Der "Einzeltäter" und das "Terrornetz"

Karte: Nordnordwest (mitDaten von OpenTopoMap undOpenStreetMap)/CC BY-SA-3.0

Anschlag in Wien: Ein Angreifer, doch wie viele Täter?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kaum zwei Tage nach dem Terrorangriff in der Wiener Innenstadt am Montagabend erklärte der österreichische Innenminister Karl Nehammer, die Durchsicht von mehr als 20.000 vorliegenden Videos habe "die Ein-Täter-Theorie" bestätigt.

Gut möglich, dass Herr Nehammer, der nach einem Berufseinstieg beim österreichischen Bundesheer eine Weiterbildung in Politischer Kommunikation absolviert hat, mit der Wissenschaftstheorie seines Landsmannes Karl Popper nicht vertraut ist. Popper zufolge können sich Theorien nur bewähren, sie können nicht bewiesen werden.

Wäre Karl Popper, der nicht auf dem Gebiet der Politischen Kommunikation, sondern der Philosophie tätig war, der derzeitige Innenminister Österreichs, so hätte er vielleicht mitgeteilt: dass die provisorische Theorie, der Angriff in Wien sei von nur einem Täter verübt worden, noch nicht widerlegt worden ist.

Unmittelbar nach dem Anschlag hatte Innenminister Nehammer noch eine andere Theorie vertreten: "Wir gehen derzeit davon aus", sagte Nehammer am Morgen nach der Tat, "dass es mehrere Täter gegeben hat." Später präzisierte ein Sprecher des Innenministeriums, man gehe von "maximal vier Tätern" aus.

Kaum neun Minuten nach Beginn des Anschlags, so die offiziellen Angaben, sei der Täter gestellt und erschossen worden. Doch Augenzeugen, die an dem Abend bei mildem Wetter in dem Ausgehviertel unterwegs waren, hatten von Angriffen in mehreren Straßenzügen berichtet. Laut Angaben der Polizei gab es sechs Tatorte. Der Angreifer muss also sehr flink gewesen sein oder er war nicht allein.

Sehr flink und nicht allein war auch die Polizei, sowohl während des Terrorangriffs als auch danach. Nach der Durchsuchung der Wohnung des Täters, der noch am Tatort getötet worden war, hätten 18 Hausdurchsuchungen stattgefunden. Dabei seien 14 Personen verhaftet worden. Wie später mitgeteilt wurde, sind die Festgenommenen zwischen 18 und 28 Jahre alt und haben alle einen Migrationshintergrund.

Die schnelle Reaktion der Einsatzkräfte ergab sich nicht aus Zufall: Wie im Laufe der Woche durchsickerte, hatte die Polizei für den Montagabend einen Großeinsatz gegen Islamisten geplant und deswegen Spezialkräfte in Wien zusammen gezogen. Die Zeitung Kurier berichtet, es seien 290 Beamte verschiedener Spezialeinheiten in der Wiener City konzentriert gewesen. Sie hätten Zugriffe an 50 Adressen geplant.

In österreichischen Boulevardmedien wird nun darüber spekuliert, dass ein "Maulwurf" der Islamisten, von dem man annehmen müsste, dass er den Behörden angehört oder zu diesen einen engen Draht hat, den Großeinsatz verraten hat. Der Täter, so diese Theorie, habe womöglich von der geplanten Razzia erfahren und zu befürchten gehabt, dass seine Waffen gefunden würden.

Um der Öffentlichkeit zu viel Unklarheit zu ersparen, gibt Innenminister Nehammer jedoch bereits am zweiten Tag nach der Tat Entwarnung: Nach der Sichtung von circa 20.000 Videos in nur eineinhalb Tagen — mit 555 Videos pro Stunde sicherlich rekordverdächtige Polizeiarbeit —, sei klar, dass es sich nur um einen Täter gehandelt habe.

Leider gab es jedoch auch von weniger erfreulichen Aspekten der Polizeiarbeit zu berichten: Denn der junge Mann, der mit einer verkürzten Kalaschnikow, einer Faustfeuerwaffe und einer Machete durch das Wiener Vergnügungsviertel gezogen war und wahllos Jagd auf Menschen gemacht hatte, war den Behörden schon seit Jahren einschlägig bekannt.

Weil er sich in Syrien dem IS anschließen wollte, war er letztes Jahr bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Nach seiner vorzeitigen Entlassung, nur wenige Monate vor dem Anschlag, hatte die Polizei in Österreich Informationen erhalten, dass er, als eine von mehreren verdächtigen Personen, versucht hatte, in der Slowakei Munition zu kaufen.

Gegen Ende der Woche schien Innenminister Nehammer seine "Ein-Täter-Theorie" denn auch schon wieder zu relativieren. "Der Kampf gegen die mutmaßlichen Mittäter, Mitunterstützer, das Netzwerk des Terroristen", erklärte Nehammer, "ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen und wird mit aller Härte geführt." Mehrere der Festgenommenen seien einschlägig vorbestraft.

Ebenfalls gegen Ende der Woche erklärte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz vorsichtshalber, dass die Sicherheitsbehörden auch in Deutschland "sehr wachsam" sein müssten, die Gefährdungslage sei unverändert hoch. "Wir müssen jeden Tag auch in Deutschland mit einem islamistischen Anschlag rechnen." Laut Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte der Täter Kontakte zu Gefährdern in Deutschland. Die tagesschau berichtet, dass im Zusammenhang mit Wien bei mehreren mutmaßlichen Islamisten in Deutschland Wohn- und Geschäftsräume durchsucht wurden.

Die Landespolizeidirektion Wien teilt "Telepolis" am Freitag mit, eine Fahndung wie im unmittelbaren Anschluss an den Angriff finde nun nicht mehr statt. Es gelte die "Ein-Täter-Theorie". Aber es liefen noch immer Ermittlungen, alle Polizeistreifen seien sensibilisiert, der Objektschutz sei gewährleistet.

Derweil geht unter Ortskundigen das Gerücht um, dass die Lage in Wien gegen Ende der Woche alles andere als entspannt sei. Angesichts der Vorfälle in dieser Woche sollte das nicht überraschen. Um nur einen vereinzelten Täter werde es sich, so eine Theorie, wohl doch nicht gehandelt haben. Die Polizei sei, meinen manche sogar, noch immer auf der Suche.