Corona-Politik: Warum Augenmaß jetzt wichtig ist

Mediziner und Gesundheitsexperten fordern ein Ende der Drohungen gegen Bürger, regelmäßige Neuanalysen und verstärkten Schutz vulnerabler Gruppen

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Die Konferenz von Bundeskanzlerin, Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten Mitte Oktober zum Umgang mit der SARS-CoV-2/Covid-19-Epidemie weist - zieht man das Ergebnisprotokoll zur Beurteilung heran - auf besorgniserregende Fehlentwicklungen hin. Diese Fehlentwicklungen betreffen Epidemiologie, Präventionskonzept und gesellschaftspolitische Implikationen. In den bisherigen Thesenpapieren, die streng analytisch strukturiert waren, hat unsere Autorengruppe herausgearbeitet, dass:

  1. die SARS-CoV-2/Covid-19-Epidemie durch asymptomatische Träger weiterverbreitet wird und nicht durch lineare Konzepte zu erfassen ist;
  2. die Epidemie aus diesem Grund nicht zu eradizieren ist, sondern sich bei Ermangelung von Impfung und Therapie in der Bevölkerung homogen ausbreitet, wobei es zusätzlich zu Herdausbrüchen kommt;
  3. Häufigkeitsangaben auf Grundlage anlassbezogener Stichproben mit äußerster Vorsicht zu verwenden sind und es die vordringliche Aufgabe sein muss, mit Kohortenstudien zu verlässlichen, repräsentativen Daten zu kommen und klinische Daten zur Beurteilung heranzuziehen (Mortalität der hospitalisierten Patienten, Nutzung von Intensivkapazitäten etc.);
  4. Testverfahren vor allem hinsichtlich der Infektiosität validiert werden müssen (Spezifitätsproblem der PCR);
  5. allgemeine Präventionsmaßnahmen und Nachverfolgung von Infektionen eine wichtige Rolle spielen, letztlich aber der Erfolg der Prävention nur durch zielgruppenorientierte Maßnahmen erreicht werden kann, die vor allem den Schutz von verletzlichen Personengruppen zum Ziel haben;
  6. die Präventionsmaßnahmen nicht auf Kosten von Humanität und Würde der Person gehen dürfen;
  7. die Grundsätze der Risikokommunikation beachtet werden müssen;
  8. Einschränkungen der Grundrechte jederzeit hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit begründbar sein müssen, und;
  9. eine Vermengung von Gesundheitsschutz und Eingriffen, die den Anschein obrigkeitsstaatlichen Handelns erwecken können (z.B. Standortbestimmung durch Corona-App, Eingriff in den privaten Bereich zur Kontrolle von "Besuchsregelungen") unter keinen Umständen statthaft ist.

Ermüdung, Abwendung und Flucht in falsche Heilslehren

In den Beschlüssen der genannten Konferenz ist keine Fortentwicklung des Verständnisses für die Eigenheiten dieser Epidemie und für die Anforderungen an Steuerungsparameter sowie die Kommunikation deren Ergebnisse zu erkennen. Stattdessen überwiegt der Eindruck, dass die Verantwortlichen auf den immergleichen Vorgehensweisen beharren und Maßnahmen sogar noch verstärken, an deren Wirksamkeit und Akzeptanz es aus wissenschaftlicher Sicht größte Zweifel geben muss.

In einer langdauernden gesellschaftlichen Krise, zu der sich diese Epidemie entwickelt hat, führt der anhaltende, als alternativlos konnotierte Bezug allein auf die Verantwortlichkeit der Einzelnen zu Ermüdung, Abwendung und Flucht in falsche Heilslehren, aber nicht zu einer Verbesserung der Wirksamkeit der vorgeschlagenen bzw. angeordneten Maßnahmen. Dies gilt vor allen Dingen im Zusammenhang mit einer Drohkulisse, die aus den impliziten Versatzstücken "langdauernder Winter", "Weihnachten im Lockdown" und "es könnte für Sie kein Intensivbett mehr frei sein" zusammengesetzt ist.

Jede Beschäftigung mit Fragen der Risikokommunikation zeigt aber klar auf, dass die geltenden Vorgehensweisen entsprechend der aktuellen und erfahrbaren Situation zeitlich begrenzt werden müssen, dass regelmäßig eine verständliche Neuanalyse der Situation vorzunehmen ist und dass mit weiterentwickelten Konzepten die Bewältigung der Krisensituation fortgesetzt werden muss. Eine Fortentwicklung und ein Beachten dieser grundlegenden Erkenntnisse sind jedoch nicht sichtbar.

Eine große Chance auf ein solches Re-Briefing wurde in der Berliner Konferenz am 14. Oktober leider verpasst. Dabei hätte die Möglichkeit bestanden, über das Element "Schutz vulnerabler Gruppen" eine neue Dimension zum Leitgedanken zu machen. Zwar ist diese Vorgehensweise unter Punkt 11 im Protokoll vermerkt, stellt aber im Vergleich zu den anderen Vorgehensweisen, die allein auf dem Gedanken der Kontrolle und der Durchsetzung von Kontaktbeschränkungen beruhen, nur einen Nebenaspekt dar, der im Bedrohungsszenario untergeht.

Vorstellung eines linearen epidemischen Geschehens ist überholt

Von Anfang an - bereits im März - war feststellbar (Thesenpapier 1), dass Verschärfungen keinen positiven, aber starke negative Effekt haben. Dieser Eindruck hat sich im internationalen Vergleich seitdem mehr als bestätigt. Die höchsten Zahlen finden sich immerhin in den europäischen Ländern mit den schärfsten Lockdown-Regeln.

Gleichermaßen war von Anfang an klar (siehe Argumentation in Thesenpapier 3), dass eine sporadische Ausbreitung auch nicht allein durch noch so gut ausgestattete Gesundheitsämter und Nachverfolgungsmaßnahmen zu beherrschen ist, wenngleich ihre Arbeit wichtig ist. Diese Vorstellung fußt auf der Vorstellung eines linearen epidemischen Geschehens, die heutzutage eigentlich der Vergangenheit angehören sollte.

Unter dem Strich bleibt also nur die Erkenntnis: In Deutschland wird ein Konzept angewandt, das sich durch die Beschränkung auf allgemeine Präventionsmaßnahmen samt Drohung eines Lockdowns und durch den weitgehenden Verzicht auf spezifische Präventionsansätze paradoxerweise genau zu dem Konzept entwickelt hat, das eigentlich vermieden werden sollte, nämlich dem Konzept der Herdenimmunität, ein Konzept also, das den "Durchmarsch" der Epidemie nur begleitet, aber ohne den dringend notwendigen Schutz der verletzlichen Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt zu stellen. Ein solches Vorgehen hat unsere Autorengruppe immer kritisiert, und ein solches Vorgehen ist auch in Zukunft scharf zu kritisieren.

Um die genannten Verschärfungen aber durchsetzen zu können, sieht man sich laut Ergebnisprotokoll der Berliner Konferenz von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidentinnen sowie Ministerpräsidenten am 14. Oktober dieses Jahres gezwungen, unverhohlen mit einer verstärkten staatlichen Präsenz einschließlich Umwidmung von Personal aus anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung bis hin zum Einsatz der Bundeswehr zu argumentieren.

Weil trotz zahlreicher fachlicher und juristischer Warnungen keine Zurücknahme des voreilig beschlossenen Beherbergungsverbotes vereinbart wurde, musste dies jetzt gerichtlich als unverhältnismäßig korrigiert werden. So wird zum Beispiel klar in Aussicht gestellt, dass mit polizeilichen Mitteln der Privatbereich kontrolliert werden könnte, wenn sich hier nicht ein Verhalten nach den vorgegebenen Regeln einstellen würde (Punkt 2a und 4).