Fall Nawalny: "Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor"

Bild Alexey Nawalny: Evgeny Feldman / CC-BY-SA-4.0

Nur die AfD-Fraktion fragte die Bundesregierung ausführlich, aber die gibt sich so zugeknöpft, dass Misstrauen über die deutsche Version bestärkt wird

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Was war es für ein politisches und mediales Ereignis, als der angeblich wichtigste russische Oppositionspolitiker bzw. "Kreml-Kritiker" Alexej Nawalny nach einer mutmaßlichen Vergiftung mit einer aufwendigen Rettungsmission aus dem Krankenhaus in Omsk in die Berliner Charité geflogen wurde. Dabei spielte eine obskure Stiftung und russische Oligarchen eine Rolle, die sich mit ihrem Geld nach Großbritannien abgesetzt haben. In Berlin wurde er behandelt - wahrscheinlich ähnlich wie ihn die russischen Ärzte versorgt hatten, wobei aus Russland stets gemeldet wurde, man habe keine Vergiftung diagnostizieren können, und durch ein massives Polizeiaufgebot beschützt. Die Kanzlerin nahm sich seiner an und besuchte ihn auch im Krankenhaus, was demonstrierte, dass der Fall auf der höchsten politischen Ebene gespielt wurde.

Da er angeblich in Russland mit einer Nowitschok-Verbindung nicht näher genannter Art vergiftet wurde, vage bestätigt durch die OPCW, erfolgte seitens der Bundesregierung eine scharfe Reaktion gegen die russische Regierung, für den Anschlag verantwortlich zu sein und die Aufklärung zu verhindern, zu der allerdings auch die Bundesregierung nichts beitrug, sondern Rechtshilfeersuchen aus Moskau unbeantwortet ließ und auf die lange Bank schob. Mit dem behaupteten Anschlag wurde mit dem Ende von Nord Stream 2 gedroht und verhängte die EU neue EU-Sanktionen, die Moskau erwiderte. Es kam zu einem ernsthaften Zerwürfnis zwischen Berlin und Moskau. Berlin wiederholt, Moskau würde keine Aufklärung leisten, Russland wirft Berlin vor, bei der Aufklärung nicht zu kooperieren.

Nawalny, der sich weiterhin in Deutschland aufhält und auch Urlaub unter staatlichem Schutz in einer Luxuspension im Schwarzwald machte, fordert weiter neue Sanktionen und hat seine Ankündigung noch nicht wahr gemacht, wieder nach Russland zurückzukehren. Jetzt fordert Nawalny, die EU möge doch russische Oligarchen, die Stützen der Macht von Putin, sanktionieren, die ihre Milliarden auch im Westen in Immobilien, Yachten etc. investieren. Dass seine Organisation von ebensolchen Oligarchen, die mit Milliarden aus Russland ausgewandert sind, finanziert wird und er seine Flucht und seine Krankenhauskosten von eben solchen Oligarchen bezahlt erhielt, erwähnt er lieber nicht.

Obgleich der Fall der Vergiftung keineswegs aufgeklärt ist und es viele offene und fragwürdige Einzelheiten darüber gibt, ob Nawalny wo durch wen mit was und wann vergiftet wurde, haben sich Politik und die meisten Medien mit dem verbreiteten Narrativ eingerichtet, das einmal errichtet, nicht mehr hinterfragt werden muss. Damit wiederholt sich der Skripal-Fall, bei dem allerdings die Opfer des Anschlags durch britische Behörden der Öffentlichkeit entzogen wurden.

Nur die AfD traut sich, Fragen zu Nawalny zu stellen

Es ist peinlich, dass keine der Parteien im Bundestag an einer Aufklärung interessiert zu sein scheint. Da ist das antirussische Narrativ bedient, durch das der in sich zerstrittene Westen gegen Putins System zusammensteht, möglicherweise gibt es auch Sorge, bei Nachfragen und Zweifel dem Lager der Verschwörungstheoretiker zugeschlagen zu werden, was mittlerweile als Drohung wirkt, möglichst bei der Stange zu bleiben. Nur die AfD, die mit Russland und Putin sympathisiert, hat mit einer Kleinen Anfrage natürlich auch aus politischem Interesse heraus, "Offene Fragen bezüglich des mutmaßlichen Anschlags auf Alexej Nawalny" an die Bundesregierung gerichtet.

Man muss sich selbstverständlich die politische Ausrichtung der rechten und größten Oppositionspartei, die sich als "Alternative" sieht, nicht zu eigen machen, um die Position der Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen, die sehr unwillig auf die vorgelegten Fragen antwortete oder zumeist nicht antwortete. Die Kleine Anfrage wurde am 14. Oktober eingereicht, beantwortet wurde sie am 18. November, als das Thema schon weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden war.

Die Bundesregierung antwortete auf die Frage, ob sich Cinema for Peace, die das Rettungsflugzeug organisierte, an die Bundesregierung oder diese an die Stiftung gewandt hatte:

Nachdem Alexej Nawalny in Russland Opfer eines Verbrechens wurde und schwer erkrankte, haben sich seine Angehörigen und die private Initiative "Cinema for Peace" an die Bundesregierung gewandt und um Ermöglichung der Einreise zur medizinischen Behandlung gebeten. Aufgrund der humanitären Notlage hat die Bundesregierung diesem Wunsch stattgegeben.

Bundesregierung

Interessant ist, dass die Bundesregierung schon kurz nach dem Vorfall, als nur die Informationen von Nawalnys FBK-Team und der russischen Ärzte bekannt sein konnten, davon ausging, dass Nawalny "Opfer eines Verbrechens" war.

Warum ausgerechnet bei Nawalny, der mit einer Notlandung gerettet und schnell ins Krankenhausgebracht wurde, eine derartige "humanitäre Notlage" notwendig war, dass er nach Deutschland ausgeflogen werden musste, darüber verliert die Bundesregierung kein Wort. Es gibt viele Menschen, die Opfer eines Verbrechens wurden - u.a. auch in Russland -, die von der Bundesregierung nicht nach Deutschland gebracht werden. Die Bundesregierung fühlt sich auch nicht bemüßigt, andere aus "humanitären Notlagen" zu retten, die nicht in einem Krankenhaus versorgt werden, sondern etwa als Flüchtlinge zu ertrinken drohen, in der Türkei aus fadenscheinigen Gründen im Gefängnis sitzen, in Großbritannien wie Assange unter Bedingungen der psychischen Folter in einem Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt und einem fragwürdigen Auslieferungsprozess ausgesetzt sind, die wie gewählte Politiker in Spanien im Gefängnis sitzen oder wie Oppositionelle in Saudi-Arabien gefoltert und hingerichtet werden. Da scheint der Bundesregierung der Kompass etwas verzerrt zu sein, um es milde auszudrücken, wenn es nicht einmal den Ansatz einer Erklärung dafür gibt.

Bundesregierung weiß angeblich nicht, wer im Flugzeug mit Nawalny war

Unfassbar eigentlich auch, dass die Bundesregierung, wenn sie von einer Vergiftung ausging, wo sofort nach Skripal Nowitschok, das angeblich gefährlichste Nervengift, in der Luft lag, offenbar der womöglich kontaminierte Nawalny mit Begleitung ohne Schutzvorkehrungen einreisen durfte. Die Bundesregierung "hat keine Kenntnis zum Sachverhalt", ob "das medizinische Personal, das Nawalny Ersthilfe leistete, auf Vergiftungsspuren untersucht wurde, Schutzkleidung getragen hat oder Krankheitssymptome" zeigte. Es soll auch nur "ein auf den Transport von Schwerkranken spezialisierter Mediziner" im Flugzeug gewesen sein, wie groß das Team war und wie viele Ärzte dabei waren, fragte die AfD nicht.

Aber die Bundesregierung will auch letztlich keine Kenntnis haben, wer in dem Flugzeug saß, das aus Omsk kommend in Berlin landete. Gefragt, ob sich Maria Pewtschich an Bord befand, wird wie immer erklärt: "Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor." Wenn die Begleitpersonen nicht einfach durchgewunken wurden, was unwahrscheinlich ist, und wenn Nawalny unter größeren Sicherheitsvorkehrungen auf deutschem Boden beschützt wurde, dann müsste die Polizei wissen, wer da eingereist ist (und warum sie nicht als mögliche Gefährder durch Kontamination untersucht wurden).

Auf die Frage, ob deutsche Ermittlungsbehörden Maria Pewtschich befragt haben und ob sie regelmäßig Alexej Nawalny im Krankenhaus aufsuchte antwortet die Bundesregierung nicht wie üblich, was man dann schon eher als Bejahung betrachten muss:

Eine Beantwortung der Frage muss im Hinblick auf die laufenden Rechtshilfeersuchen unterbleiben. Trotz der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Pflicht der Bundesregierung, Informationsansprüche des Deutschen Bundestages zu erfüllen, tritt hier nach sorgfältiger Abwägung der betroffenen Belange das Informationsinteresse des Parlaments hinter den konkret berechtigten Geheimhaltungsinteressen eines laufenden Rechtshilfeersuchens zurück. Das Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege leitet sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ab und hat damit ebenfalls Verfassungsrang.

Bundesregierung

Es sollen weitere Gegenstände mit Nowitschok-Spuren nach Deutschland gebracht worden sein

Auch wie Nawalny während des Flugs aus humanitären Gründen versorgt würde, hat die Regierung nicht interessiert, eigentlich wusste sie angeblich gar nichts, abgesehen davon, dass ein Verbrechen stattgefunden hat, um doch so schnell und entschieden zu handeln, rein humanitär, versteht sich. Das übrige Team wurde nicht befragt, ob es Schutzkleidung getragen hat, oder untersucht, ob es kontaminiert wurde. Offenbar auch nicht nachträglich, als die Bundesregierung nach dem Befund des Bundeswehrlabors von einer Nowitschokvergiftung ausging.

Man erinnere sich, mit welchen massiven Vorsichtsmaßnahmen die britischen Behörden in Salisbury die Orte, an denen sich die Skripals aufgehalten haben, und das Haus abgesperrt haben. Die Gegenstände im Haus wurden inklusive Katze verbrannt, das Dach entsorgt. Das Rettungsflugzeug scheint nicht einmal nach Spuren untersucht worden zu sein. Die Bundesregierung argumentiert ebenso lapidar wie höchst gleichgültig nach der Devise "Geht uns nichts an", wenn es sich um einen Nowitschokanschlag gehandelt hat, der über Tee, Berührung einer Flasche oder die Kleidung oder sonst irgendwie stattfand:

Der Evakuierungsflug für Alexej Nawalny wurde von einer privaten Rettungsorganisation durchgeführt. Der Bundesregierung liegen hierzu keine Kenntnisse vor.

Es war auch auffällig, dass alleine Nawalny Vergiftungserscheinungen zeigte, im Skripal-Fall war dies bei beiden der Fall und angeblich auch bei einem Polizisten. Ging die Bundesregierung von einer Unbedenklichkeit aus? Aus welchem Grund? Selbstverständlich hat die Bundesregierung auch keine Kenntnis von der ominösen Wasserflasche, die nach dem Nawalny-Team, dokumentiert durch ein Video, für die Vergiftung verantwortlich gewesen und im Flugzeug mit nach Deutschland transportiert worden sein soll: "Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor." Es soll aber weitere Gegenstände mit Nowitschokspuren gegeben haben. Das ließ auch das kremlkritische Medium Meduza hellhörig werden. Selbst Kira Yarmysh, die Sprecherin von Nawalny, sagte, sie sei nicht darüber informiert worden.

Und bei der Kooperation mit der "privaten Rettungsorganisation" frägt die Bundesregierung auch gar nicht mal nach, wie diese finanziert wird, man hat ihr aber schon einmal 2012 und 2013 Zuwendungen aus Steuergeldern in Höhe von 250.000 und 44.040 Euro geleistet - da frägt man nicht nach. Ebenso wenig will man wissen, wer Nawalnys Flug und Krankenhausbehandlung finanziert hat: "Die Bundesregierung verfügt über keine über die presseöffentlichen Äußerungen von Alexej Nawalny zu diesem Thema hinausgehenden Erkenntnisse." Da müsste man sagen, die Bundesregierung handelt fahrlässig, sich mit unbekannten Organisationen mit Aktionen bei politisch hochbrisanten Themen einzulassen. Ist man wirklich so naiv, wie man sich gibt?

Und was ist mit der ominösen Wasserflasche?

Die Bundesregierung verweist auf eine Antwort vom 9. Oktober im Bundestag, nach der es "zweifelsfrei" bewiesen sei, dass Nawalny mit einem "chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe" vergiftet wurde, ohne diesen - angeblich wegen der "hoher Proliferationsrisiken" - zu benennen, und dass Russland in Verantwortung steht: "Die russische Regierung hat es bislang versäumt, eine glaubwürdige Er-klärung für den Vorfall abzugeben. Vor diesem Hintergrund stellt die Bundesregierung fest, dass es keine andere plausible Erklärung für die Vergiftung von Herrn Nawalny geben kann als eine russische Involvierung und Verantwortlichkeit." Ob andere Länder auch über Nowitschok verfügen, interessiere in diesem Zusammenhang nicht (Bundestagsdrucksache Nr. 19/23454).

Klar ist nur: "Die bei Alexej Nawalny nachgewiesene Substanz aus der Nowitschok-Gruppe befindet sich nicht auf der Chemikalienliste der OVCW." Unklar bleibt, wie lange Nowitschockverbindungen in biomedizinischen Proben nachweisbar sind, da der Körper diese abbaut, wie sehr vage vermerkt wird. Das schwedische und französische Labor sowie die OPCW bzw. OVCW haben nach der Bundesregierung am 5. und 6. September von Nawalny biomedizinische Proben genommen. Ob es etwa um Urin- und/oder Blutproben handelt, will die Bundesregierung nicht sagen: "Nach Kenntnis der Bundesregierung wurden biomedizinische Proben untersucht."

Damit vermeidet die Bundesregierung eine direkte Antwort auf die Wasserflasche, die vom Team Nawalny im Hotelzimmer in Tomsk angeblich gefunden und nach Deutschland gebracht wurde. Auf ihr soll sich Gift befunden haben, das nach Berichten dazu gedient habe, die Nowitschokverbindung in den Körperproben Nawalnys nachzuweisen. Das verneint die Bundesregierung mit einer Hintertür, obgleich sie genau darüber Bescheid wissen müsste: "Der Medienbericht trifft nach Kenntnis der Bundesregierung nicht zu."

Klar wird auch das Spiel zwischen Berlin und Moskau. Die Bundesregierung räumt ein, sie habe vier Rechtshilfeersuchen der russischen Regierung erhalten, die an die zuständigen Behörden weitergeleitet wurden. Die scheinen damit beschäftigt zu sein, eine Antwort hinauszuzögern, auf die Moskau immer wieder drängt. Auf der anderen Seite habe die Bundesregierung "die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation über den Stand der Verfahren in Deutschland unterrichtet und sie um eine ergänzende Stellungnahme wie auch die Beantwortung noch offener Fragen zum weiteren Vorgehen gebeten". Offenbar gab es keine Antwort, um welche offene Fragen es sich handelt, wird nicht mitgeteilt.