Der Lohn des Angriffskrieges

Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar und sein aserbaischanischer Amtskollege Zakir Hasanov bei einem Treffen am 10. November in Baku. Bild: Verteidigungsminsiterium Aserbaidschan

Der türkisch-aserbaidschanische Sieg im Krieg um Bergkarabach wird Ankara zu weiteren Kriegsabenteuern und ethnischen Säuberungen verleiten

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Für Armenien dürfte der 9. November 2020 als eine der dunkelsten Stunden in die Geschichte eingehen. Ohne nennenswerte militärische Unterstützung Russlands, konfrontiert mit einer türkisch-aserbaidschanischen Übermacht, die islamistische Söldner als Kanonenfutter einsetzte und auf neueste westliche Nato-Militärtechnik zurückgreifen konnte, musste sich Jerewan einem demütigendem Diktat fügen, das faktisch den gegen Bergkarabach geführten Angriffskrieg legitimiert.

Das Waffenstillstandsabkommen, unterzeichnet von Armenien, Aserbaidschan und Russland unter Ägide des Kremls, sieht nicht nur das Einfrieren des gegenwärtigen Frontverlaufs vor, der weite Teile des Südens von Bergkarabach und dessen zweitgrößte Stadt Schuschi dem Aggressor zuschlägt, sondern auch die Räumung der Pufferzone zwischen Armenien und Bergkarabach, die nach dem Bürgerkrieg des 1990er Jahre von Armenien gehalten wurde.

Somit hat es Aserbaidschan vermocht, die wichtigste Versorgungsarterie des Landes bei Schuschi zu kappen und eine künftige militärische Verteidigung des nördlichen Bergkarabach, das von Armenien gehalten wird, nahezu unmöglich zu machen. Das Abkommen lässt nämlich keine dauerhafte Lösung des Konflikts erkennen, es ist auf fünf Jahre beschränkt. Für die armenische Bevölkerung Bergkarabachs, die diese Region seit Tausenden von Jahren bewohnt, wird der Deal die weitgehende Vertreibung zur Folge haben.

Die ethnische Säuberung dieser historischen Siedlungsregion wird im Rahmen des Diktats faktisch festgeschrieben. In den vergangenen Wochen mussten bis zu 100.000 Armenier vor den Kämpfen flüchten, die größtenteils nicht mehr zurückkehren können in ihre Häuser im Süden der armenischen Enklave, die nun von einem Regime okkupiert wird, das selbst die Benutzung armenischer Namen verboten hat.

Das Diktat sieht die Verlegung von knapp 2.000 russischen Soldaten nach Bergkarabach vor, die dort entlang des Frontverlaufs für fünf Jahre stationiert werden. Eine weitere Stationierung nach diesem Zeitraum wird von der Zustimmung aller Konfliktparteien abhängig gemacht. Neben der Räumung aller Gebiete zwischen Armenien und Bergkarabach wird Russlands Militär einen Korridor von fünf Kilometern überwachen (Lachin-Korridor), der die Versorgung von Nord-Bergkarabach sicherstellen soll.

Das Abkommen sieht zudem ein Rückkehrrecht für aserbaidschanische Bürgerkriegsflüchtlinge (rund 700 000) vor, ohne die armenischen Flüchtlinge, die Aserbaidschan in den 1990ern verlassen mussten (zwischen 300 000 und 500 000), auch nur zu erwähnen.

Geopolitische Resulate für Ankara

Der Waffenstillstand betrifft nicht nur Bergkarabach. Armenien musste einer Einschränkung seiner staatlichen Souveränität zustimmen und sein Territorium für türkischen und aserbaidschanischen Transitverkehr öffnen. Jerewan muss den Transport von Personen, Gütern und Fahrzeugen zwischen der südwestlich von Armenien gelegenen aserbaidschanischen Exklave Nakhichevan und den jüngst von Baku eroberten Gebieten um Bergkarabach gewährleisten, die über Südarmenien abgewickelt werden sollen.

Die Kontrolle hierüber übernimmt der russische Geheimdienst FSB. Da Nakhichevan über eine Grenze mit der Türkei verfügt, ist Ankara einem strategischen geopolitischen Ziel, der Etablierung einer direkten Verbindung an das Kaspische Meer, mit dem Kriegsergebnis einen großen Schritt nähergekommen.

Dennoch geht der militärische Sieg Ankaras - der auch ein Sieg der türkischen Drohnen-Flotte gegen die veraltete russische Militärtechnik ist, auf die das verarmte und isolierte Armenien zurückgreifen musste - mit einem geopolitischen Rückschlag einher. Das Waffenstillstandsabkommen wurde nämlich unter Ausschluss der Türkei verhandelt und unterzeichnet, was dem Streben Ankaras nach mehr Einfluss im Kaukasus zuwiderläuft. Es werden keine türkischen Soldaten in Bergkarabach stationiert, sondern nur eine Beobachtungsmission auf aserbaidschanischem Gebiet eingerichtet.

Das Regime in Baku und die Staatsislamisten in Ankara müssen sich mit den Geländegewinnen auf Kosten Bergkarabachs und einer russisch kontrollierten Transitroute - wiederum auf Kosten Armeniens - begnügen, ohne dass die Türkei als Garantiemacht in der Region anerkannt würde. Somit erscheint Russland als der taktische Sieger dieses Konflikts.

Erfolg für Putin

Der Kreml befand sich nach Ausbruch der Kämpfe in einer äußerst schweren Lage, da seine Hegemonie im Südkaukasus von Ankara direkt herausgefordert wurde. Zudem unterhält Russland einträgliche Beziehungen mit der Türkei (Energieträger, Atomkraftwerke, Waffen) wie mit Aserbaidschan (Waffen), die eine direkte oder indirekte militärische Konfrontation zum Schutz des formellen Bündnispartners Armenien zerstören würde. Entweder Ankara und Baku, oder Jerewan - der Kreml musste sich entscheiden.

Mit dem Waffenstillstand konnte Aserbaidschan dazu gebracht werden, trotz der massiven türkischen Militärhilfe einen Deal abzuschließen, der ohne türkische Beteiligung zustande kam. Putin wollte so einen Keil zwischen Erdogan und Alijew treiben. Hierzu musste der Kreml aber Aserbaidschan äußerst weit entgegenkommen - und dies konnte nur auf Kosten Armeniens geschehen.

Die Exklusion der Türkei aus dem "Waffensteilstandabkommen", das die russische Militärpräsenz im Südkaukasus massiv verstärkt, konnte de facto nur durch die weitgehende Erfüllung der türkischen Kriegsziele durch Russland erreicht werden.

Formell hat es Putin vermocht, Ankaras Drang im Kaukasus weitgehend abzublocken, während zugleich eine Entfremdung mit dem rohstoffreichen Aserbaidschan verhindert wurde. Den Preis dafür zahlt Armenien mit den nun anstehenden ethnischen Säuberungen im südlichen Bergkarabach. Ein weiterer Vorteil für den Kreml: Die harschen Bedingungen des Waffenstillstands könnten dem ungeliebten armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan den Job kosten.

Dieser ist im Zuge demokratischer Proteste an die Macht gekommen und war angesichts der russischen Waffenlieferungen an Baku bemüht, engere Beziehungen zum Westen zu knüpfen, was im Kreml für zunehmendes Misstrauen sorgte. Sollte Paschinjan im Verlauf der derzeitigen Auseinandersetzungen in Jerewan stürzen, würde ihm im Moskauer Regierungsviertel sicherlich niemand eine Träne nachweinen.

Ankara bleibt draußen, Baku wird näher an Moskau gebunden, Jerewan zahlt die Zeche - dennoch geht dieser aktuelle geopolitische Erfolg für den Kreml mit einem langfristigen, negativen Fallout einher, der die Stabilität der russischen Einflusssphären im postsowjetischen Raum, insbesondere in Zentralasien, gefährden könnte. In der Region wird sehr genau registriert werden, wie Russland mit seinen Bündnispartnern umgeht - insbesondere in der russisch dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), in der Armenien Mitglied ist.