"Man greift sich einige heraus, um alle abzuschrecken"

Archivbild: Unabhängigkeitsreferendum am 1.Oktober 2017. Lange Schlangen an den Wahllokalen drückten den Willen aus, sich auch von massiver Repression nicht abschrecken zu lassen. Foto: Ralf Streck

Die spanische Repression in Katalonien weitet sich auf Universitäten und Professoren aus

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Seit dem Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 in Katalonien kommt es zu Repressionen, die sich schon im Vorfeld und auch am Tag der Abstimmung gezeigt haben, als spanische Sicherheitskräfte mit massiver Gewalt gegen friedliche Wähler vorgingen. Für internationale Beobachter kam dabei es zu einer "gut organisierten militärähnlichen Operation" spanischer Sicherheitskräfte, mit der erfolglos versucht wurde, die Abstimmung zu verhindern.

Seit der Ausrufung der Republik vor genau drei Jahren durch Präsident Carles Puigdemont läuft auf verschiedenen Ebenen ein juristischer Feldzug, auch spanische Verfassungsrechtler sprechen längst vom "Lawfare", einem "juristischen Krieg" gegen die Unabhängigkeitsbewegung.

Update: Heute wurden der Hochschulprofessor Josep Lluís Alay und die beiden katalanischen Unternehmer Oriol Soler und Xavier Vendrell festgenommen. Sie sollen angeblich hinter Tsunani Democratic stehen. Ermittelt wurde gegen die Organisation, die zur Blockade von Autobahnen und Flughäfen im Namen des "zivilem Ungehorsams" aufgerufen hatte, auch schon wegen angeblichen Terrorismus.

Telepolis sprach mit der promovierten Politikwissenschaftlerin der Universität Pompeu Fabra (UPF, Barcelona), Tània Verge, die gegenwärtig an der Fakultät für Politik- und Sozialwissenschaften doziert, über die Vorgänge. Auch sie wird mit weiteren Dozenten drei Jahre nach den Vorgängen ebenfalls in den Repressionsstrudel gerissen.

"Wir standen für Garantien in diesem Abstimmungsprozess"

Am 4. November beginnt in Barcelona ein Prozess gegen Sie und andere Hochschul-Dozenten. Was genau wird Ihnen vorgeworfen?

Tània Verge: Fünf Personen, die eine Wahlkommission für das Unabhängigkeitsreferendum gebildet hatten, werden Ungehorsam und Aneignung von Funktionen vorgeworfen. Dafür wird gegen uns eine Haftstrafe von 2 Jahren und neun Monaten gefordert, die nicht auf Bewährung ausgesetzt werden könnte, weil sie über der Schwelle von zwei Jahren liegt.

Es ist aber in demokratischen Staaten üblich, Abstimmungsprozesse von Experten wie uns überwachen zu lassen. Denn bei einer Abstimmung soll Unparteilichkeit garantiert und die Rechte der Bevölkerung gesichert werden. Vier der fünf Mitglieder dieser Kommission sind Professoren an Hochschulen wie ich. Die fünfte Person ist eine Juristin.

Zunächst wurde uns zusätzlich auch noch Veruntreuung von Steuergeldern vorgeworfen. Der Vorwurf wurde aber fallen gelassen, da wir weder irgendwelche Geldmittel verwaltet, noch Geld für unsere Tätigkeit erhalten haben. Diverse Vereinigungen von Politologen wie zum Beispiel in Großbritannien, Kanada und den USA sehen in dem Vorgehen gegen uns eine Verfolgung und eine Beschneidung unserer akademischen Freiheiten. Denn es ist absolut normal, dass Angehörige der Universitäten solche Aufgaben wahrnehmen.

Die UNESCO erkennt diesen Zusammenhang aus Wissenschaft, Forschung und Wissenstransfer genauso an wie der Europarat. Wir leben schließlich in keinem Elfenbeinturm, sondern nehmen auch an gesellschaftlichen Prozessen teil, die wir auch untersuchen. Es ist offensichtlich, dass die Wahlkommission als Symbol für das Referendum stand und deshalb wurde dieses Symbol schnell vom spanischen Staat angegriffen. Denn wir standen für die Garantien in diesem Abstimmungsprozess.

Eine Geldstrafe von 12.000 Euro pro Tag und Person angedroht

Wie ist es heute möglich, die fünf Mitglieder der Kommission vor Gericht zu zerren, schließlich sind alle nach einer Intervention des spanischen Verfassungsgerichts zurückgetreten?

Tània Verge: Das ist paradox. Zunächst wurde uns vom Verfassungsgericht eine Geldstrafe von 12.000 Euro pro Tag und Person angedroht, wenn wir nicht zurücktreten. Es wurde uns nur eine Frist von wenigen Stunden gesetzt und diese Geldstrafen wären ohne Urteil fällig geworden.

Der Staat hätte unsere Wohnungen beschlagnahmen oder Kontos sperren können, wenn wir die Strafe nicht sofort bezahlt hätten. Angesichts dieser Situation forderte die katalanische Regierung uns zum Rücktritt auf.

Obwohl wir das sofort getan haben, hat die Generalstaatsanwaltschaft Klage eingereicht, die damals auch noch Veruntreuung beinhaltete. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat nur die Nationale Wahlbehörde die Kompetenz, solche Prozesse zu überwachen. Wir hatten allerdings einen legalen Auftrag aus dem Referendumsgesetz, das vom katalanischen Parlament verabschiedet worden war. Das war zu diesem Zeitpunkt noch in Kraft und wurde erst später ausgesetzt.

Wie kann man gegen etwas ungehorsam sein, wenn man noch in der gesetzten Frist zurückgetreten ist? Es gab also weder vor noch nach der Anweisung des Verfassungsgerichts Ungehorsam von unserer Seite. Für uns ist deshalb klar, dass wir nur ein weiteres Stück im allgemeinen Vorgehen des spanischen Staats sind, der eine willkürliche politische Repression gegen eine politische Bewegung ausübt. Wir sind nur ein Baustein in der Repression gegen die Unabhängigkeitsbewegung.

Dabei waren wir keine Kommission für die Unabhängigkeitsbefürworter, sondern die Kommission für die gesamte Bevölkerung. Wir sollten ihre Rechte wahren, egal ob sie mit Ja oder Nein stimmen, sich enthalten oder ungültig stimmen wollten.

Tània Verge

Es ist auffällig, dass kürzlich sogar die Universität von Barcelona verurteilt wurde, weil sie vor einem Jahr ein Manifest unterzeichnet hatte. Darin wurden die Urteile gegen die Mitglieder der Regierung und Aktivisten verurteilt, die zu Strafen von bis zu 13 Jahre Haft für das friedliche Aufstellen von Wahlurnen verurteilt wurden. Gefordert wird darin unter anderem auch die sofortige Freilassung der politischen Gefangenen, wie es auch die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen immer wieder von Spanien fordert. Werden nun schon katalanische Universitäten kriminalisiert?

Tània Verge: Man kann ein systematisches Vorgehen feststellen. Es gibt insgesamt etwa 3.000 Menschen hier, die angeklagt werden oder wurden. In einigen Fällen kam es nie zu einem Prozess, weil die Vorwürfe ganz offensichtlich unhaltbar waren. Wo es zu Anklagen kommt, werden nur einige für eine ganze Gruppe an den Pranger gestellt.

Es wurden zum Beispiel auch nicht alle Politiker angeklagt und verurteilt, die etwas mit dem Referendum zu tun hatten. Nein. Man zog sich einige Führungspersönlichkeiten heraus, um der katalanischen politischen Klasse insgesamt zu drohen. Auf der Ebene der Bewegung auf der Straße gab es Hunderttausende, die an den Protesten beteiligt waren. Einige wenige hat man stellvertretend mit bestialischen Anschuldigungen wie Terrorismus, Rebellion, Aufruhr oder Landfriedensbruch überzogen.

Das ist ein gravierender Angriff auf das Demonstrationsrecht und auf die Meinungsfreiheit via lange Haftstrafen. Man greift sich einige heraus, um alle abzuschrecken. In unserem Fall ist das ganz ähnlich, allerdings im universitären Bereich, denn niemand von uns hat jemals ein öffentliches Amt bekleidet. Wir wurden für eine Wahlkommission wegen unserer akademischen Erfahrungen bestimmt. Doch mit der Anklage gegen uns, wird die akademische Freiheit aller angegriffen.

Die Nachricht ist klar: Wer sich in gesellschaftliche Vorgänge einmischt, kann bestraft werden und einen hohen Preis dafür bezahlen. Die Studentenschaft, die Professoren und die Vertreter der Beschäftigten schreiben häufig ein Manifest oder unterzeichnen andere wie zu Klimaveränderungen, politischer Unterdrückung in einem anderen Land, etc.

Erstmal seit dem Ende der Diktatur wird von einem Gericht versucht, ein solches Manifest zu annullieren. Damit kann eine ganze Kette ausgelöst werden. Und dieses Manifest haben alle öffentlichen Universitäten in ganz Katalonien unterzeichnet, sie könnten also alle betroffen sein.

"Akademische Freiheit - da sprechen wir auch über die Meinungsfreiheit"

Da die Anklage wegen angeblicher Veruntreuung schon gefallen ist, ist auch die exorbitante Strafandrohung von zehn Jahren Haft gefallen. Hoffen Sie auf einen Freispruch? Kürzlich wurde schließlich auch die angebliche "Terroristin" Tamara Carrasco freigesprochen. Auch der Chef der katalanischen Polizei sowie die Führung der Mossos d'Esquadra wurden von den Vorwürfen des Aufruhrs und des Ungehorsams freigesprochen.

Tània Verge: Jedes Urteil wäre ungerecht, das kein Freispruch wäre. Jede Verurteilung würden wir im Land anfechten, um im Notfall auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu ziehen. Geht es um akademische Freiheit, so sprechen wir auch über die Meinungsfreiheit. Klar ist, dass unser Fall vor einem ordentlichen und weniger politisierten Gericht in Katalonien verhandelt wird und nicht vor dem Obersten Gerichtshof oder dem Nationalen Gerichtshof in Madrid.

Deshalb kann es weniger politische Interferenzen geben. Da aber auch das Verfahren zum großen Vorgang gehört, den ich schon angesprochen habe, kann man keine Prognose abgeben, was als Ergebnis herauskommen wird. Eine Haftstrafe wäre natürlich eine Barbarei, aber es könnte auch eine Geldstrafe oder einem Amtsverbot werden.

Sie erforschen speziell Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Politik. Sehen sie Unterschiede in der Repression gegen Männer und Frauen? Besonders auffällig ist der Fall der ehemaligen Parlamentspräsidentin Carme Forcadell. Sie wurde wegen angeblichem Aufruhr zu 11,5 Jahren Haft verurteilt, dabei war sie an den Entscheidungen der Regierung zum Referendum nicht beteiligt. Die übrigen Mitglieder des Parlamentspräsidiums wurden dagegen kürzlich nur zu einer Geldstrafe und zu einem Amtsverbot von 20 Monaten verurteilt.

Tània Verge: Wir haben es hier mit zwei Phänomenen zu tun. Auf der einen Seite ist die Willkür. Sie ist Teil des Feindstrafrechts. Im Fall von Carme Forcadell fällt auf, dass ihr Fall abgesondert wurde. Sie wurde am Obersten Gerichtshof in Madrid angeklagt, aber die übrigen Mitglieder des Präsidiums vor einem ordentlichen Gericht in Katalonien. Auch die Strafen gegen letztere sind ungerecht. Das Präsidium hat die Pflicht, die geforderten Debatten im Parlament zuzulassen. Es ist kein Zensurorgan.

Doch der Unterschied ist sehr deutlich, wurden sie wegen Ungehorsams zum Amtsverbot verurteilt, so bekam Forcadell eine lange Haftstrafe. Im Fall des Polizeichefs Trapero ist das ähnlich. Quim Forn, sein politischer Vorgesetzter, wurde als Innenminister ebenfalls am Obersten Gerichtshof wegen Aufruhr verurteilt, Trapero und andere am Nationalen Gerichtshof allerdings freigesprochen. Wir haben also die gleichen Vorgänge, die an unterschiedlichen Gerichten völlig unterschiedlich bewertet werden.

Das gilt genauso für die Anklagen wie für die Strafen. Beim Feindstrafrecht handelt es sich um eine klare politische Verfolgung. Carme Forcadell wird vor allem für ihre vorherige Tätigkeit als Präsidentin des Katalanischen Nationalkongresses (ANC) bestraft und weniger für ihr Wirken als Parlamentspräsidentin danach. Es war der ANC, der diese große friedliche Bewegung für die Unabhängigkeit massiv vorangebracht hat.

Die Repression hat, was die Geschlechterfrage angeht, andere Wirkungen. Wir haben das bei den gewalttätigen Überfällen auf Wahllokale beim Referendum gesehen, wo Frauen von Polizisten und Zivilgarden begrabscht und verbal erniedrigt wurden. Die Repression wirkt anders auf Frauen als auf Männer.

So haben Carme Forcadell und Dolors Bassa, als sie schließlich in Katalonien inhaftiert waren, es vorgezogen nicht gemeinsam in einem Gefängnis mit den anderen Gefangenen inhaftiert zu sein, sondern sie wollten möglichst nahe bei den mehr als 80-jährigen Müttern sein, um ihnen lange Fahrten zu Besuchen zu ersparen.

Marta Rovira, die Generalsekretärin der Republikanischen Linken (ERC), hat zum Beispiel das Exil in Genf vorgezogen, um nicht von ihrer Tochter getrennt zu werden. Es spiegelt sich auch hier die patriarchale Arbeitsteilung wieder, die Frauen dazu bringt, diese Aufgaben zu übernehmen. Wir haben das zum Beispiel auch gesehen, als alle in Madrid noch in der Untersuchungshaft inhaftiert waren. Es wurde in der patriarchalen politischen und medialen Welt fast nur über die gefangenen Männer in Soto del Real gesprochen und nur sehr wenig über die Frauen in Alcala Meco.

Das änderte sich auch nach der Verlegung nach Katalonien nicht. Deshalb wurde hier die Kampagne #capdonaenloblit (Keine Frau wird vergessen) ins Leben gerufen. Es geht darum, die mediale Aufmerksamkeit auch auf sie zu richten und zu zeigen, dass sie wichtige politische Akteure sind und eine enorme moralische Autorität haben.