Der nationalistische Spaltpilz infiziert Bulgarien und Nordmazedonien

Noch vereint: Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissov mit seinem nordmazedonischem Kollegen Zoran Zaev im Sommer in Skopje. Bild: gov.bg

Die EU-Erweiterungspolitik der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wird sabotiert

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Die flächenbrandartige Ausbreitung des neuartigen Coronaviruses hat die europäischen Völker in den Winter-Lockdown getrieben. Alle? Nein, nicht alle. Die Brüdervölker der Bulgaren und Mazedonier leben trotz Positivraten der Coronavirus-Tests von um die vierzig Prozent recht unbehelligt von Quarantänemaßnahmen. Gleich drei Weihachtsmärkte konkurrieren in der bulgarischen Hauptstadt Sofia um die Gunst der Passanten.

Auf diplomatischer Bühne geht es indes wenig besinnlich zu. Beim EU-Rat für Allgemeine Angelegenheiten am vergangenen Dienst legte Bulgarien als einziges EU-Mitglied sein Veto ein gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nordmazedonien. Ihren Auftakt sollte eine von der deutschen Regierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft für den Dezember 2020 in Skopje geplante Konferenz markieren. Daraus wird nun voraussichtlich nichts.

Im ersten Halbjahr 2018 war die EU-Erweiterung durch den Westbalkan eine der Prioritäten von Bulgariens EU-Ratsvorsitz. In Anerkennung seines damaligen Engagements wurde Bulgariens rechtsgerichtetem Ministerpräsidenten Boiko Borissov der Vorsitz der Westbalkan-Konferenz anvertraut. Die als Berliner Prozess bekannte Initiative geht auf Bundeskanzlerin Angela Merkel zurück.

Am 10. November 2020 waren Borissov und sein nordmazedonischer Amtskollege Zoran Zaev noch gemeinsam Gastgeber des Gipfeltreffens des Berliner Prozesses in Sofia. Unübersehbar hatte der nationalistische Spaltpilz die Brudervölker Bulgarien und Nordmazedonien infiziert. Der Appell der online zugeschalteten Kanzlerin Merkel, die beiden Regierungschefs sollten sich verständigen, verhallte folgenlos.

Die deutsche Regierung sieht sich in ihrer noch bis zum Jahresende dauernden EU-Ratspräsidentschaft gleich mit drei Vetos konfrontiert. Sperrt sich Bulgarien gegen die avisierten Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien, so wehren sich Polen und Ungarn gegen die Verknüpfung der Vergabe von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in den EU-Mitgliedsstaaten. Wie und wann der sich auf 1,8 Billionen € belaufende EU-Staatshaushalt für die Jahre 2021 bis 2027 verabschiedet wird und die vorgesehenen 750 Mrd € Corona-Hilfsgelder fließen können, ist damit ebenso unklar wie Nordmazedoniens EU-Perspektive.

Im Streit um den geplanten Nexus zwischen der Vergabe von EU-Geldern und der Hoheit des Rechts hat sich Bulgarien auf die Seite der Mehrheit der EU-Länder geschlagen. Von seiner Umsetzung dürfte das Balkanland aber kaum weniger tangiert werden als Ungarn und Polen. Beim Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) von Transparency International (TI) belegt Bulgarien mit Rang 74 den letzten Platz aller EU-Staaten.

Wegen Korruption und wirtschaftlicher Unterentwicklung sprachen Kritiker Bulgarien im Vorfeld seines EU-Beitritts zum Jahr 2007 die Reife zum EU-Beitritt ab. Dessen Befürworter erhofften sich von ihm dagegen eine Disziplinierung der politischen Elite des Landes hin zu einer nachhaltigen Politik europäischer Werte und Standards. Über mehr als drei Monate währende Massenproteste gegen Borissovs konservativ-nationalistische Koalitionsregierung haben seit Juli 2020 gezeigt, dass diese Hoffnung trügerisch war (Tag X in Bulgarien vertagt). Auf der Pressefreiheitsrangliste von Reporter ohne Grenzen ist Bulgarien von Rang 36 im Jahr 2006 auf Rang 111 abgestürz und trägt auch hier die rote Laterne aller EU-Mitglieder.

Streit um kulturhistorischen Themen

Gibt das schwarze Schaf der EU nun den Türhüter zur Union und verweigert seinem südlichen Nachbar die Zustimmung zu Beitrittsverhandlungen, so tut es dies nicht, weil es nun seinerseits Nordmazedonien die Beitrittsreife abspräche. Dessen Platzierung auf Rang 106 des TI CPI könnte eine solche Haltung durchaus begründen. Bulgariens Blockadehaltung liegen aber schlicht nationalistische Motive zugrunde. Seit Jahren verstricken sich Bulgaren und Mazedonier immer wieder in oft destruktive Kontroversen um kulturhistorische Themen.

Die meisten Bulgaren sind sich in seltener Einmütigkeit und über parteipolitische Grenzen hinweg einig, die Mazedonier seien recht eigentlich ein bulgarischer Volksstamm und die mazedonische Sprache ein südwestbulgarischer Dialekt. Den Staat der Mazedonier halten viele Bulgaren für ein von Tito und Stalin aus politischen Gründen künstlich geschaffenes Konstrukt.

Im August 2017 unterzeichneten Boiko Borissov und Zoran Zaev einen lange überfälligen Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag. Eine Folge war die Einsetzung einer paritätisch besetzten Historikerkommission, die historische Streitfragen im Konsens beilegen sollte. Mit dem faktischen Scheitern dieser Kommission begründet Bulgarien nun sein Veto gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien.

"Frigide Hündin" und "Balkansexismus"

Bulgarien knüpft seine Zustimmung zu Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und Nordmazedonien an eine Handvoll Bedingungen. Skopje soll darauf verzichten, die Existenz einer mazedonischen Minderheit in Bulgarien zu behaupten und den Terminus "Mazedonische Sprache" in diplomatischer Korrespondenz durch die Formel "Offizielle Sprache der Republik Nordmazedonien" ersetzen. Auch sollen die Mazedonier ihre Schulbücher umschreiben, damit die Bulgaren in ihnen nicht länger als Tartaren beschrieben stehen.

"Solange wir keine Rechtsgarantien sowohl von Skopje als auch im Kontext des EU-Verhandlungsprozesses bekommen, dass Nordmazedonien seine Politik ändert, können wir der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nicht zustimmen", sagte Bulgariens Außenministerin Ekaterina Sacharieva. Vom Chef der Mazedonischen Informationsagentur (MIA) Zoran Ivanov musste sie sich dafür als "frigide Hündin" schimpfen lassen, die nur "Erfüllung" finde, wenn sie Mazedoniens Weg in die EU blockiere. "Balkan-Sexismus hat keinen Platz in der Europäischen Union", reagierte Ekaterina Sachariewa darauf und bezichtigte Ivanov, nicht nur sie persönlich beleidigen zu haben, sondern Frauen generell.

Bereits im Vorfeld des EU-Rats für Allgemeine Angelegenheiten hatte die bulgarische Außenministerin das angekündigte Veto u. a. mit dem inflationären Gebrauch gegen ihr Land gerichteter Hassrede in mazedonischen Medien begründet. "Die Mitarbeiter meines Ministeriums haben aufgehört, die gegen Bulgarien gerichteten Artikel zu zählen, es sind über zehntausend", sagte sie. Derweil stichelte Verteidigungsminister Krasimir Karakatschanov, "Nordmazedonien benimmt sich gerade so, als sei Bulgarien der Beitrittskandidat und nicht umgekehrt."

Die von Krasimir Karakatschanov geführte nationalistische Partei VMRO-BND hat sich seit jeher den Kampf gegen den "Makedonismus" auf die Fahnen geschrieben. Meinungsumfragen zufolge könnte die VMRO bei den für März 2021 angesetzten Parlamentswahlen an der 4%-Hürde scheitern. So interpretiert nicht nur Nordmazedoniens Regierungschef Zoran Zaev Bulgariens Störfeuer gegen die EU-Beitrittsverhandlungen seines Landes als innenpolitisch motiviert und Wahlkampf.

"Wird unser Beitrittsprozess auf eine bilaterale Frage eingeschränkt, in dem Diskussionen um die Geschichte wichtiger sind als der Kampf gegen Korruption, die Unabhängigkeit der Justiz, das Funktionieren demokratischer Institutionen, die Freiheit der Medien, Umwelt, Energie, dann ist das kein Prozess, der uns europäisiert, sondern ein Prozess, der uns balkanisiert", klagte Nordmazedoniens Europa-Minister Nikola Dimitrov in einem Interview für die österreichische Tageszeitung Der Standard. Sein Land wolle nun versuchen, den Beitrittsprozess zusammen mit freundlicher gesonnenen EU-Ländern voranzutreiben.

Über Jahrzehnte hinweg habe der Namensstreit mit Griechenland die euroatlantische Integration seines Landes blockiert. Er wurde mit dem Vertrag von Prespa im Juni 2018 beigelegt. Im Frühjahr 2019 sperrte sich Frankreich gegen die Nennung eines Datums für Beitrittsverhandlungen mit Albanien und der Republik Nordmazedonien. Jetzt stelle sich Bulgarien quer. "Es ist wirklich schwer zu verstehen, ob sich die EU uns gegenüber ernsthaft verhält", klagt Dimitrov gegenüber dem Standard. Im März 2020 habe sein Land vom Europäischen Rat noch grünes Licht erhalten, damals sei Bulgarien noch "Teil des Konsens" gewesen. "Nun werden wir keine Verhandlungen darüber führen, wer wir sind und welche Sprache wir sprechen. Dies ist Teil eines historischen Prozesses, nicht einer politischen Entscheidung."

"Historische Themen in den Fokus staatlicher Beziehungen zu setzen", nennt der für das Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen tätige bulgarische Politikwissenschaftler Dimitar Betschev ein "Rezept für ein Desaster". Er kritisiert, "Bulgariens hartnäckiges Beharren darauf, alle Mazedonier seien einfach Bulgaren". Gegenüber der Deutschen Welle zieht der Südosteuropa-Historiker der Universität Regensburg Prof. Dr. Ulf Brunnbauer eine Parallele zum Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich: "Es ist, als würden die Deutschen den Österreichern sagen, sie seien eigentlich Deutsche, oder wenn Dänemark die Norweger für anormal erklären würde, weil ihr Land einmal Teil des dänischen Reichs war und ihre Standardsprache später entwickelt wurde als das Dänische."