No Border - More Corona

Gastbeitrag: Wie der Westen in der Corona-Krise an sich selbst scheitert

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Die Verluste von Menschenleben sind furchterregend. Weltweit starben bereits mehr als 1,2 Millionen Menschen an der Corona-Pandemie. Allein in den Ländern der EU und Nordamerikas 500.000. Erschreckend sind auch die wirtschaftlichen Schäden. Millionen Menschen verloren ihre Arbeit bzw. ihre selbständige Existenz. Armut und Not breiten sich aus. Ganz anders die Situation in China und anderen ostasiatischen Staaten: Ihnen gelang es, die Pandemie so gut wie vollständig zu überwinden.

Entscheidend dafür war, dass diese Länder die betroffenen Regionen absperrten bzw. frühzeitig ihre Grenzen für Personen schlossen. Die Länder der EU lehnten dies hingegen lange ab, da es der neoliberalen Ideologie der offenen Grenzen widerspricht. Als schließlich doch Grenzen geschlossen wurden, kamen die Maßnahmen zu spät und blieben hinter den Erfordernissen zurück. Der Preis, den die Länder der EU an Menschenleben und wirtschaftlichen Verlusten dafür zu zahlen haben ist hoch.

Wie alles begann

Es soll daran erinnert werden, wie es zu dieser Katastrophe überhaupt kommen konnte. Am 31. Dezember 2019 werden von den Behörden im chinesischen Wuhan der Weltgesundheitsorganisation WHO Fälle von Pneumonien mit unbekannter Ursache gemeldet. Am 23. Januar 2020 wird von 18 Toten und 634 Infizierten berichtet. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärt daraufhin, dass kein "Anlass zur Unruhe oder zu unnötigem Alarmismus bestehe."1

Nur zwei Tage später waren es schon 41 Todesopfer und knapp 1.300 Infizierte. Um eine rasante Ausbreitung der neuartigen Krankheit zu verhindern, werden 43 Millionen Bewohner von zwölf Städten in der chinesischen Provinz Hubei harten Restriktionen unterworfen. Es wird der Nah- und Fernverkehr der Bahn gestoppt, die Ausfallstraßen werden gesperrt. Das Tragen von Schutzmasken in der Öffentlichkeit wird angeordnet. Cafés, Kinos und öffentliche Einrichtungen schließen. Am 26. Januar 2020 meldet die US-amerikanische Johns-Hopkins-Universität, dass das Corona-Virus über den Flugverkehr bereits 12 Staaten erreicht hat. Besonders betroffen sind Thailand, Taiwan, Hongkong und Südkorea.

Einige südostasiatische Staaten reagieren umgehend auf die Gefahr. Noch im Januar 2020 verhängen sie Einreisesperren gegenüber Bürgern der Volksrepublik China. Zugleich verfolgten sie jede einzelne Infektion im Land und isolieren die Angesteckten. Besonders erfolgreich war dabei Taiwan, das seine Bürger bereits Ende Dezember 2019 aufgefordert hatte, die Stadt Wuhan zu verlassen.

Auch Vietnam konnte sich schützen:2

Nach dem Ausbruch der Epidemie in Wuhan verzeichnete Vietnam trotz der geographischen Nähe zu China bis Ende Februar lediglich 16 Infektionen. Die Regierung reagierte sehr rasch und konsequent mit der Schließung von Schulen, Kindergärten und Universitäten sowie der Absage von Großveranstaltungen und erhöhten Kontrollen an Grenzen und Flughäfen.

Damit konnte (…) ein großflächiger Ausbruch verhindert werden. Die WHO lobte den vorbildlichen Umgang Vietnams mit dem Virus. 22 Tage lang wurden keine Neuinfektionen registriert, alle 16 Patienten konnten gesund entlassen werden. Anfang März brachte eine aus Europa zurückkehrende Passagierin das Virus nach Vietnam zurück. Wie zu erwarten war, zog dies Neuinfektionen nach sich.

Claudia Ehing und Axel Blaschke, FES Hanoi: Entschiedenes Vorgehen in Vietnam

Singapur schloss ebenfalls umgehend seine Grenzen für Reisende aus China und konnte so über mehrere Monate Infektionen fast vollständig verhindern. Als im März neue auftraten, wurden auch keine Reisenden aus Deutschland mehr ins Land gelassen. Die Tagesschau meldete:

Die Bundesrepublik gilt den Asiaten als Risikofall - als einer jener Staaten, die Corona zu lange nicht ernst genommen haben. (...)

Tagesschau, 16.03.2020

All diese Länder reagierten schnell und entschieden auf die neue Gefahr, denn die Erinnerung an die SARS-Infektionskrankheit, die 2002/03 die Region erfasst hatte, war dort noch sehr präsent.

"Menschliches Gespür" statt Kontrolle und Quarantäne

In Deutschland hingegen wurde die Gefahr lange heruntergespielt und verharmlost. Am 23. Januar 2020 berichtete die Frankfurter Neue Presse unter der Überschrift "Flughafen Frankfurt: Coronavirus aus China sorgt für Aufregung - geringes Risiko für Deutschland":

Die USA hat die erste Coronavirus-Infektion im eigenen Land vermeldet. Und was in den USA landet, könnte auch schon bald nach Deutschland kommen. Oder? Die Aufregung hierzulande ist groß, der Flughafen Frankfurt befindet sich in Alarmbereitschaft. Immerhin: Glaubt man den deutschen Behörden, ist die Lage unter Kontrolle. Die notwendigen Vorkehrungen wurden bereits getroffen. Dabei setzen die Behörden auf das menschliche Gespür der extra dafür ausgebildeten Mitarbeiter an den Flughäfen. Temperaturmessgeräte sollen, anders etwa als in den asiatischen Ländern, den USA und Australien, nicht aufgestellt werden - auch nicht am Flughafen Frankfurt.

"Das bringt gar nichts. Das haben viele Seuchen der letzten Jahrzehnte gezeigt", erklärt René Gottschalk vom Gesundheitsamt Frankfurt. Wer in Deutschland entsprechende Symptome zeigt, kommt in Quarantäne, um isoliert behandelt zu werden, bis eine Therapie erfolgreich ist. Ohnehin bestehe in Deutschland derzeit nur ein sehr geringes Risiko, versucht das Gesundheitsministerium die Panik einzudämmen. Tatsächlich schätzen Infektionsmediziner und Virologen normale Grippeviren, an denen jährlich weltweit Hunderttausende sterben, für deutlich gefährlicher ein.

Frankfurter Neue Presse

Der zitierte Leiter des für den Flughafen Frankfurt zuständigen Gesundheitsamts, René Gottschalk, ist übrigens bis heute der Ansicht, dass das Corona-Virus nicht gefährlicher sei als die normale saisonale Grippe oder eine Hitzewelle!3

Anfangs war man auch in Deutschland noch bemüht, einzelnen Infektionsketten nachzugehen - etwa beim bayerischen Autozulieferer Webasto Ende Januar in München. Dort hatte eine aus China eingereiste Mitarbeiterin mehrere Personen angesteckt. Die Infizierten konnten ausfindig gemacht werden und mussten sich in Quarantäne begeben. Auch kümmerte man sich um deutsche Staatsbürger in der Provinz Hubei. Sie wurden mit Flugzeugen der Bundeswehr ausgeflogen. Auch sie mussten sich einer mehrwöchigen Quarantäne unterziehen.

Zugleich blieben aber die deutschen Grenzen offen. Flugreisende, die aus den ersten Hotspots der Pandemie, aus China, Südkorea und dem Iran kamen, konnten ungehindert ohne jede gesundheitliche Kontrolle einreisen. Verlangt wurde von ihnen lediglich, dass sie sogenannte Aussteigekarten ausfüllten, aber auch nur dann, wenn ein Verdacht auf einen infizierten Mitreisenden bestand. Auf den Karten mussten Name, Sitzplatz und die Adresse des Passagiers in Deutschland angegeben werden. Sollte sich eine infizierte Person in der unmittelbaren Nähe des Reisenden befunden haben, würde der Passagier umgehend davon unterrichtet und ein Test angeordnet werden.

Doch das funktionierte in der Praxis nicht. Die regionalen Gesundheitsämter waren angesichts der Menge an Karten völlig überfordert. Allein am Flughafen Frankfurt fielen davon täglich 6.000 an. Die Ausreisekarten stapeln sich - wie vom Tagesspiegel recherchiert - noch immer ungeordnet in großen Kartons in Abstellräumen der Flughäfen.

Das Prozedere wiederholte sich in der Sommerreisesaison 2020. Die nach Deutschland zurückkehrenden Ferienreisenden wurden verpflichtet, in Aussteigekarten anzugeben, ob sie aus Risikogebieten kommen. So sollte garantiert werden, dass sie sich anschließend in Quarantäne begeben. Da aber weder diese Angaben noch die Einhaltung der Quarantäne kontrolliert wurden, blieb das Verfahren wirkungslos. Ungezählte Infektionen wurden auf diese ins Land eingeschleppt - eine der Ursachen für die Auslösung der zweiten Welle der Pandemie.

Nicht allein nach Deutschland kamen im Februar und März 2020 täglich Reisende aus Ländern mit hohen Infektionszahlen unkontrolliert ins Land. So wurde gemeldet:4

London, die am stärksten vom Virus betroffene Region, hat mit Heathrow den größten Flughafen Europas - neben fünf weiteren Flughäfen im Großraum. Allein aus Wuhan landeten zwischen Januar und März 190.000 Passagiere im Königreich, rechnete die Universität Southampton aus.

FAZ, 07.05.2020

Und was für London galt, traf auch auf andere große europäische Flughäfen zu. Erst am 17. März 2020 einigte man sich in der EU auf einen generellen Einreisestopp für alle Nicht-Unionsbürger - da lag die Abriegelung von Wuhan bereits gut zwei Monate zurück. Selbst die USA unter Trump hatten ihre Grenzen noch vor den Europäern geschlossen. Seit seinem ersten Auftreten hatte das Virus zweieinhalb Monate Zeit gehabt, sich ungehindert in Europa und anderen Teilen der Welt zu verbreiten.