Indien: 250 Millionen Streikende?

Schon 2018 forderten 50.000 Bauern in Delhi das gleiche wie heute. Foto: Gilbert Kolonko

Es gibt sie nicht. Auch keine neue mysteriöse Krankheit in Südindien. Da kann etwas nicht stimmen, liebe Medien

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Die linke Tageszeitung junge Welt und das Boulevard-Blatt Bild haben zurzeit etwas gemeinsam: Sie verbreiten Unsinn, wenn sie über "250 Millionen streikende Menschen in Indien" berichten.

Die junge Welt tut dies schon seit Jahren. Das Prinzip ist jedes Mal gleich: Vor einem Generalstreik kündigen die indischen Gewerkschaften an, dass 200 oder 250 Millionen Menschen teilnehmen werden und das wird dann als Tatsache verkauft.

"Wie sieht es in Delhi aus", fragte ich am 8. Januar 2020 einen Aktivisten in der indischen Hauptstadt, als wieder angeblich 200 Millionen Inder streikten: "Nichts." Und in Mumbai: "Ein paar kleinere Kundgebungen, sonst nichts", antwortete die Kollegin Natalie Mayroth von der tageszeitung. Ich selbst war in Kolkata, Westbengalen. Hier war etwas mehr los, aber für eine Streikhochburg Indiens war es ebenfalls gar nichts. Auch Mamata Banerjee, Chief-Ministerin von Westbengalen und Gegenspielerin von Premierminister Narendra Modi war dem Streikaufruf nicht gefolgt.

Eine "haltlose Übertreibung"

Eigentlich müsste einem schon Grundkenntnisse über Indien sagen, dass irgendetwas nicht stimmen kann, wenn in einem Land seit Jahren angeblich mehr als 200 Millionen Menschen für bessere Arbeitsbedingungen streiken und für die Durchsetzungen der Forderungen der Kleinbauern auf die Straße gehen, aber 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im informellen Sektor tätig sind.

Wie geht das in einem Land mit einer solch starken Gewerkschaft, dass zum zweiten Mal hintereinander neoliberale Hindu-Nationalisten an die Macht gewählt werden, die weiter Arbeiterrechte einschränken und die tägliche Arbeitszeit auf zwölf Stunden erhöhten? Mittlerweile berichten auch Zeitungen wie die Morgenpost von 250 Millionen Streikenden. Internetseiten empfehlen das ihren Lesern weiter: Eine heftig übertriebene Zahl wird immer breiter gestreut.

Dieses Mal hat Aurel Eschmann von der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Neuen Deutschland auf den "250 Millionen-Unsinn" hingewiesen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass eine Tageszeitung ihren (links geneigten) Lesern gegen den Strom schwer verdauliche Inhalte vorsetzt:

Es hat ein Massenstreik stattgefunden, doch sind jene 250 Millionen Beteiligten eine haltlose Übertreibung. Diese Zahl hatten die Dachgewerkschaften schon lange vor dem Streik in Umlauf gebracht; mit der tatsächlichen Mobilisierung hat sie nur wenig zu tun. Die linken unter den indischen Medien wissen um diese Dynamiken und übernehmen deshalb solche Zahlen nicht mehr.

Aurel Eschmann, Neues Deutschland

Eschmann, der sich deswegen Kritik aus linken Kreisen ausgesetzt sieht, hatte in seinem sachlichen wie tiefgründigen Artikel auch eine Erklärung parat, über den Grund solcher übertriebenen News:

War also im Grunde gar nichts? Oder doch eine Art welthistorisches Großereignis? Beide "Nachrichtenlagen" zeugen davon, wie eurozentristisch der westliche Blick auf den Staat mit der zweitgrößten Bevölkerung der Welt noch immer ist.

Aurel Eschmann, Neues Deutschland

Ja, vor den Toren Delhis stehen seit dem 27. November zehntausende Bauern und demonstrieren gegen das neue Agrar-Gesetz der Modi-Regierung, das im September durch das Parlament gewinkt wurde. Doch die Hauptforderungen der Bauern sind die Gleichen wie seit Jahren: Die Umsetzung des Swaminathan-Reports.

Wenn Modi den Bauern einen Gefallen tun will

Zwischen 2004 und 2006 hatte die indische Regierung fünf Studien in Auftrag gegeben, die die Probleme der Bauern untersuchen sollten. Doch die Lösungsvorschläge – den Bauern unter anderem endlich Zugang zu öffentlichen Krediten zu gewähren oder Zugang zu ausreichend sauberen Wasser – wurden bis jetzt nicht umgesetzt.

Bauern aus Tamil Nadu erinnern an die 300.000 Kollegen, die sich seit 1990 in Indien das Leben genommen haben. Foto: Gilbert Kolonko

Schon im Jahr 2018 kam es überall in Indien zu Bauerprotesten, die im Dezember im großen Marsch auf Delhi gipfelten. Bereits damals sagte die Wirtschaftswissenschaftlerin Jaya Mehta gegenüber Telepolis:

Bei der Umsetzung der Vorschläge des Swaminathan-Reports stimme ich den Bauern völlig zu. Aber: Auf einer Fläche von 94 Millionen Hektar leben 240 Millionen Inder (50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung) direkt oder indirekt von der Landwirtschaft. Sieben Prozent der Bauern sind allerdings Großgrundbesitzer, sie besitzen knapp die Hälfte der Agrarflächen. Von einem Krediterlass würden in erster Linie diese Großbauern profitieren, die sich Geld von den öffentlichen Banken leihen können.

Die meisten Kleinbauern würden leer ausgehen, weil sie Kredite nur auf dem informellen Finanzsektor bekommen. Auch von höheren Preisen für die Agrarprodukte würden im derzeitigen System vor allen die Großgrundbesitzer und die Agrarkonzerne profitieren. 65 Prozent der Menschen, die in der Landwirtschaft tätig sind, ernten auf ihren kleinen Feldern nicht genug, um sich selbst zu versorgen. Höhere Preise würden also auch sie belasten.

Jaya Mehta, Aufstehen auf Indisch

Genauso würden jetzt auch nur Großbauern und Konzerne wie das in Mumbai ansässige Erdöl- und Textilunternehmen Reliance davon profitieren, dass sie die Preise selbst verhandeln können, argumentieren aktuell die demonstrierenden Bauern in Delhi, denen Modi laut eigener Aussage mit dem neuen Agrar-Gesetz, einen Gefallen tun wollte.

Zehntausende wären schon viel

Im Dezember 2018 in Delhi waren Julia Schäfer für den WDR und ich die einzigen internationalen Korrespondenten, die sich für die Bauerproteste vor Ort interessierten. Schön zu sehen, dass aktuell auch bei uns viele Medien über die Proteste berichten – jetzt wo das Kind durch Modis neues Gesetz noch tiefer im Brunnen steckt.

Damals hatten Schäfer und ich das übliche Problem auf Demonstrationen, dessen Teilnehmer mit Recht stolz sein konnten, was sie im Gegenwind der neoliberalen Regierung auf die Beine gestellt hatten: "Du, ich sehe hier beim besten Willen keine 100.000 Demonstranten", sagte die Kollegin zu mir. Die sah ich auch nicht. Delhi hat knapp 20 Millionen Einwohner. Alleine im angrenzenden Bundesstaat Uttar Pradesh leben 200 Millionen. Doch wenn es hochkam, beteiligten sich 50.000 bis 60.000 Menschen an dem Marsch.

Die Bauernproteste werden von immer mehr zivilen Organisationen unterstützt. Die Religiösen ordneten sich unter. Foto: Gilbert Kolonko

Wer die Lebensbedingungen der Mehrheit der Inder kennt, weiß, dass die 50.000 damals und die Zehntausende aktuell in Delhi viel sind. In der Regel bekommen in Indien solche Zahlen nur noch Ideologen oder Populisten auf die Straße. Religiöse Feste stellen natürlich alles in den Schatten. Ausnahme das "kommunistisch" regierte Kerala, das in den meisten sozialen Indicis am besten abschneidet, weil die Regierenden erkannt haben, das ein hohes Bruttosozialprodukt nicht alles ist.

Solidarität gegen eine Politik der Ausgrenzung

Und es gibt noch mehr Positives: Die verschiedenen zivilen Protestbewegungen Indiens vernetzen und unterstützen sich mittlerweile. Von den Studenten, die sich gegen die Privatisierungen des Bildungssektors wehren, bis zu den Demonstranten die gegen Modis neues Staatsbürgerschaftsgesetzt (CAA) auf die Straße gehen. Selbst Sportgrößen wie Vijender Singh, erster Olympia-Medaillengewinner im Boxen, und andere haben in Solidarität mit den Bauern ihre staatlichen Auszeichnungen zurückgegeben.

Delhis Regierungschef Arvind Kejriwal ist nach eigener Aussage von der Polizei unter Hausarrest gestellt worden, nachdem er die protestierenden Bauern besucht hat. Die Polizei, die in Delhi der Zentralregierung untersteht, hat dies abgestritten.

Dazu demonstrieren auch aktuell in Delhi Hindus, Dalits, Muslime und Sikhs Seite an Seite und setzten damit ein Zeichen, gegen die Ausgrenzungspolitik der hindunationalistischen Zentral-Regierung und ihrer Denkfabrik: Der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die sich bei ihrer Gründung 1925 an Mussolini und seinen "Braunhemden" orientierte.

Die mysteriöse Krankheit

Von den Bauerprotesten stürzten dann viele deutsche Medien in eine besser verkaufbare News: Mehr als 450 Menschen in Süd-Indien erleiden "mysteriöse Krankheit". So oder ähnlich titelten fast alle großen Medien die neusten Schlagzeilen, um ihre Corona geschädigten Leser noch mehr zu irritieren. Wie sich mittlerweile rausstellte, war es natürlich keine mysteriöse Krankheit.

Laut dem All India Institute of Medical Sciences wurden bei vielen der erwähnten Erkrankten in der Stadt Eleuru in Andhra Pradesh Spuren von Blei und Nickel im Blut gefunden. Der Auslöser für die Vergiftung ist noch nicht gefunden worden: Grundwasser, Milch und Lebensmittel in der Region werden nochmals untersucht. Überhaupt nicht verwunderlich, schließlich ist in Indien durch den Wachstumswahn vieles vergiftet.

Gemüse enthält mitunter Blei, Arsen und anderen Chemikalien oder auch Antibiotika. Es können aber auch antibiotikaresistente Bakterien sein. Huhn kommt mit Blei oder Antibiotika auf den Tisch, wenn es nicht gar vergammeltes Hunde- und Katzenfleisch von der Müllhalde ist.

In Kolkata weiß man nicht, ob da wirklich Huhn im Curry ist. Foto: Gilbert Kolonko

Viele Flüsse bestehen vor allem aus Industrie- und Haushalts-Abwässern. Die Luft in indischen Großstädten ist so verpestet, dass sie bis zu 45 Zigaretten am Tag rauchen müssten, um ihrer Lunge in Deutschland das Gleiche anzutun.

Einfach mal Teetrinken und etwas abwarten ist kaum noch drin in einer Twitter-Junkie-News-Maschine und das meine ich nicht tadelnd: Mir tun die meisten hauptberuflichen Journalistinnen und Journalisten leid. Nicht alle wollen besser bezahlten Wirtschafts-Lobbyismus betreiben und es Journalismus nennen.

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