Kritik, Demonstrationen, die Haltung des DGB und die (Selbst)Zerstörung der SPD

15 Jahre Hartz IV - Teil III

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Angesichts stetig steigender Arbeitslosenzahlen - hervorgebracht durch Rationalisierungsinvestitionen und die Eingliederung der Ex-DDR in den westdeutschen Kapitalismus (Teil 1: 15 Jahre Hartz-Reformen) -, hat die rot-grüne Schröder-Regierung eine tiefgreifende sozialpolitische Reform durchgesetzt.

Mit der massiven Verschlechterung der Rentenansprüche und einer Arbeitsmarktpolitik, die zur Annahme jeder noch so schlecht bezahlten Arbeit zwingt, wurde der bundesdeutsche Sozialstaat verbilligt, ein zweiter, bisher irregulärer Arbeitsmarkt geschaffen (Zeit- und Leiharbeit, Niedriglohnsektor) und das gesamte nationale Lohnniveau gesenkt (Teil 2: Agenda 2010: Sozialpolitik als Waffe). Wie gewünscht gingen die Arbeitslosenzahlen in der Folge nach unten. Die Frage, ob und wie man von den nun üblich werdenden Löhnen würde leben können, wurde gestrichen.

Löhne im freien Fall - "Working poor" - Mindestlohn

Die Hartz-Reformen brachten neben diesen gewollten auch einige ungewollte Wirkungen hervor. Das ist gewissermaßen selbstverständlich, wenn eine Regierung ein ökonomisches und soziales "Feldexperiment" solcher Größenordnung durchführt.

Mit Einführung eines Mindestlohns korrigierte sie knapp zehn Jahre später eine solche: Die deutschen Unternehmer hatten sich an den neuen Freiheiten, wie gewünscht, bedient. Einige von ihnen hatten ihre gesamten alten Belegschaften entlassen und zu schlechteren Bedingungen wieder eingestellt. Der Druck der gesamten Agenda-Politik auf die Löhne war zudem so stark, dass es immer mehr "Working Poor" gab. Immer mehr Lohnabhängige erzielten - oft trotz Vollzeitstelle - einen Lohn, der unter dem Hartz-IV-Niveau lag und bezogen deshalb sog. "Aufstocker-Löhne" (300.000 im Jahr 2006).

Letzteres war der Ausgangspunkt für eine sozialpolitische Korrektur. Immer mehr Jobcenter klagten vor Gericht gegen die "sittenwidrig niedrigen Löhne". Ab dem 1. Januar 2015 führte die deutsche Regierung per Gesetz einen nationalen Mindestlohn von 8,50 € pro Arbeitsstunde ein - unter großem Gezeter der Wirtschaftsverbände. Bei allem Interesse an der Förderung des deutschen Wirtschaftswachstums und aller Freude an den neu konkurrenzfähigen deutschen Löhnen und dem daraus entspringenden "Jobwunder" sah der Staat seine Aufgabe nämlich nicht darin, die Lohnkosten der Unternehmer gleich selbst zu übernehmen.

Die daraus folgende gesetzliche Regelung des Mindestlohns stellte den Kern des 2014 verabschiedeten "Tarifautonomiestärkungsgesetzes" dar. Dieses Gesetz zeigt schon in seinem Namen die massive Wirkung, die die Agenda 2010 für den nationalen Arbeitsmarkt und die Stellung der Arbeitnehmer bzw. ihrer Interessenvertretungen, der Gewerkschaften, gehabt hat - so massiv nach unten eben, dass die Regierung den Gewerkschaften nicht einmal mehr zutraute, eine auch von ihr als nötig erachtete Untergrenze der deutschen Löhne aus eigener Kraft durchzusetzen.

Die Höhe des nationalen Mindestlohns wurde so kalkuliert, dass er möglichst nicht zum Hindernis für eine gewinnbringende Beschäftigung wurde. Als sich zwei Jahre später gezeigt hatte, dass das nicht der Fall war, durfte die eigens dafür ernannte "Mindestlohnkommission", die aus je drei Arbeitgeber- und drei Arbeitnehmervertretern sowie zwei wissenschaftlichen Beratern und einem Vorsitzenden besteht, die gesetzliche Untergrenze für den Lohn sogar zum 1. Januar 2018 auf 8,84 € erhöhen; inzwischen liegt er bei 9,35 €.

Ob in der Praxis der jeweils geltende Mindestlohn gezahlt wird, ist allein mit dem Inkrafttreten des Gesetzes allerdings nicht ausgemacht. Denn das Interesse der Arbeitgeber, Menschen mit Minilöhnen so gewinnbringend wie möglich auszunutzen, existiert natürlich weiter. Folglich gibt es eine ganze Reihe von Strategien, den Mindestlohn legal oder illegal zu umgehen - mit phantasievollen Berechnungen von Bereitschafts- oder Pausenzeiten, Scheinselbständigkeit, Werkverträgen, Gesellschaftermodellen usw. Im Zuge des Falls "Tönnies" (vgl. Die Fleischindustrie sowie Die seuchenbedingte Neuauflage des alten Fleischskandals) wurden vor kurzem einige der interessanten Praktiken öffentlich gemacht. Und es wurde deutlich, dass es eine Frage des gesellschaftlichen Drucks ist, ob die deutsche Qualitätspresse sich für "so etwas" interessiert: Dafür hatte es schon den Gesichtspunkt der Seuchenpolitik gebraucht!

Die Durchsetzung der minimalen Untergrenze Mindestlohn hängt wesentlich ab von den Sanktionen, die bei Nichtbeachtung erfolgen. Die zuständige Kontrollbehörde "Finanzkontrolle Schwarzarbeit" des Zolls legt jedenfalls "eine überraschend geringe Kontrolltätigkeit" an den Tag; im Vergleich zu 2013 ist die Zahl der Kontrolleure in der zuständigen Behörde (Finanzkontrolle Schwarzarbeit, FKS) sogar gesunken. Konsequenz: Laut einer im Frühjahr 2018 veröffentlichte Studie der Hans-Böckler-Stiftung haben "diejenigen, denen laut Studie im Jahr 2016 der Mindestlohn vorenthalten wurde, (…) den Berechnungen zufolge im Schnitt 251 Euro monatlich zu wenig erhalten. Die Brutto-Lohnausfälle beliefen sich damit auf 6,5 Milliarden Euro."