Am Lagerfeuer für Verschwörungsfans

Screenshot: Dokumentarfilm "Hold-Up" © Tprod

"Hold up": Run auf demagogische Corona-Doku offenbart, dass Frankreich ein größeres Problem mit VT hat als angenommen. Die Verquickung von Gesundheitsversorgung und industriellen Interessen braucht Aufklärung

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Gut zwei eindreiviertel Stunden Zeit muss man übrig haben, um den Film "Hold up" (Überfall) anzuschauen. Es geht darin um Corona, Lügen, Macht, Manipulationen, Staat, Eliten, die WHO, Banken und Bill Gates. Der Regisseur heißt Pierre Barnérias, ein Journalist, der früher für Mainstream-Medien wie z.B. Ouest-France oder France Inter gearbeitet hat, Religion war sein Spezialthema. Später hat er sich dann mit Doku-Filmen über die Demonstration gegen die "Ehe für alle" und über Geheimnisse hinter Marienerscheinungen in ein Gelände begeben, das mit Verschwörungstheorien zu tun hat und politisch mit rechten Positionen.

"Hold up" wird als Dokumentarfilm gelabelt und als verschwörungstheoretisches Machwerk kritisiert. Als "Überfall auf die Faktenlage" bezeichnet ihn der Frankreich-Korrespondent der österreichischen Zeitung Standard. "Je abwegiger, desto mehr beachtet". Der Film sprenge alle Anklickquoten in Frankreich: über 2,7 Millionen Klicks allein am vergangenen Wochenende.

Genau seien die immensen Zugriffe gar nicht zu ermitteln, berichtete France Inter. Nachdem der Film von der Plattform Vimeo genommen wurde, gibt es ihn derzeit in Gänze auf der Plattform Odysee, in Ausschnitten auf YouTube, auf sozialen Netzwerken und anderswo im Netz zu sehen. 48 unterschiedliche Internetadressen mit dem Film zählte France Inter am vergangenen Montag - und mehr als 400.000 Tweets mit Hashtags zum Film.

Viel beschäftigte Faktenchecker

Wie abzusehen, waren in der Folge die Faktenchecker, die décodeurs der großen Zeitungen, Le Monde, Le Figaro, Libération etc. in der vergangenen Woche sehr damit beschäftigt, die Aussagen des Films zu zerlegen und klar zu machen, dass es sich um komplottistische Inhalte handelt. Einige Prominente, wie der frühere französische Gesundheitsminister, zogen ihre Statements zurück.

In der Aufmerksamkeitswelle, die Hold-up auslöste, fiel der Blick auch auf den Beifall von Carla Bruni, was zu Spekulationen über die Haltung ihres Ehemannes, dem früheren Staatspräsidenten Sarkozy, führte; Monique Pinçon-Charlot, bekannt als linke Forscherin über soziale Ungleichheiten und Stände in Frankreich, fürchtete um ihre Reputation und kritisierte, dass ihr Statement im Film in einem falschen Kontext präsentiert wurde.

Den Problemen, die mit dem Film und den Reaktionen nun aufbrechen, wird mit den üblichen Faktenchecks nicht beizukommen sein. Die Thesen, die im Film präsentiert werden, sind längst bekannt und im Umlauf.

Und selbst wenn zig Veröffentlichungen demonstrieren, dass die Profilerin, die eine der Experten-Leitfiguren der Doku ist, am Ende eine Kostprobe ihrer Expertise gibt, die die Qualität einer esoterischen Aussage über Marienerscheinungen hat, wird dies nicht viel an der Wirkung des Films bei denjenigen ändern, die mit dessen Grundthese einverstanden sind, dass die wahren Scharlatane in den "Machtzentralen" sitzen.

Und es gibt sie doch

Das neue Problem für die französische Regierung, das mit dem Film ans Licht kommt: Bislang ging man in der Regierung wie auch in weiten Teilen der Berichterstattung davon aus, dass die Opposition zu den Corona-Maßnahmen irgendwie überschaubar - und kontrollierbar - ist, nicht vergleichbar mit der in Deutschland mit ihren Massendemonstrationen und Ausläufern in rechte und esoterische Bezirke. Die Anti-Masques galten als kleine Minderheit. Der Erfolg des Films lässt nun anderes ahnen.

Von rechten Seiten wird er willkommen geheißen. Man solle sich den Film anschauen, er sei es wert, empfiehlt zum Beispiel das Observatoire du Journalisme, eine Publikation mit rechtsextremen Verbindungen. Dort heißt es zwar, dass die zentrale These des Films - ein von den Mächtigen über die Corona-Krise in Gang gesetzter Reset, um eine Weltregierung zu schaffen - den Reflex auslöse, dass man seine Zeit mit einer haarsträubenden Behauptung verschwende, aber dennoch habe der Film seine Meriten.

Die Begründung dafür ist so bekannt wie die im Film genannten Verschwörungselemente. Der Film zeige, was die Omerta der Mainstream-Medien ("Lückenpresse") nicht zulasse. Er rege damit eine notwendige Debatte an. Zwar sei die Verknüpfung von Corona mit G5 oder Kryptowährungen bis hin zur "pro-Impfung-Militanz" von Bill Gates und die Reset-Weltregierungs-Behauptung "wenig überzeugend", aber trotz aller Verkürzungen und zweifelhafter Argumente könne der Film eine Debatte über die staatliche Gesundheitsstrategie und die Politik der Angst stimulieren.

Als ob es diese Debatte nicht schon längst gebe. Jeden Tag kann man darüber lesen. Nur ohne die dramatische musikalische Untermalung, ohne die mythischen und demagogischen Skandalisierungen, die den Film zu einem Lagerfeuer für Gefährten im Gefühl machen. Das zählt. Mehr gibt's nicht. Für die Rechten ist das genug, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Für echte Aufklärung und Systemkritik reichts nicht.

"Eine Medizin unter Einfluss": An Skandalen fehlt es nicht

Wie Aufklärung geht, wird exemplarisch in der November-Ausgabe der Le Monde diplomatique von Phillipe Descamps vorgeführt. In seinem Artikel "Eine Medizin unter Einfluss" ( auf Französisch ) schlüsselt er akribisch die Verbindungen zwischen Pharma-Unternehmen, staatlichen Behörden, Universitäten, Forschungsprogrammen, Wissenschaftlern, Politikern und Rechtsprechung auf.

"Die Welt der Gesundheitsversorgung ist systematisch an industrielle Interessen gebunden, beginnend mit der Forschung, der Ausbildung von medizinischen Fachkräften, der Expertise für Gesetzgebungen bis zur Praxis der Ärzte und der öffentlichen Information. Dieses Ensemble an Einflussinteressen ist ein Risiko für die öffentliche Gesundheit wie auch für die Sozialkassen", zitiert Descamps aus einer der raren Publikationen in Frankreich, die sich kritisch mit der übergroßen Abhängigkeit bzw. Einfluss der pharmazeutischen Industrie auseinandersetzt: Formindep.

Darüber ist in der Tat eine Debatte und Aufklärung über die Beziehungen zwischen den Big-Pharma-Unternehmen, Politikern und Medizinern unbedingt notwendig.

In Paris war am Montag ein Prozess mit tragischen Superlativen angesetzt: Rund 5000 Patienten sollen nach längerer Einnahme des Medikaments Mediator an Herzklappenfehlern und anderen schweren Kreislaufproblemen leiden, schätzungsweise 2000 Personen sind deswegen bereits gestorben.

NZZ, September 2019

An Skandalen fehlt es nicht, an Aufklärung schon und noch mehr an politischen Konsequenzen. Was der Artikel in Le Monde Diplomatique detailliert beschreibt, ist eine derart dichte Verquickung der Pharma-Industrie auch mit wissenschaftlicher Forschung, dass es einen großen politischen Willen braucht, um hier für Transparenz zu sorgen - dagegen stehen die Vorteile, die Politiker und Mediziner von der bisherigen Informationspolitik haben. Das ist in Deutschland ganz ähnlich.

Die Debatte dazu gibt es auch nicht erst seit der Corona-Krise. Aber jetzt ist ein guter Zeitpunkt, das genauer anzuschauen. Hold-up hilft da nicht weiter.