Kritik an Israels Politik: eine ethische Landkarte

Es ist eine lange und kontroverse Debatte, welche Kritik an der Politik Israels legitim ist und welche die Grenzen - hin zum Antisemitismus - überschreitet. Wann kann Kritik eingeschränkt werden?

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Es ist eine lange und kontroverse Debatte, welche Kritik an der Politik Israels legitim ist und welche die Grenzen - hin zum Antisemitismus - überschreitet. Im Frühjahr diesen Jahres wurde in deutschen Medien der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert, weil er in seinen Texten Parallelen zwischen der südafrikanischen Apartheidpolitik und der aktuellen israelischen Politik im Westjordanland zieht.

Da die Meinungsfreiheit eines unserer wichtigsten Rechtsgüter ist, ist eine genauere Betrachtung solcher Ereignisse wichtig. Einschränkungen der Meinungsfreiheit geschehen nicht nur auf rein rechtlichem Weg, sondern auch etwa dadurch, dass Redner*innen vor einem geplanten Vortrag wieder ausgeladen werden, eine Aussage medial als verwerflich dargestellt wird usw. Es handelt sich also um kein unübliches Phänomen, und wir brauchen auf jeden Fall klare Prinzipien, ab wann Kritik zurecht eingeschränkt werden darf. Ich möchte für diesen Zweck ein allgemeines Schema für die Einordnung von Kritik vorschlagen. Dabei werde ich zwischen drei Arten von Kritik unterscheiden: guter, schlechter und illegitimer Kritik.

1. Eine ethische Landkarte für Kritiken

Kritik im hier verwendeten Sinne ist eine negative, begründete Bewertung eines politischen Sachverhalts. Gute Kritik erfüllt zumindest folgende Bedingungen:

Inhaltliche Bedingungen:

a) Relevanz

b) begriffliche Klarheit

c) sachliche Angemessenheit

d) logische Widerspruchsfreiheit

d1) intern: die Kritik ist in sich schlüssig und widerspruchsfrei
d2) extern: die Kritik ist kompatibel mit anderen Überzeugungen des Sprechers/der Sprecherin

e) normative Angemessenheit

Praktische Bedingungen:

f) keine moralisch verwerflichen Absichten beim Äußern der Kritik

g) keine moralisch stark negativen Konsequenzen des Äußerns der Kritik

Wann ist eine Kritik schlecht? Wenn mindestens eine dieser Bedingungen nicht erfüllt ist.

Wann wird eine Kritik illegitim? Wenn konkret die Bedingung e) stark verletzt oder wenn f) verletzt wird. Ein Beispiel: e) ist offensichtlich stark verletzt, wenn die Kritik inhaltlich jüdische Menschen diskriminiert. Oft wird in einer Kritik aber nicht eindeutig diskriminiert, sondern ein anderer Inhalt vorgeschoben. In diesem Fall greift Bedingung f). Jemand, der oder die in diskriminierender Absicht negativ über jüdische Menschen redet, handelt zum Beispiel antisemitisch.

Üblicherweise darf nur illegitime Kritik eingeschränkt werden. Der einzige Grenzfall, wo eine Einschränkung auch bei legitimer Kritik gerechtfertigt sein könnte, wird durch Bedingung g) ausgedrückt. Ich nenne diesen Fall, in dem eine Kritik erschreckende Folgen hat und deswegen eingeschränkt werden darf, in Entlehnung von Georg Meggles Terminologie einen "Omega"-Fall. Ein Beispiel für horrende Konsequenzen wäre das massive Erstarken des Antisemitismus. Es ist nicht leicht vorzustellen, dass in einem Omegafall nicht zugleich auch mindestens eine der anderen genannten Bedingungen verletzt wird.

Vonseiten des Staates darf es keine stärkeren juristischen Einschränkungen geben. Auch die Zivilgesellschaft hat aus ethischer Perspektive nur unter den genannten Umständen das Recht, Äußerungen zum Schweigen zu bringen.

Antisemitismus ist eine derartige glasklar illegitime Position. Nicht nur, dass jede antisemitische Äußerung auf theoretischer wie praktischer Ebene obige Kriterien verletzt. In gewisser Hinsicht kann man bezweifeln, dass die vorgebrachten "Gründe" einer solchen Aussage überhaupt Gründe sind. Es stellt sich deswegen die Frage, ob Antisemitismus überhaupt Kritik ist. Doch auch wenn man dies positiv beantwortet: die mit Antisemitismus zum Ausdruck gebrachten Werte (inhaltliche Ebene) wie die damit verbundenen Absichten (praktische Ebene) stehen den Menschenrechten und dem Prinzip der Antidiskriminierung unverzeihlich entgegen. Die Landkarte weist somit Antisemitismus allein schon wegen seiner extremen Diskriminierung als klar illegitim aus (Verletzung von e bzw. f). Wenn man weiters auf die bisherigen Folgen des Antisemitismus schaut, dann handelt es sich dabei um eines der schlimmsten Verbrechen (Bedingung g).

2. Vergleich mit dem deutschen Grundgesetz

Diese Landkarte hat eine wichtige Parallele zum deutschen Grundgesetz. Dort wird festgehalten, dass die Meinungsfreiheit die meisten Formen von Kritik deckt. Ausgenommen sind im Strafrecht ausformulierte Tatbeständen wie üble Nachrede, Verleumdung oder Verhetzung. Der rote Faden dabei: die Meinungsfreiheit darf nur aus sehr starken und stichhaltigen Gründen eingeschränkt werden.

Die Landkarte verbietet jede Verhetzung. Denn bei Verhetzung ist klar, dass die Aussage dem Wortlaut nach verwerflich ist, dass die Absicht des Sprechers/der Sprecherin schlecht ist und dass man mit negativen Folgen rechnen sollte - Punkte e), f) und g). Doch sie geht weiter als der Verhetzungsparagraph. Sie bezeichnet jede diskriminierende Absicht als illegitim. Eine solche muss nicht automatisch in Gewaltaufrufen oder Beschimpfungen (wie im Strafrecht formuliert) münden.

Als ethisches Konzept hat die Landkarte die Zielrichtung, Meinungsfreiheit nur wo wirklich nötig, dort aber konsequent, einzuschränken. Wie bereits erwähnt, sollte man nicht davon ausgehen, dass alle Aussagen, die die Landkarte als illegitim klassifiziert, juristisch verfolgt werden können. Man sollte aber schon überlegen, ob das bestehende Recht nicht plausiblerweise noch erweitert werden könnte. Die historische Entwicklung zeigt, dass eine einmal gesetzte Formulierung nicht in Stein gemeißelt ist und Raum für Verbesserungen lässt. Zum Beispiel wurde in Österreich 2016 der Kreis der Personengruppen, für die der Straftatbestand der Verhetzung gilt1 ausgeweitet.

Während die Landkarte mit Blick auf die Gesetzgebung eine Erweiterung ist, könnte sie mit Blick auf die gesellschaftlich bestehende Praxis, mit kontroverser Kritik umzugehen, aber auch eine Begrenzung sein. Und auch das ist wichtig. Wir brauchen wie erwähnt eine klare Vorstellung davon, wo die ethische Grenze zur illegitimen Kritik verläuft, bevor wir zum Beispiel eine Antisemitismus-Zuschreibung (wie bei Mbembe etwa) treffen. Wie Georg Meggle sagt, kann ein falscher Vorwurf ungerechtfertigt Karrieren - oder noch mehr - zerstören.

3. Vergleich mit dem 3D-Test auf Antisemitismus

Es gibt ein bestehendes und öfter angewandtes Instrumentarium, das ebenfalls den Anspruch hat, legitime Kritik an der Politik Israels von Antisemitismus abzugrenzen: den 3D-Test (Sharansky 2004). Demzufolge ist jede Aussage, die unter einen der folgenden Punkte fällt, antisemitisch:

a) Dämonisierung des Staates Israel,
b) Delegitimierung des Staates Israel,
c) Doppelstandards in Bezug auf die israelische Politik.

Warum dennoch die Landkarte? Ich möchte für jede dieser Bedingungen zeigen, dass sie zu weit gefasst sind und dass sie nach Reduktion auf ihren Kern mit der Landkarte übereinstimmen.

Ad b) Delegitimierung
Zum diesem Kriterium muss zuerst gesagt werden, dass es (wie auch die anderen beiden Kriterien) offen lässt, welcher Begriff von Israel gemeint ist. Die aktuelle israelische Regierung sieht Israel als allein jüdischen Staat (siehe auch Abschnitt 6). Nun gibt es Autor*innen wie Omri Boehm (2020), die eine Einstaatenlösung vorschlagen. Das Ziel dabei ist ein neutraler, pluralistischer Staat. Ein solcher Vorschlag könnte aus der Position der momentanen israelischen Regierung heraus möglicherweise bereits als "Ende Israels" verstanden werden. Unter dieser Lesart würde Boehm Israel delegitimieren - und das wäre dem Kriterium nach antisemitisch. Unter einem anderen Verständnis von Israel folgt dieses Urteil nicht. Das Kriterium der Delegitimation erweist sich also zumindest als vage.

Hinzu kommt ein weiteres (für hier etwas konstruiertes) Fallbeispiel: Manche linke Aktivist*innen fordern etwa das Ende der meisten, aus dieser Sicht kapitalistischen und imperialistischen, Staaten. Als logische Folge aus dieser Position ergibt sich, dass auch das Ende von Israel in seiner momentanen Staatsform gefordert würde - aber eben nicht aus einem israel-spezifischen Grund, sondern aus einem höchst allgemeinen. Diese Position kann verschiedener Kritik ausgesetzt werden - aber sie enthält für sich genommen keine Gründe, Antisemitismus anzunehmen.

Selbstverständlich aber ist eine Position, die Israel delegimiert, weil man den jüdischen Menschen dort schaden möchte, antisemitisch. Eine solche Einstellung, die immer verwerflich ist, kann sich auch mit anderen Kritiken vermischen. Wichtig sind hier immer die Gründe für eine konkrete Äußerung. Und das verweist wiederum auf die Feststellung in obiger "Landkarte": Wenn Israel aus einer negativen Absicht jüdischen Menschen gegenüber delegimiert wird, dann handelt es sich um Antisemitismus. Doch damit reduziert sich das Kriterium der Delegitimierung auf das der (nachweisbaren) Absicht.

Ad a) Dämonisierung
Was die Dämonisierung betrifft, denke ich, dass diese eine Zuspitzung einer Delegitimierung sein könnte. Wenn Israel delegimiert wird, muss es - um Antisemitismus anzunehmen - auch hier wieder einen Bezug zu den dort lebenden jüdischen Menschen geben. Auch für diese Einschätzung ist die Absicht wieder entscheidend. Klar ist aber, dass es Arten der Dämonisierung gibt, die aufgrund der Geschichte nahezu automatisch antisemitisch sind (siehe Abschnitt 5). Ich erörtere später noch, wie sich die Landkarte dazu verhält.

Ad c) Doppelstandards
Wenn jemand Israel hauptsächlich deshalb delegitimiert, weil er oder sie Standards anwendet, die er oder sie bei anderen Staaten nicht anwenden würde, dann handelt es sich auf jeden Fall schon einmal um schlechte Kritik. Etwa Bedingung d) der logischen Konsistenz würde damit sicherlich verletzt. Es ist naheliegend, bei Doppelstandards an eine negative Einstellung des Sprechers/der Sprecherin und an Diskriminierung zu denken. Die Kritik könnte jedoch trotzdem auch aus anderen Gründen, zum Beispiel Unwissenheit, verzerrte Wahrnehmung, Missverständnis, erfolgt sein. Deswegen ist auch hier die Frage nach der Absicht wichtig.

Es spricht ein weiterer Grund dafür, dass man ohne Frage nach der Absicht auch an diesem Punkt nicht auskommt. Micha Brumlik bezweifelt am Kriterium der Doppelstandards, dass es notwendig ist, bei Kritik an Israel vergleichbare Situationen in anderen Ländern im Blick zu haben. Das wäre praktisch gar nicht umsetzbar. Ich glaube, dass das Kriterium aber anders verstanden werden kann. Nämlich so, dass damit bei Israelkritik nur eine potentiell gleiche Kritik an gleichen Sachverhalten anderer Staaten gefordert wird. Der Kritiker/die Kritikerin muss nicht alle Ereignisse der Welt im Blick haben, aber sobald er oder sie mit einem vergleichbaren anderen Sachverhalt konfrontiert wird, muss die Antwort in beiden Fällen eine gleiche sein. Damit hat man wiederum einen Grund, das Kriterium der Doppelstandards auf die Absicht zu reduzieren (wobei es doch geeignet ist, als Faustregel noch eine Rolle zu spielen - siehe Abschnitt 5).

4. Bezug zu Antisemitismusdefinitionen

Die eingangs definierte Landkarte ist dem Definitionsvorschlag des Begriffs Antisemitismus von Georg Meggle entsprungen: Eine antisemitische Handlung ist demnach eine Handlung, die eine antisemitische Einstellung ausdrückt; eine solche Einstellung wiederum besteht darin, dass "ein Jude schon allein deswegen weniger wert sein soll, weil er Jude ist" (Meggle 2019). Diese Definition ist im Vergleich zur Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA einfach. Sie ist klar und ordnet Antisemitismus in den größeren Kontext der Diskriminierung ein. Wenn Antisemitismus eine Art der Diskriminierung ist, erklärt das auch, warum er im Kern und in jeder Form moralisch falsch ist. Denn jede plausible Ethik verbietet in ihrem Kern Diskriminierungen.

Im Einzelfall ließe sich länger darüber diskutieren, ob wirklich jeder Fall von Antisemitismus durch diese Definition abgedeckt ist. Doch sie deckt eine Bandbreite an Fällen ab, und einem auf der Hand liegenden Problem lässt sich entgegnen:

5. Diskriminierende Absichten - und deren Hinweise

Wie Meggle (2019) betont, liegt das praktische Problem jeder Antisemitismus-Definition in der Anwendungsfrage, wer wodurch die Bedingungen erfüllt. Besonders bei dieser Definition, die im Kern von Absichten ausgeht, fällt dieser Umstand sehr stark ins Auge. Absichten können generell nur indirekt, etwa über das Verhalten einer Person oder über einen systematischen Vergleich mit ihren anderen Aussagen, nachgewiesen werden. Und auch dann meistens nicht mit Sicherheit. Doch das macht die Landkarte nicht automatisch unpraktikabel. Folgende Faustregeln für das Erkennen von Antisemitismus (beziehungsweise von Diskriminierung generell) lassen sich beispielsweise formulieren:

a) Wie erwähnt, kann es sein, dass eine antisemitische Kritik dadurch auffällt, dass sie offen diskriminiert (Kriterium e = inadäquates Normensystem). Klar ist, dass heute viele Antisemiten ihre Normen nicht mehr offen sichtbar machen werden.

b) In diesem Fall hilft, wie bereits angesprochen, der Vergleich mit anderen Aussagen des Sprechers/der Sprecherin. Finden sich darunter problematische Inhalte, liegt der Verdacht auf eine verwerfliche Einstellung begründeterweise viel näher. Dies gilt umso mehr, je bekannter die geäußerten Vorurteile sind und je mehr sie historisch mit Antisemitismus in Verbindung stehen.

c) Jemandem, der oder die nachweislich die Bedeutung antisemitischer Vorurteile, Klischees, Propaganda kennt, sollte bei solchen Aussagen zurecht direkt eine antisemitische Einstellung zugeschrieben werden.

d) Schwieriger ist es bei anderen Pauschalisierungen, ungerechtfertigten Verallgemeinerungen, doch auch diese können je nach Kontext vorsichtig als Hinweis gewertet werden.

e) Eine weitere Möglichkeit, Antisemitismus zu entlarven, besteht wie erwähnt darin, auf Doppelstandards zu achten. Wobei diese - siehe oben - nicht automatisch auf Antisemitismus schließen lassen. Aber es mag manchmal klar sein, dass eine diskriminierende Einstellung die beste Erklärung für die Doppelstandards ist - wiederum eine praktische Fausregel.

f) Je schlechter eine Kritik ist, umso mehr erhärtet sich oft der Antisemitismusverdacht. Je mehr zum Beispiel Bedingung c) der empirischen Angemessenheit stark verletzt wird, umso weniger plausibel ist es, reinen Irrtum anzunehmen. Rein haltlose Äußerungen legen eine negative Absicht nahe. Selbstverständlich muss man aber hier sehr genau hinsehen (es gibt eben auch verzerrte Wahrnehmungen usw.).

g) Generell gilt, dass die hier formulierten Faustregeln nicht pauschal angewendet werden dürfen, sondern versucht werden soll, mit ihrer Hilfe ein Gesamtbild zu erhalten.

h) Es mag noch viele weitere Faustregeln geben. Jede Faustregel darf aber immer nur mit einer Begründung angewendet werden. Ziel: Beleg einer diskriminierenden Absicht.

Im Zweifel, wenn die fragliche Einstellung nicht ausreichend nachweisbar ist, soll Kritik nicht als antisemitisch bezeichnet werden. Das Risiko dabei ist, dass höchst problematische Rede zugelassen wird. Das Gegenteil - ohne klares Indiz eine Einstellung zuzuschreiben - ist aber nicht gerechtfertigt. Sowohl weil man damit einzelnen Menschen leicht Unrecht tun könnte, als auch vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit. (Einzige Ausnahme: Ein Omega-Fall - wie oben bereits diskutiert. Wie immer gilt, dass aus einer Ausnahmebedingung keine Regel werden darf. Es muss sich um klar erkennbare und zuordenbare Folgen in einem großen Ausmaß handeln.)

Klarerweise besteht die Befürchtung beim Zulassen von grenzwertiger Meinung dabei, dass sich das gesellschaftliche Klima langfristig wenden könnte. Etwa, indem Antisemitismus erst verdeckt, später dann offener mehr und mehr Zustimmung erfährt. Eine solche Entwicklung ist eine Prognose. Aber wenn wir nicht wissen, welche Art von nicht offensichtlich antisemitischer Kritik in diese Richtung führen könnte, kann keine weitere Einschränkung der Kritik begründet werden. Trotzdem ist diese Befürchtung ernstzunehmen. Neben dem Einschränken von Kritik gibt es diverse andere Mittel, um solchen Entwicklungen entgegenzusteuern. Beispielsweise wäre es notwendig, dass auf allen Ebenen des Bildungssystems vermittelt wird, wie man eine Kritik analysieren und einordnen kann. Diese Fähigkeit soll helfen, nicht auf schlechte Kritik hereinzufallen. Manchmal ist es nicht einfach zu sagen, ob eine Kritik gut oder schlecht ist. Hier sollte man die Fähigkeit entwicklen können, festzustellen, wo das Problem liegt - ob an mangelnder begrifflicher Klarheit der Kritik, an komplexen empirischen Zusammenhängen, die schwer zu verstehen sind etc. Das sind wiederum die einzelnen Punkte der Landkarte.

Praktisches Fallbeispiel: Apartheidkritik

Alles Gesagte soll nun an einem größeren Fallbeispiel angewendet werden. Ich verwende dafür die Kritik Omri Boehms, der meint, die israelischen Politik im Westjordanland sei Apartheid.2 Viele andere Personen sehen sich für eine ähnliche Kritik mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert (Boehm kaum). Wie erwähnt trifft das zum Beispiel auf Achille Mbembe zu; weiters auf die BDS-Bewegung (Vorwurf vonseiten Deutschlands) oder auf eine Aussage des "Movement for Black lives" (Vorwurf vonseiten Israels; S. 39). Und 2017 hat der Sprecher des israelischen Außenministers einen Bericht eines UNO-Gremiums, welcher später zurückgezogen wurde, wegen einer Apartheidzuschreibung als antisemitisch beurteilt.

Es stellt sich die Frage einer klaren Beurteilung solcher Kritik. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass die Apartheidkritik jedenfalls in der Form Omri Boehms legitim ist und ihr daher allenfalls auf Ebene des Diskurses, nicht durch Meinungseinschränkung begegnet werden muss. Dabei lasse ich mangels weiterem Faktenwissen die exakte Einordnung (gute/schlechte Kritik) offen.

Der Reihe nach - die wichtigsten Bedingungen der Landkarte:

Ad b) begriffliche Klarheit:
Es gibt verschiedene Bedeutungen des Begriffs der Apartheid. Eine davon meint die vergangene Situation in Südafrika. Andererseits hat die UN diesen Begriff generalisiert und als "crime of apartheid" (Status: Verbrechen gegen die Menschlichkeit) definiert. Laut dieser Definition ist Apartheid das Dominieren einer "rassischen" Personengruppe, welche eine andere systematisch unterdrückt. Konkret drückt sich das etwa (Liste hier nicht vollständig) in folgenden Punkten aus:

a) Absprechen des Rechts auf Leben oder Freiheit, etwa durch Mord, Zufügen von körperlichem oder psychischem Leid; willkürliche Verhaftungen etc.;

b) Bewusstes Aufzwingen von Lebensbedingungen, die dazu dienen, eine "physische Zerstörung" teils oder ganz zu bewirken;

c) gesetzliche oder andere Maßnahmen, die von politischer, sozialer, ökonomischer, kultureller Partizipation abhalten, die das Recht auf Verlassen und Rückkehr in das eigene Land nehmen, die die Bewegungsfreiheit und freie Versammlung beschneiden, die das Recht auf Nationalität verweigern;

d) gesetzliche oder andere Maßnahmen, die die Bevölkerung anhand rassischer Grenzen aufteilen (Ghettos o. ä.), die gemischte Ehen verbieten, die Land in Beschlag nehmen;

e) Zwangsarbeit;

f) etc.

Man sollte diese Definition sicher noch genauer unter die Lupe nehmen, aber sie liefert einen ersten Ansatzpunkt und ist nachvollziehbar. Ich gehe davon aus, dass Boehm Apartheid in diesem Sinne meint. Kurz gefasst könnte man vielleicht sagen: Apartheid ist starke Diskriminierung, die unter anderem räumliche Segregation als Mittel zum Ziel der Abgrenzung (oder Bereicherung oder Vertreibung/Zerstörung) einsetzt. Somit ist die begriffliche Klarheit gegeben.

Ad c) sachliche Angemessenheit:
Omri Boehm erwähnt folgende empirische Punkte als Beleg für eine starke Diskriminierung:

a) Israel hat ein Nationalstaatsgesetz entworfen, das die "Verwirklichkung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel einzig für das jüdische Volk" vorsieht und "jüdische Besiedlung" zum "nationalen Wert" erklärt.3

b) Israels Grundgesetz spricht in punkto Wahlsystem davon, dass "‘jede Person oder Partei‘, die Israels ‚jüdischen und demokratischen Charakter‘ abstreitet, von der Teilnahme an Wahlen auszuschließen ist."4. Er argumentiert, dass somit arabischstämmige Menschen in Israel theoretisch vom Wahlrecht ausgeschlossen seien. Analog zu den USA, wo schwarze Menschen einen offiziell weißen Staat nicht anerkennen könnten, dürfe man aus seiner Sicht von arabischstämmigen Menschen in Israel nicht verlangen, dass sie sich zu einem jüdischen Staat (staat einem Staat aller Bürger*innen) bekennen.

c) Die Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten unterstehen dem Militärrecht und müssen sich vor Militärtribunalen verantworten, während die jüdischen Menschen, die dort leben, unter dem israelischen Recht stehen. Boehm erwähnt, dass man aufgrund der Dauer (über 50 Jahre) nicht länger von einer gewöhnlichen Besatzung sprechen kann-5

d) Das Errichten israelischer Siedlungen im Westjordanland.

Zusätzlich zu Boehms Evidenz lassen sich auch in anderen Quellen Hinweise auf stärkere Diskriminierung finden:

  • Es gibt das stadtplanerische Ziel, dass in Jerusalem 60% jüdische Menschen (Ziel für Israel gesamt: 70 %) leben sollen.6

  • Die Sperranlage/Mauer, die Israel abschirmen soll, wird von Amnesty International dafür kritisiert, dass sie ins palästinensische Land hineinreicht und dort Ortschaften und Familien voneinander trennt und Bauern den Weg zu ihren Feldern teils versperrt.

  • Human Rights Watch schreibt im World Report 2019, dass die israelische Siedlung Sde Bar im Nachhinein legalisiert wurde.7 Dem gegenüber sind 46 palästinensische Siedlungen von einer Zwangsumsiedlung gefährdet (https://www.hrw.org/world-report/2019/country-chapters/israel/palestine).

  • Auch von Einschränkungen der Bewegungsfreiheit berichtet HRW8; zudem von einer nahezu 100%-igen Rate an Schuldsprüchen vor Militärgerichten. Gefangene werden oft ungerechtfertigt nach Israel gebracht, wodurch auch Familienbesuche erschwert werden.

  • Ein UN-Organ schätzte 2016 mittels einer Simulation, dass ein souveräner palästinensischer Staat das jährliche Bruttoinlandsprodukt um 24 Prozent erhöhen und die Arbeitslosenrate um 19 Prozent senken könnte.9 Ein anderer Bericht geht davon aus, dass die Wirtschaft ohne Besatzung doppelt so stark wäre.

Diese empirischen Hinweise sind nicht einfach im Detail einzuordnen. Aber sie geben einen Hinweis, dass es ein stärkeres Ausmaß an Diskriminierung gibt. Zumindest bei einem groben Überblick fällt auf, dass es in einigen der genannten Diskriminierungen um Landverteilung und Abgrenzung geht - Kategorien, die sich durch einige der Bedigungen des obigen Apartheidbegriffs durchziehen. Andererseits muss natürlich auch verhältnismäßig abgewogen werden, wie viele Bedingungen wirklich klar erfüllt sind.

Ein Hinweis, um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich bietet dies nicht ansatzweise ein komplettes Bild der Situation in Israel und Palästina. Für einen vollständigen Blick müsste selbstverständlich auch die Menschenrechtslage aufseiten Palästinas untersucht und die Geschichte des Konflikts genau angeschaut werden. Mir geht es hier nur darum zu untersuchen, welche Diskriminierungen sich empirisch nennen lassen.

Ad e) normative Angemessenheit:
Israels Politik so wie Boehm zu kritisieren, heißt nicht, die jüdischen Menschen dort dafür pauschal verantwortlich zu machen. Er behauptet auch nicht, irgendetwas am Judentum wäre schuld an den Diskriminierungen, nennt keine antisemitischen Klischees oder dergleichen. Seine Analyse des Zionismus ist differenziert und bezieht sich auf die Geistesgeschichte. Somit sehe ich in seiner Kritik keinen Hinweis auf Aussagen, die offen und eindeutig verfehlt sind. (Natürlich müssen alle Passagen des Buches aber im gesamten Kontext verstanden werden.)

Darüber hinaus äußert er sich bewusst zur Motivation seiner Apartheidkritik: "Vor allem geht es darum, Alternativen zu entwickeln." Das brauche eine "angemessene, sachgerechte Beschreibung der Realität"10.

Ad f) Keine moralisch verwerlichen Absichten beim Äußern der Kritik
Die unter c) genannte Punkte zeigen, dass sich Boehm auf relevante Sachverhalte beziehen kann. Auch das spricht dafür, dass seine Absicht in der Sache begründet liegt (die Faustregel der fehlenden Gründe für eine Kritik kann also keinesfalls zutreffen). Einzelne pauschale Aussagen11 begründen, zumal dabei kein Zusammenhang mit dem Jüdischsein ausgedrückt wird, kaum eine Unterstellung einer negativen Absicht. Als einzige der verbleibenden Faustregeln könnte maximal nach Doppelstandards gefragt werden, da mir jedenfalls keine Aussage Boehms über die palästinensische Politik bekannt ist. Er muss jedoch (wie im Abschnitt 3 aufgezeigt) die palästinensische Politik nicht real kritisieren, um Doppelstandards zu vermeiden. Entscheidend ist die Einstellung - gleiche Sachverhalte gleich zu bewerten. Es gibt keinen offenbar ersichtlichen Grund, ihm eine einseitige Einstellung vorzuwerfen. Dazu kommt, dass Boehm etwa akademischen Boykott Israels, wie von der BDS-Bewegung vertreten, kritisiert, was gegen Einseitigkeit spricht. Somit kann auch die Faustregel der Doppelstandards nicht einfach zur Anwendung kommen. Es scheint also nicht begründet, ihm eine Verletzung der Bedingung f (keine moralisch verwerflichen Absichten beim Äußern der Kritik) zu unterstellen.

Ad g) keine moralisch stark negativen Konsequenzen des Äußerns der Kritik
Wie erwähnt, muss es sehr starke Gründe geben, um eine Kritik aufgrund dieser Befürchtung einschränken zu dürfen. Ich wüsste ich nicht, dass jemand sie bisher schlüssig argumentiert hat.

Die Schlussfolgerung aus alledem: Da Bedingungen e) und f) nicht verletzt sind, ist Boehms Kritik nicht illegitim - und darf dementsprechend geäußert werden. Für eine weitere Einordnung der Kritik müsste man die anderen Bedingungen noch genauer analysieren. Das sollte Aufgabe eines Diskurses sein.

Fazit

Ich habe eine Landkarte für die Einordnung von Kritik im Allgemeinen vorgeschlagen, diese begründet und konkret auf Kritik an Israel angewandt. Im Fall von Omri Boehms Apartheidkritik hat sich gezeigt, dass diese nicht illegitim ist. Selbiges dürfte auch für analoge Kritiken gelten - es muss ja der gleiche Maßstab für alle angewandt werden. Es ist bei legitimer Kritik nicht erlaubt, diese zu unterdrücken und einzuschränken. Wo es passiert, verstößt dies aus ethischer Sicht gegen die Meinungsfreiheit.

Gleichzeitig muss Antisemitismus klar erkannt und ihm wo überall möglich entgegengetreten werden. Das ist kein Widerspruch zur Meinungsfreiheit. Anhand mehrerer Faustregeln habe ich versucht, Hinweise zu geben, wie jemandem gerechtfertigt Antisemitismus zugeschrieben werden kann. Sobald Antisemitismus klar vorhanden ist, muss diesem wo möglich mit dem Gesetz, in Vorstufen bereits über kräftige Entgegnung, Solidarität und Bildung entgegengewirkt werden.

Eine wichtige praktische Aufgabe im Sinne dieses Artikels wäre, genauer zu recherchieren, inwiefern die Apartheidkritik Boehms das Kriterium guter Kritik erfüllt, und andererseits die Analyse auch auf die Position Mbembes, auf Texte der BDS-Bewegung usw. anzuwenden.

Danke an meine Freunde Alex und Sibille für sehr hilfreiche Diskussionen über schwierige Passagen dieses Textes und an Georg Meggle für den Anstoß zum Schreiben und seine großartige Unterstützung.

Quellen:

Omri Boehm (2020), "Israel - eine Utopie", Berlin: Propyläen.

Georg Meggle (2019), "Genau wann bin ich Antisemit?", Beitrag auf Telepolis vom 30. Oktober 2019.

Nathan Sharansky (2004), "3D Test of Anti-Semitism: Demonization, Double Standards, Delegitimization", Jewish Political Studies Review 16:3-4 (Fall 2004).