritik: Sie hat sich am Ende ausgezahlt!"

Schlussendlich aber hat Frau Augstein auch noch ein lobendes Wort für die Kritiker des Kapitalismus in petto. Denen nämlich hält sie zugute, dass die sich insbesondere in Europa insofern für das Wohlergehen des Kapitalismus stark gemacht hätten, als sie sich um die Durchsetzung wohlfahrtsstaatlicher Standards bemüht haben, was dessen Akzeptanz zugutekam: "Die europäische Kapitalismuskritik: Sie hat sich am Ende ausgezahlt!" Für den europäischen Kapitalismus, versteht sich, für wen sonst? Denn heute zeige sich, "dass viele europäische Länder mit der Einrichtung des Wohlfahrtsstaats nach 1945 es besser gemacht hätten, als die Amerikaner". So das berechnende Lob aus dem Munde zweier amerikanischer Ökonomen (Anna Case und August Deaton, letzterer ein Wirtschaftsnobelpreisträger).

Wie es mit dem Kapitalismus angesichts der durch ihn global verursachten existenziellen Zerstörungen weitergehen wird, liegt immer noch in der Hand jener überwiegend subaltern sich verhaltenden lohnabhängigen Klasse, die es verlernt hat, ein über ihr Abhängigendasein hinaus gehendes emanzipatorisches Interesse zu entwickeln. An deren willentlich vollzogener Bereitschaft, sich den Anforderungen des Kapitals zu unterwerfen, hätte sich eine Linke abzuarbeiten, wäre die denn an einer solchen Wende interessiert.

Weil sie in ihrer Mehrheit aber anscheinend gar kein Interesse daran hat, die Anpassungsbereitschaft der Lohnarbeiterschaft resp. der Arbeiterklasse zu thematisieren und in Frage zu stellen, damit die sich ihrer Lage als bloßes Instrument des unternehmerischen Bereicherungsinteresses bewusst werden könnte, kann eine Frau Augstein auf die Idee verfallen, das Kapital und damit die ihm hörige Lohnarbeiterschaft wären eine gewissermaßen naturgegebene, d.h. für immer und ewig feststehende "Sache", an der es nichts zu rütteln gebe.

Eine Wirtschaftsjournalistin traut ihrem Augenschein und wähnt sich auf der richtigen Spur. Eine nicht weniger desorientierte Linke scheint ihr Recht zu geben. So passt eins zum andern in diesem trostlosen Szenario.

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