Lockdown 2.0 und das Versagen der Politik

Bild: F.R.

Die Verfechter einer evidenzbasieren Coronabekämpfung melden sich zu Wort. Doch werden sie sich durchsetzen?

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Erneut soll das Land unter dem Signum des Infektionsschutzes in einen Lockdown versetzt werden. Die Begründung ist fast wortgleich wie die im März. Es müsse eine Überlastung der Gesundheitssysteme verhindert werden. Dabei sind aktuell gerade mal 6 Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt.

Zudem ergibt sich natürlich die Frage, warum in den letzten Monaten nicht massiv in den Ausbau des Gesundheitssystems investiert wurde? Schließlich war es keine Überraschung, dass sich das Virus im Herbst wieder ausbreiten würde. Auch das Argument, dass es zu wenig Personal im Pflegebereich gibt, ist letztlich eine Bankrotterklärung der Politik. Warum hat sie nicht die Bedingungen für die Beschäftigten verbessert, beispielsweise durch höhere Löhne? Dann würden sich sicher auch mehr Menschen dort engagieren. Zudem hätte man die letzten Monate nutzen können, um gezielt Geflüchtete und Migranten, die in Deutschland leben, für Pflegearbeit zu interessieren. Auch das ist nicht in größeren Stil geschehen.

Es kann vermutet werden, dass es von politischer Seite keine großen Bemühungen gegeben hat, das Gesundheitssystem auf die zu erwartenden verstärkten Corona-Ausbrüche vorzubereiten. Schließlich hilft die Angst vor einer Überlastung des Gesundheitssystems bei der Konditionierung der Bevölkerung, damit sie den Lockdown 2.0 möglichst widerstandslos hinnimmt. Denn wer will schon Gefahr laufen, zu ersticken, weil kein Sauerstoffgerät zur Verfügung steht?

Wer vor so einer tödlichen Alternative gestellt wird, soll dann Fragen nicht mehr stellen, die sich ja geradezu aufdrängen. Warum wird jetzt erneut ein Lockdown verhängt, wo in den letzten Wochen viele Fachleute und Politiker erklärten, dass es einen zweiten Lockdown schon deshalb nicht mehr geben wird, weil man mittlerweile das Virus, seine Ausbreitung und die Folgen besser als im Frühjahr kenne und deshalb zielgenauer reagieren könne? Der Lockdown im Frühjahr wurde gerade damit begründet, dass dieses Wissen über das Virus damals eben nicht vorhanden war. Es wurde sogar explizit von Fehleinschätzungen geredet, die man nun vermeide könne.

Warum wird Föderalismus auf einmal über Bord geworfen?

Warum wird dann jetzt weitgehend die gleiche Politik betrieben wie im März? Eine weitere Frage drängt sich ebenfalls auf. Warum wird nun wieder auf zentralistische Lösungen gesetzt, d.h. warum beugen sich alle Ministerpräsidenten einer Linie, mit der sich Merkel beim letzten gemeinsamen Treffen noch nicht durchsetzen konnte. Warum hat man also plötzlich die Grundsätze der regional abgestimmten Lösungsansätze über Bord geworden, die doch in den letzten Monaten immer mit viel Verve und guten Argumenten verteidigt wurden?

Zur Erinnerung: Es gab eigentlich die seit März eine Strömung, die für ein zentrales Durchregieren in der Corona-Krise eintrat. Sie mokierte sich über regionale Lösungen und sprach von Kleinstaaterei und von einem Flickenteppich unterschiedlicher Maßnahmen. Dagegen wurden von einer anderen Strömung die Vorteile des Föderalismus hervorgehoben. Es sei gerade eine Stärke, dass dadurch zielgenauer auf die Corona-Fälle reagiert werden könne. Nun scheint dieses Lob des Föderalismus auf einmal nicht mehr zu gelten.

Evidenzbasierte Maßnahmen statt zentralen Lockdown

Die Vorsitzende der Linken in Berlin, Katina Schubert, jedenfalls scheint zurzeit noch dem Zentralismus à la Merkel und Lauterbach zu widersprechen. In einem Taz-Interview sprach sie sich für "evidenzbasierte Maßnahmen" bei der Corona-Bekämpfung aus

Private Kontakte kann man auch beschränken, ohne deswegen an die Wohnung gefesselt zu sein. Man kann trotzdem zu Veranstaltungen gehen an Orten, an denen das Hygienekonzept stimmt, die Abstandsregeln beachtet werden, wo es ein Wegeleitsystem gibt. Diese Orte sind wahrscheinlich sogar sicherer als eine Zweizimmerwohnung für eine fünfköpfige Familie.

Katina Schubert

Auch gegen Schließungen von Kneipen und andere Freizeitlokalitäten spricht sich Schubert aus:

Es ist falsch, deren Öffnungszeiten und Angebote völlig runterzufahren. Viele Betreiber haben massiv investiert in Lüftungssysteme, haben Pläne entwickelt, wie ausreichend Abstand gewahrt werden kann. Wenn wir die jetzt schließen, gehen sie pleite. Wir müssen sehr klug agieren, sonst kommt auf uns eine massive Insolvenzwelle zu, die in Berlin, wo der Dienstleistungsbereich für 85 Prozent der Arbeitsplätze sorgt, zu erheblichen sozialen Verwerfungen führen wird. Also müssen wir sehr vorsichtig mit solchen pauschalen Maßnahmen sein.

Katina Schubert

Tatsächlich gibt es eben keinen Beweis dafür, dass durch ein immer weiteres Herunterfahren der Freizeitgestaltung die Corona-Ansteckungen abnehmen. Im Sommer hat man öffentliche Feten als Infektionsquelle ausgemacht. Die sind schon witterungsbedingt wesentlich geringer geworden und trotzdem sind die Infektionszahlen gestiegen. Dabei gibt es auch keine Evidenz, dass die Clubs Infektionsquellen sind. Genau so wenig gibt es Beweise, dass sich Menschen beispielsweise in Schwimmbädern anstecken und trotzdem sollen die ab nächste Woche wieder geschlossen werden. Dabei sind viele Menschen auf das tägliche Schwimmen auch im Interesse ihrer Gesundheit angewiesen. Hier stellt sich wieder die Frage, ob die Folgen einer Schließung nicht schlimmer sind, als eine weitere Öffnung.

Haben die Gegner der Corona-Maßnahmen gelernt?

Nicht nur an die Politik, sondern auch an die Gegner der Corona-Maßnahmen stellen sich angesichts des Lockdowns 2.0 Fragen, was sie in den letzten Monaten gelernt haben. Eines müsste zumindest klar sein, Demonstrationen angeblicher Liberaler, die dann diverse Rechte anziehen, können kein Vorbild sein.

Zunächst sollten möglichst flächendeckend Gerichte eingeschaltet werden, die die neuen Lockdown-Maßnahmen auf ihre Verhältnismäßigkeit prüfen sollten. Auf diese Weise sind in den letzten Monaten einige Maßnahmen, wie das Beherbergungsverbot, aufgehoben worden. Meistens hat die Politik dann neue Kniffe gefunden, um die Maßnahmen dann doch noch umzusetzen. Zudem sollte ein Protest verschiedener Interessengruppen sehr schnell artikuliert werden. Dann wäre es durchaus möglich zu zeigen, dass es gute Gründe gegen einen neuen Lockdown gibt.

Corona-Schweigeklausur statt Lockdown

Da gib es die Verfechter kapitalistischer Vernunft, die durch den Lockdown Profiteinnahmen haben. Sie setzen sich im Handelsblatt für Alternativen zum Lockdown 2.0 ein. So schreibt Thomas Tuma:

Ein Lockdown muss her - aber bevor Sie jetzt gleich wieder erschaudern: Damit ist kein weiterer ökonomischer Stillstand gemeint, denn da ist wirklich schon genug Schaden angerichtet worden seit März.

Nein, die Rede ist von einem anderen Lockdown, der im Gegensatz zu den angekündigten drakonischen Maßnahmen, nicht mal viel kosten würde: Was wäre, wenn Teile der Regierung, der "Experten" aller Art, aber auch mancher Medien in eine Art freiwillige Corona-Schweigeklausur gingen? Sagen wir: zwei Wochen? Um die akute Welle der Hysterie, Panikmache und Untergangs-Menetekel zu brechen? Wäre das nicht ein spannendes Experiment - und vergleichsweise harmlos im Vergleich zu all den Operationen am offenen Herzen einer Gesellschaft im Ausnahmezustand, wie wir sie in den vergangenen Monaten erleben mussten?

Thomas Tuma

Man muss sich natürlich vergegenwärtigen, dass es hier um die Aufrechterhaltung des Profits unter allen Umständen geht. Trotzdem gibt es Situationen, in denen die Position der kapitalistischen Vernunft gegenüber einer Politik der Angst zu verteidigen ist. Eine solche Position der Vernunft wird auch von einer Reihe von Medizinern und Wissenschaftlern unterstützt, die in einem Aufruf fordern, dass "Evidenz- und Erfahrungsgewinn im weiteren Management der Covid19-Pandemie" berücksichtigt werden muss. Ihre Kernthesen lauten:

Abkehr von der Eindämmung alleine durch Kontaktpersonennachverfolgung.
Einführung eines bundesweit einheitlichen Ampelsystems anhand dessen sowohl auf Bundes- als auch auf Kreisebene die aktuelle Lage auf einen Blick erkennbar wird.
Fokussierung der Ressourcen auf den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben.
Gebotskultur an erste Stelle in die Risikokommunikation setzen.

KBV-Positionspapier

Unterstützt wird die Initiative von fast allen ärztlichen Berufsverbänden unter der Initiative der Kassenärztliche Bundesvereinigung, von Prof. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn, und von Prof. Jonas Schmidt-Chanasit, Leiter der Abteilung Arbovirologie am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg.

Werden auch diese Stimmen der Wissenschaft in die Ecke der Verschwörungstheorie gerückt, wie es im Frühjahr mit Wissenschaftlern geschehen ist, die der offiziellen Virologie widersprachen? Oder gelingt tatsächlich ein Protest gegen den Lockdown 2.0, der evidenzbasierte Maßnahmen fordert, wie dies die Wissenschaftler und auch Katina Schubert von der LINKEN machen? Die nächsten Tage werden es zeigen. Wenn sich die nicht evidenzbasierte Linie des Lockdowns durchsetzt, könnten die Einschränkungen der persönlichen Freiheits- und Grundrechte noch stärker als im Frühjahr durchschlagen. Bundesinnenminister Seehofer hat bereits mehr Bundespolizei und eine Schleierfahndung angekündigt.