Vom Bundestag und parlamentarischer Würde

Bild: A. Delesse (Prométhée)/CC BY-SA 3.0

Warum die Geschehnisse im Reichstagsgebäude kein einmaliger Tabubruch waren. Ein Blick in die Geschichte von Parlament und Protest

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Die Bloggerin und Autorin Rebecca Sommer war bisher nur wenigen bekannt. Bereits im März 2019 finden sich im Netz Hinweise auf ihren Weg nach rechts. Mit ihrem Blog Basisinitiative erregte Sommer einiges Aufsehen, weil er sich als ein Forum von Menschen darstellt, die in verschiedenen Funktionen mit Migranten Kontakt hatten und eine Vermittlung europäischer Werte für die Zuwanderer forderten. Erst vor einigen Wochen haben Klimaaktivisten den Bundestag für eine Protestaktion genutzt. Auch im letzten Jahr gab es ähnliche Aktionen.

Schon Gäste von Bundestagsabgeordneten der Linken bzw. der PDS oder noch davor der Grünen haben für Skandale gesorgt. Als die Grünen noch frisch waren, sorgten sogar die Abgeordneten selbst für die Aufregung. So hat 1983 der hessische Grünen-Landtagsabgeordnete Frank Schwalba-Roth bei einem Empfang im hessischen Landtag einen US-General mit selbst entnommenen Blut bespritzt. Bei Teilen der Friedensbewegung kam die Aktion gut an, bei vielen Politikern der Grünen weniger. 30 Jahre später beschrieb der grüne Politiker die Aktion in einer Broschüre der hessischen Grünen:

"Einmütig wurde beschlossen, dass die beiden einzigen Grünen (Iris Blaul als Fraktionsvorsitzende und ich als einziger grüner Ausschussvorsitzender) dafür sorgen sollten, dass das unsichtbare Blut auf der Uniform von Generalen sichtbar gemacht werden sollte. Als der Oberkommandierende des V. US-Korps dann das Wort ergreift und Iris beginnt, Flugblätter zu verteilen, spritze ich mit den Worten "Blood for the Bloody Army" ein Fläschchen Blut auf seine Ordensbrust. Ich werde aus dem Landtag verwiesen, dank einer einstweiligen Verfügung nehme ich trotzdem an der Plenarsitzung am Tag drauf teil. Der Parlamentspräsident verfügt, dass der Vorfall von unserer Seite nicht erwähnt werden darf - Reinhard Bruckner und Dorle Rauch werden darum des Saales verwiesen. Partei und Friedensbewegung stellen sich hinter die Akt.

Frank Schwalba Roth

Nötigung von Bundestagabgeordneten, ein alter Vorwurf

Der Vorwurf, Bundestagabgeordnete zu nötigen, ist auch schon alt und wurde vor allem gegen Linke immer wieder erhoben, wenn sie gegen bestimmte politische Maßnahmen am Bundestag protestierten. Noch heute erinnern sich manche damals Betroffene empört, wenn sie an eine der letzten großen politischen Aktionen vor dem Bundestag in Bonn erinnerten: Blockaden von antirassistischen Gruppen und Flüchtlingsinitiativen gegen die massive Stutzung des Asylrechts im Jahr 1993:

Der Bundestag ist umstellt, abgeriegelt von der hoheitlichen Gewalt gegen Demo-Gewalt, aber auch umgekehrt, abgeriegelt von Chaoten, die viele Bedienstete mit Anpöbeleien und Gewalt am Gang zum Arbeitsplatz hindern.

Bonner Generalanzeiger

Solche Töne waren immer dann zu hören, wenn sich politische Interessengruppen in Sichtweise des Bundestags Gehör und Platz verschafften. Nur handelte es sich dabei bisher in der Regel um linksoffene Proteste.

Es ist auch ein Zeichen für den Bedeutungsverlust linker Opposition, wenn nun rechtsoffene Personen im Mittelpunkt des Skandals stehen. Es ist daher nicht unproblematisch, wenn nun Linke reflexartig in den Kanon der Empörten einstimmen, die die Würde des Bundestags verletzt und Abgeordnete bedrängt sehen.

Dabei handelt es sich nicht nur um einen moralischen Vorwurf, sondern um einen Straftatbestand. Nach Paragraph 106 des Strafgesetzbuches ist die Nötigung von Parlamentariern und auch schon der Versuch einer Nötigung strafbar. Paragraph 107 stellt die Wahlbehinderung sowie den Versuch unter Strafe. Das Strafmaß kann eine Geldstrafe, aber auch eine mehrjährige Freiheitsstrafe sein.

Regierungskonforme Störer gab es auch mal

Manchmal handelten Störer von Abgeordneten im Bundestag auch im Einklang mit der Bundesregierung, so geschehen bei einer Rede des KPD-Bundestagsabgeordneten am 22. September 1949. Der Historiker Reiner Zilkenath beschrieb die Vorgänge detailliert.

Der Bundestag tritt zur Debatte der Regierungserklärung zusammen, die Kanzler Konrad Adenauer (CDU) zwei Tage zuvor im Plenum des Parlaments abgegeben hatte. Als der Vorsitzende der KPD, Max Reimann, das Wort ergreift, kommt es zu tumultartigen Szenen. Während seiner Ausführungen wird Reimann durch lautstarke Zwischenrufe immer wieder gestört. "Reden Sie doch endlich als Deutscher", "Moskaus Agent", "Bezahlter Provokateur", "Schickt ihn nach Moskau", schallt es ihm entgegen. Als Reimann die Oder-Neiße-Linie als "Friedensgrenze" bezeichnet, bricht ein Sturm der Entrüstung los, viele Abgeordnete der CDU verlassen den Plenarsaal. "Wir fordern die alten Grenzen wieder!" verlangt ein anonymer Zwischenrufer.

Da inzwischen die Lautsprecheranlage ohne Billigung des Sitzungspräsidiums abgeschaltet worden ist, kann die Rede Reimanns nicht mehr von allen Abgeordneten verstanden werden. Jetzt ist der Zeitpunkt für eine offenbar lang geplante Provokation gekommen. Zwei angeblich aus der Sowjetunion heimgekehrte Kriegsgefangene können ungehindert den Plenarsaal betreten und sich des Rednerpults bemächtigen. Einer schreit, gerichtet an die Adresse Reimanns, ins Mikrophon: "Wenn ich ihn kriegen könnte, würde ich ihm den Hals umdrehen!" Der andere Kriegsgefangene präsentiert den Abgeordneten währenddessen seine verschlissene Uniform und seine durchlöcherten Schuhe, die er in die Höhe hält. In diesem Zustand habe man sie aus der Gefangenschaft entlassen, in der sie bei Stalingrad geraten seien. Schließlich werden beide Personen von Saaldienern aus dem Plenum geleitet.

Reiner Zilkenath

Danach betrat der damalige Bundeskanzler das Podium, aber nicht etwa um sich gegen die Störer zu wenden und die Würde des Parlaments zu verteidigen. Im Gegenteil. Adenauer sei an das Rednerpult getreten, um Bundestagspräsidenten Erich Kohler (CDU) erfolgreich aufzufordern, Reimann einen Ordnungsruf zu erteilen. Auch verkündete Adenauer den Abgeordneten, der KPD-Vorsitzende habe mit seiner Rede die Tribüne des Bundestags "entweiht". Die Bundesregierung werde sich derartige Reden künftig nicht mehr anhören.

Antifaschistische Aktion im Bundestag

Zum Abschluss noch ein heute weitgehendes vergessenes Beispiel einer antifaschistischen Aktion im deutschen Bundestag am 10. März 1950. Es ging um den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Hedler, einen ehemaligen NSDAP-Funktionär. Damit war er fünf Jahre nach Kriegsende auch im Bundestag in guter Gesellschaft.

Hedler gehörte der rechten Deutschen Partei (DP) an, die mit der CDU/CSU eine Koalition bildete. Er redete so, als hätten 1945 die Nazis nicht den Krieg und die Macht verloren. Am 25. November 1949 erklärte er, dass Nazideutschland die geringste Schuld am Ausbruch des 2. Weltkriegs habe. Schuld seien vielmehr die Widerstandskämpfer, die Hedler als Verräter diffamierte. Auch zum Holocaust hatte der DP-Abgeordnete eine recht eigene Meinung.

Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es auch andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen.

Wolfgang Hedler, MdB

Darauf gab es einen Sturm der Entrüstung, die mit Verzögerung dazu führe, dass die DP Hedler aus der Partei ausschließen musste. Als er weiterhin nach Bundestagssitzungen teilnehmen wollte, gab es auch im Parlament Proteste. Daraufhin wurde er am 10. März 1950 von der Bundestagssitzung ausgeschlossen, weigerte sich aber das Parlament zu verlassen. Als er vom Bundestagspräsidenten des Saales verwiesen wurde, verließen die DP-Bundestagsabgeordneten ebenfalls das Parlament. Als Hedler  das Gebäude nicht verließ, sondern Interviews im Ruheraum gab, traten einige SPD-Politiker in Aktion. Die SPD-Zeitung Vorwärts schreibt 70 Jahre später:

Mehrere SPD-Abgeordnete, darunter Herbert Wehner, Alfred Gleißner und Ernst Roth, zerren Hedler aus seinem Sessel, stoßen ihn durch die Tür und drängen ihn durch die Gänge des Parlaments. Dabei stürzt Hedler durch eine Glastür und erleidet leichte Verletzungen.

Vorwärts

Der Vorwärts sieht in der Aktion auch 70 Jahre später eine Aktion zur Verteidigung der Demokratie. Sie könnte vielleicht auch heute noch aktuell sein.