Diese Gründe sprechen gegen den verlängerten Teil-Lockdown

Expertengruppe um Internisten Schrappe kritisiert erneut analytische Grundlagen der Pandemie-Politik – und stellte zwei wichtige neue Instrumente vor

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Mediziner und Gesundheitsexperten aus dem gesamten Bundesgebiet haben in einem gemeinsamen Positionspapier erneut die Grundlagen der Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern kritisiert. Zugleich stellte die Autorengruppe um den Kölner Internisten und ehemaligen Vize-Vorsitzenden des Sachverständigenrates Gesundheit, Matthias Schrappe, zwei neue Instrumente vor, um der Pandemie Herr zu werden.

Ein einzurichtender "notification index" solle die Dynamik der Virus-Verbreitung auf nationaler und regionaler Ebene besser beschreiben. Ein weiteres Register zur Hospitalisierung könne die Aus- und Belastung des Gesundheitswesens, vor allem der klinischen Kapazitäten erfassen, argumentieren die Autoren, die auch an Kritik nicht sparen: Die derzeitige Erfassungsmethodik sei wenig aussagekräftig, die Grenzwerte weder zuverlässig noch belastbar oder gar erreichbar; besonders schützenswerte Gruppen würden weiterhin ihrem Schicksal überlassen.

Ein Strategiewechsel sei unvermeidlich, heißt es in dem inzwischen sechsten Papier der Autorengruppe. "Die gegenwärtig vorhandenen epidemiologischen Daten zur SARS-CoV-2/COVID-19-Epidemie aus dem In- und Ausland sprechen nicht mehr für eine Welle, die ‚gebrochen‘ werden kann, sondern eher für ein kontinuierliches Ansteigen der Zahlen", heißt es in dem 49-seitigen Papier. Zwar sei eine leichte Abflachung der Kurve zu beobachten. Die Annahme aber, dass man im Verlauf des Winters auf niedrige Zuwachsraten wie im Sommer kommen könne, entbehre "jeder Grundlage".

Mit solchen Thesen treten die acht Autoren und die Autorin des Thesenpapiers mit dem Schwerpunkt Epidemiologie direkt auch Aussagen von führenden Gesundheitspolitikern wie dem SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach entgegen. Der hatte unlängst noch von einem "Wellenbrecher Shutdown" (sic!) getwittert und versichert, man werde damit die "Welle der Pandemie brechen und aus exponentiellen Wachstum heraus kommen" (sic!).

Die Bedeutung der mutmaßlich hohen Infektionsdunkelziffer

In diesem Zusammenhang widerspricht die Autorengruppe um Schrappe noch in einem anderen wichtigen Punkt der offiziellen Darstellung: Die Durchseuchung liege offenbar weitaus höher, als die bisher vorherrschende anlassbezogene Teststrategie zu messen und wiederzugeben fähig ist. Erste Prävalenzuntersuchungen kompletter Bevölkerungen zeigten aktive Infektionen in rund einem Prozent der Bezugsgruppe, so die Verfasser.

Sie hatten schon in früheren Wortmeldungen sogenannte Kohortenstudien angemahnt. Dabei werden gesamte Bevölkerungen oder Bevölkerungsteile getestet, um weitere wichtige Erkenntnisse zu gewinnen, etwa die Viruslast in Untergruppen, vor allem aber die Anzahl der asymptomatisch verlaufenden Infektionen.

Angesichts der Infektionsrate von einem Prozent, die bei einer Kohortenstudie etwa in der Slowakei festgestellt worden war, müsse man in Deutschland zu den derzeit wöchentlich gemeldeten 130.000 Fällen "über 800.000 zusätzliche Infektionen aus der Gesamtbevölkerung" hinzurechnen.

Die offiziellen Statistiken blendeten nicht nur diese sehr wahrscheinlich bestehende Dunkelziffer völlig aus. Zurzeit würden die Testprävalenzen einfach auf die Gesamtbevölkerung oder eine Bezugsregion umgerechnet und die Durchseuchung der nicht-getesteten Bevölkerung ignoriert. "Diese Vorgehensweise kann in keinem Fall zu verlässlichen qualitativen Maßnahmen führen", konstatiert die Autorengruppe.

Eine verlässliche Erfassung der tatsächlichen Virusverbreitung ist aus mehreren Gründen von erheblicher Bedeutung für die akute politische Debatte über Eindämmungsmaßnahmen, die vergangene Woche den Bundestag befasst hat und diese Woche mit der wahrscheinlichen Verlängerung des Teil-Lockdowns wieder aufflammen wird: Die nun im novellierten und ergänzten Infektionsschutzgesetz festgeschriebenen Grenzwerte – etwa 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohnern in sieben Tagen - sind, beachtet man die offiziell ignorierte Dunkelziffer, weder begründbar noch erreichbar. Damit aber fällt die Legitimationsbasis des gesamten Corona-Maßnahmenpaketes wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Zwei neue Steuerungsinstrumente

Angesichts der andauernden Weigerung von Bundesregierung und zuständigen Behörden, aussagekräftige Kohortenstudien zu erstellen, schlägt das Expertenteam zwei Instrumente vor, um die Politik zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie besser zu justieren. Es gehe darum, die fehleranfällige Melderate "durch andere Parameter aussagekräftiger zu machen".

Erstens könne ein "notification index" (NI) die Dynamik des Infektionsgeschehens im nationalen oder regionalen Kontext beschreiben. NI errechne sich aus der Melderate (M), also der Anzahl der Fälle pro 100.000 Einwohner, jedoch in Kombination mit der Rate positiver Testbefunde (T+), der auf die Bevölkerung bezogenen Testhäufigkeit (Tn) und einem einfachen Heterogenitätsmarker (H) der das Maß für das Risiko in einer geografischen Bezugsgröße beziffert. So könne es, anders als bisher, gelingen, Verzerrungen durch unterschiedliche Testmengen oder Infektionscluster auszugeichen. Die Formel sähe dann so aus:

Berechnung des "notification index"

Zweitens schlägt die Autorengruppe um Schrappe die Einführung eines Hospitalisierungsindex (HI) vor. Dieses Steuerungsinstrument soll die Belastung des Gesundheitssystems in einer bestimmten Region darstellen. Zunächst solle mit dem mathematischen Produkt aus NI und Hospitalisierungsrate (HR) gearbeitet werden, also der stationären Behandlungsfälle bezogen auf die Gesamtzahl der Infizierten.

NI und die darin enthaltenen Parameter müssten bei dieser Berechnung fünf Tage zurückdatiert werden. Die Diskussion werde womöglich zeigen, fügen sie in ihrer ersten Ausführung zu diesem Vorschlag hinzu, dass der Heterogentitätsfaktor (H) dabei keine Berücksichtigung finden muss.

Berechnung des Hospitalisierung-Index

Das sechste Thesenpapier der Expertengruppe um Schrappe weist damit einen Ausweg aus der dominierenden, aber wenig aussagekräftigen Zahlenschlacht um Neuinfektionen, von der die Nachrichten derzeit allmorgendlich bestimmt werden.

Doch wie empfänglich sind Bundesregierung und Robert-Koch-Institut (RKI) für solche Vorschläge?

Kritik an RKI-Management von verschiedenen Seiten

Das bisherige Vorgehen dieser Akteure lässt daran zweifeln. Darauf weist schon der Umgang mit Begrifflichkeiten hin. In einem Beitrag für Telepolis hatte der Hannoveraner Finanzwissenschaftler Stefan Homburg unlängst bereits darauf hingewiesen, dass RKI-Präsident Lothar Wieler schon einmal Reproduktionsrate mit Reproduktionszahl verwechselt und das Institut in einer Grafik seines Epidemiologischen Bulletins zwar die effektive Reproduktionszahl abzubilden vorgab, dabei aber Inkubationszeit und ermittlungstechnisch bedingten Verzug außer Acht ließ.

Die Autorengruppe um Schrappe nun verweist auf die durchgehend falsche Verwendung des Begriffs Inzidenz im offiziellen Sprachgebrauch. Für die Verwendung dieses Terminus bei der Beschreibung eines Infektionsgeschehens seien schließlich mehrere Faktoren notwendig, so etwa:

  • die untersuchte Population als Bezugsgröße;
  • eine vollständige Untersuchung der Population;
  • der Verlauf dieser Untersuchung über einen bestimmten Zeitraum, "um tatsächlich das Neu-Auftreten einer Infektion erfassen und bewerten zu können";
  • die Merkmalsfreiheit der untersuchten Personen bei Untersuchungsbeginn;
  • eine hinreichend lange Studiendauer.

In der gegenwärtigen Situation liege "kein einziges Merkmal vor, das für die Verwendung des Begriffs Inzidenz notwendig wäre", urteilen die Autoren des nun erschienenen Thesenpapiers. Tatsächlich präsentiere das RKI die Summe "mehrerer unsystematisch generierter Punkt-Prävalenzen".

Die in dem vorliegenden Papier erneut benannten wissenschaftlichen Schwächen der offiziellen Pandemie-Politik dürften die Debatte um die Eindämmungsmaßnahmen in dieser Woche weiter anheizen. Schließlich lassen Anfang der Woche geleakte Absprachen der Länderchefs vermuten, dass die Runde von Kanzlerin, Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten am morgigen Mittwoch eine Verlängerung des Teil-Lockdowns beschließen wird.

Wie schwach die Fakten- und Analysebasis für diese absehbare Entscheidung ist, macht das "Thesenpapier 6.1" der Autorengruppe ebenso deutlich wie dessen Untertitel: "Zur Notwendigkeit eines Strategiewechsels".