Keine Gewalt ist auch keine Lösung

Bild: © 2020 Alamodefilm

"Und morgen die ganze Welt" zeigt die Antifa bei der Arbeit. Und heute ist vorerst die letzte Chance, den Film zu sehen

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(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. ...
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."
Grundgesetz, Art 20

Wo der Besen nicht hinkommt, wird der Staub nicht von selbst verschwinden.
Mao Tse Tung

Luisa, gespielt von der aus dem erfolgreichen Roadmovie "303" bekannten Mala Emde, studiert Jura im ersten Semester. Eine höhere Tochter aus land-adeliger Familie. Es gibt viel Platz in dem großen alten Haus mit prachtvollem Garten, am Wochenende geht man auf die Jagd, trägt ein schilfleinenes Jankerl oder ein Barbour-Jacket und dazu Trachtenhut, das Haus birgt einen Golf-Schrank, einen Waffenschrank mit Jagdgewehren und viele alte Bücher. Was man halt so hat zuhause.

Luisas Eltern sind freundlich, nachsichtig, tolerant, auch dann, als die Tochter in eine linke Kommune zieht: Antifa. Schließlich sind wir doch alle gegen Faschismus, nicht wahr? Die Schulenburgs haben wir neulich erst getroffen, mit einem Tresckow war Papa in der schlagenden Verbindung, und der Großonkel war sogar beim 20. Juli dabei. Dies ist das Milieu. Und auch der altväterlich-gönnerhafte Spruch: "Wer mit 20 nicht Kommunist ist, hat kein Herz..." darf hier nicht fehlen. Ihr Milieu tut das alles lächelnd ab: "Freie Liebe und so und abends Gruppendiskussion." Luisa selbst ist allerdings nicht zum Lächeln zumute.

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Von den ersten Minuten des Films an ist Luisa einerseits "die Neue" in einer idealistischen, auch konfliktbereiten Gruppe junger Leute, die die Welt besser machen wollen und gegen den alltäglichen Rassismus, gewaltbereites Ressentiment und rechte Gesinnung kämpfen, die sie als Vorbote eines neuen Faschismus empfinden.

Mit ihren Augen lernt man die Antifa-Gruppe, das besetzte Haus und alles weitere kennen, taucht ein in eine neue fremde Welt zwischen ernstem Engagement und verspielten Abenteuer. Andererseits gehört Luisa hier irgendwie doch nie ganz dazu, denn die Verhältnisse, aus denen sie kommt, sind allzu gesichert - ihr zumindest kann nicht wirklich etwas passieren. Das merkt man, sobald es in diesem Film ans Eingemachte geht, sobald sich Luisa politisch radikalisiert.

Am Anfang ist aber alles ganz harmlos. Im Jura-Seminar geht es um Artikel 20 des Grundgesetzes. Das darin festgeschriebene Recht auf Widerstand - "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen" - gehört zum Jura-Standardwissen; den Zuschauern wird es gleich dreimal sehr deutlich gesagt. Und dies ist ein wichtiger Punkt: Denn heute berufen sich Neonazis und Rechtsextremisten auf jenes Widerstandsrecht - gegen eben diese demokratische Ordnung.

Überhaupt sind die Anspielungen auf die aktuelle Wirklichkeit in diesem Film mit Händen zu greifen. "Und morgen die ganze Welt" ist engagiertes, politisches Kino, das einerseits versucht, die gängige Moralisierung des Politischen möglichst zu vermeiden, andererseits vor direkten Verweisen auf aktuelle Geschehnisse und Akteure nicht zurückschreckt, auch wenn diese bestimmt nicht allen gefallen werden:

So sieht man, wie Luisas Gruppe gegen eine politische Kundgebung demonstriert. Deren Plakate und Polit-Design ist absolut unverkennbar in Anspielung auf die AfD gestaltet. Sogar das Aussehen der Rednerin ist dem öffentlichen Aussehen einer Alice Weidel zum Verwechseln ähnlich.

Was die geschlossenen Gesellschaften machen

Nicht weniger klar streitet dieser Film auch gegen die verlogene, abwiegelnde Formulierung vom Rechts"populismus" und zeigt bewußt unmissverständlich, dass es sich um Extremisten handelt, und dass die Übergänge vom parlamentarischen Rechtsextremisten zur gewaltbereiten und gewalttätigen Neo-Nazi-Szene in Praxis fließend sind.

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Die Zuschauer werden Zeugen dieser Vernetzung, weil sie hier gewissermaßen der Antifa bei der Arbeit zusehen. Weil der Film zeigt, was weniger bekannt ist: Was diese geschlossenen Gesellschaften der radikalen Linken eigentlich den ganzen Tag machen. Es beschränkt sich nämlich nicht auf Musik hören, gemeinsam abhängen, Fitness-Training als Vorbereitung für die nächste Demo, Kampfsport um gegen die Neonazis gewappnet zu sein, Plakate kleben, Containern und Klamotten für Flüchtlinge sammeln.

Oft genug übernehmen die Antifa-Mitglieder jene tagtägliche Arbeit, die man sich von den Behörden erwarten würde: Dichte Beobachtung der Neonazi-Szene, Beobachtung jener vielen Übergänge zwischen offenem Faschismus und gewalttätigen Spießertum, die Erkundung jener Garagen, in denen Mitgliederlisten der Organisation lagern, aber auch all der Keller, in denen schon Sprengstoff und die Munition für den nächsten Terroranschlag bereitgehalten werden.

Nachdem die erste Hälfte des Film ein Panorama des Antifa-Alltags ausbreitet, spitzt die Regisseurin die Erzählung in der zweiten Hälfte auf die Entdeckung eine solchen Garage zu. Es wird ernst: Ein Sprengstofflager wird entdeckt. Für Luisa und ihre Freunde stellt sich die Frage: Was tun?

Damit wird aus der Coming-of-Age-Milieustudie eine Polit-Thriller-Handlung, deren Grundierung die entscheidende Frage bildet: Wann ist gegen Gewalt auch Gegengewalt erlaubt, wo greift das Widerstandsrecht des normalen Bürgers?

Die Gewaltfrage

In einer für den deutschen Film leider sehr ungewöhnlichen Weise wird hier die Gewaltfrage gestellt. Endlich mal schwört ein Film der Gewalt nicht pauschal ab, zugunsten eines unverbindlichen, spießigen Moralismus oder billigen Pazifismus, sondern formuliert die Herausforderung angemessen: Manchen Anfeindungen muss man mit Gewalt begegnen; der Entschluss zur Gewalt kann individuell eine moralische Lösung sein, auch wenn man nicht Graf von Stauffenberg heißt. Die Frage "Wann ist Widerstand etwas Positives?" steht im Zentrum - in dessen Tradition versteht sich die Antifa.

Dabei verherrlicht dieser Film keineswegs Gewalt. Sondern er lässt nur einige Fragen offen und verzichtet gerade am Ende darauf, alle positiven Figuren explizit der Gewalt absagen zu lassen. Zudem wird hier der Unterschied zwischen Angriffsgewalt und verteidigender Gegengewalt deutlich herausgearbeitet, ebenso wie die genau so wesentliche Differenz zwischen Gewalt gegen Sachen und der gegen Menschen.

Der Film räumt auf mit dem Missverständnis von Politik als einer Art öffentlicher Wohngemeinschaft, in der immer alles "ausdiskutiert" werden muss - genau so wie mit dem therapeutischen Blick auf unsere Verhältnisse; mit der frommen Lüge, dass man irgendwie "doch alles verstehen muss" und "über alles reden kann"; er macht sich die Neonazis nicht bequem.

Die Neonazis sind hier nicht "one of us", "eigentlich so nett wie wir", bloß auf die schiefe Bahn geraten. Sondern sie sind der Feind. Keine gebildeten Bürger, keine "talking killer" mit Gründen für Rassismus, Menschenverachtung und Mord, sondern dumpfe Primitivlinge, die wir nicht verstehen müssen, auch wenn sie in den Parlamenten sitzen. Einige haben an dem Film auszusetzen, dass er die Neonazis nur als stumpfe Idioten zeigt. Das ist richtig, aber was sind denn nach ihrer Ansicht die Neonazis tatsächlich? Intellektuelle?

Julia von Heinz macht klar, dass es so etwas wie "Rechtspopulismus" nicht gibt, außer in der Sprache der Beschwichtiger. Es gibt Rechtsradikale, Rechtsextremisten und Neo-Nazis, und zwischen denen kann man differenzieren. Ein Populist ist jemand wie Markus Söder. Oder Friedrich Merz.

In seinem Kern ist "Und Morgen die ganze Welt" ein persönliches Drama, das vor sehr aktuellem politischem Hintergrund ein moralisches Dilemma entfaltet. Manches an Julia von Heinz' Film kann man kritisieren. Es war vorher schon klar, dass diese Geschichte weder der Antifa gefällt, noch den Hütern von Recht und Ordnung.

Vor allem würde man sich eine prägnantere, zugleich offenere Filmsprache wünschen, etwas mehr Mut zum Exzess und etwas weniger Willen zum braven "guten Geschmack". Aber im Land der Blinden ist die Einäugige Königin.