Wenn ein Nachrichtendienst an der Amri-Einzeltäter-These zerschellt

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Im Untersuchungsausschuss des Bundestags setzt sich das Schauspiel um den Verfassungsschutz von Mecklenburg-Vorpommern fort. Dessen Erkenntnisse passen nicht zur offiziellen Attentäterversion

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Hatten der oder die Attentäter vom Breitscheidplatz Unterstützung aus der Organisierten Kriminalität? Erkenntnisse aus der nachrichtendienstlichen Operation "Opalgrün", dass es möglicherweise so war, passen jedoch nicht mit der offiziellen Version zum Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt vom 19. Dezember 2016 zusammen. Deshalb werden sie heute abqualifiziert. Und das führt zu dem Schauspiel um den Verfassungsschutz des Landes Mecklenburg-Vorpommern (M-V), das seit einigen Wochen live zu erleben ist. Coram Publico zerlegt sich der Geheimdienst selbst. Man könnte auch sagen: Er zerschellt an der festbetonierten Anis Amri-Einzeltäter-Theorie, die keine Mittäter und keinen anderen Hintergrund als einen islamistischen zulässt.

Die Angriffe der Amtsleitung sowie des Innenministeriums von M-V auf Mitarbeiter und Quellen des Dienstes resultieren daraus, dass die Hausspitzen die offizielle Anschlagsversion mittragen. Und die wiederum kommt selber von den Strafverfolgungsbehörden Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt.

Jedenfalls eine komplizierte Gemengelage. Doch vor diesem Hintergrund muss man den aktuellen Schlachtenlärm und Schlachtennebel zwischen Berlin und Schwerin sehen.

Der Untersuchungsausschuss des Bundestags vernahm letzten Donnerstag erneut vier Zeugen zu dem Komplex: Zunächst hinter verschlossenen Türen den weiteren V-Mann-Führer des nordostdeutschen Verfassungsschutzamtes, A.B. Später dessen Chef und Leiter des Amtes, Reinhard Müller, der bereits vor zwei Wochen geladen war, damals aber die meisten Antworten verweigerte.

Kurz vor Mitternacht konnte wiederum dessen Chef, Staatssekretär Thomas Lenz aus dem Innenministerium des Bundeslandes, noch schnell sein Statement zu der Angelegenheit loswerden, aber aus Zeitgründen nicht mehr befragt werden. Und dazwischen wurde Generalbundesanwalt Peter Frank vernommen, dessen Behörde seit einem Jahr in dieser Parallelaffäre ermittelt.

Ein Haufen voll potentieller Informationen, zum Teil versteckt hinter rhetorischen Konstruktionen und ausufernden Schilderungen der Zeugen. Dennoch beginnt ein Bild durchzuschimmern, das bisher in etwa folgendermaßen aussieht.

Opalgrün und eine arabische Großfamilie

Monate vor dem Anschlag vom Breitscheidplatz, Ende Mai 2016, meldete ein Informant, der sich in Berlin aufhielt, dem Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) von M-V mögliche Anschlagsplanungen in der Hauptstadt zum Ramadan, der 2016 von Anfang Juni bis Anfang Juli dauerte. Schwerin informierte die Kollegen des LfV Berlin und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Um die Sache aufzuklären, wurde zwischen den Ämtern der Vorgang "Opalgrün" eröffnet.

Das LfV von M-V wurde beauftragt, mittels seiner Quelle weitere Informationen zu gewinnen. Am 10. Juni 2016 stand das Thema außerdem auf der Tagesordnung einer Arbeitsgruppe im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ). Dadurch erfuhren auch andere Behörden davon, zum Beispiel BKA, LKA Berlin und Bundesanwaltschaft (BAW).

Zu einem Anschlag während des Fastenmonats Ramadan kam es 2016 nicht. Heute heißt es vom Schweriner Verfassungsschutzchef: Die Information sei vage gewesen, weitere Erkenntnisse habe es nicht gegeben. Der Name Amri soll keine Rolle gespielt haben.

Nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz habe die M-V-Quelle dann am 1. Februar 2017 gemeldet, der Attentäter habe die Unterstützung einer arabischen Großfamilie aus Berlin gehabt. Darüber informierte das Schweriner LfV die Kollegen in Köln und Berlin. Das BfV meldete zurück, an der Information der Quelle sei nichts dran. Das LfV Berlin soll am 22. März 2017 ähnlich geantwortet haben: Es habe sich nur um einen Einzelhinweis gehandelt, der durch Polizei und Verfassungsschutz (VS) nicht bestätigt wurde. Es gäbe keine vergleichbaren Erkenntnisse, Anis Amri habe keinen Kontakt zu der Familie gehabt, an der Sache sei nichts dran.

Heute heißt es: Die Angaben der Quelle seien unbrauchbar gewesen und sollen auf Hören-Sagen beruht haben.

Die mecklenburgische Quelle sollte aus Berlin abgezogen und nur noch im eigenen Bundesland gegen islamistische Bestrebungen eingesetzt werden. Trotzdem bewegte sich der Mann weiterhin in Berlin. Im Mai 2017 machte er weitere Angaben, Amri habe von der arabischen Großfamilie Geld bekommen und sei nach dem Anschlag mit einem Pkw aus Berlin weggebracht worden. Doch im Juni 2017 entschied Behördenleiter Müller, die Informationen nicht den Breitscheidplatz-Ermittler Bundesanwaltschaft und BKA zuzuleiten. Erst im "Nachgang" sei bekannt geworden, dass in Berlin möglicherweise auch eine Spendensammlung für den Attentäter durchgeführt worden sei.

"Fanatismus", "Besessenheit" und "Übertreibungen"

Und wieder heißt es: Die Glaubwürdigkeit der Quelle sei zweifelhaft gewesen. Auch ihre Angaben zu Islamisten in M-V seien nicht werthaltig gewesen. Und das Innenministerium von M-V erklärte durch seinen Staatssekretär, die Entscheidung zur Nicht-Weitergabe der Informationen sei fachlich vertretbar gewesen, aber trotzdem ein Fehler, weil die politische Sensibilität verkannt worden sei.

Die beiden Quellenführer T.S. und A.B., die der Ausschuss in nicht-öffentlichen Sitzungen vernommen hat, sollen, wie es heißt, ihren V-Mann für glaubwürdig und nachrichtenehrlich gehalten haben. Sie nahmen dessen Hinweise ernst und wollten, dass sie an die Anschlagsermittler weitergeleitet werden. Nach übereinstimmenden Beurteilungen hielten auch die Abgeordneten die V-Mann-Führer für glaubwürdig.

Beide sind heute nicht mehr beim Verfassungsschutz. Wie die ehemalige Quelle, qualifiziert die Amtsleitung auch die ehemaligen Mitarbeiter heute ab und spricht von "Fanatismus", "Besessenheit" und "Übertreibungen". Der Staatssekretär im Innenministerium von M-V, Thomas Lenz, macht für diese "Persönlichkeitsentwicklung" die jahrelange Geheimdienstarbeit und den ständigen "Wechsel der Identitäten" verantwortlich.

Die Quelle wurde Ende Juni 2018 abgeschaltet. Doch als im Herbst 2019 der Komplex die Bundesanwaltschaft erreichte, wurde auch der ehemalige Informant durch das LfV noch einmal befragt. Dabei soll er erklärt haben, Amri vor dem Anschlag sogar mehrfach gesehen zu haben.

Was hatte sich ereignet? Im August 2019 wollte der V-Mann-Führer der Quelle, T.S., die Füße nicht mehr ruhig halten. Er suchte das Gespräch mit seinem Chef Reinhard Müller. Es ging um den Anschlag vom Breitscheidplatz und die Hinweise des V-Manns. Der Chef blieb dabei: Nichts dran, keine Weitergabe.

Am 22. Oktober 2019 sprach Verfassungsschützer T.S. wegen der Sache nun beim Innenstaatssekretär Lenz vor. Der erklärte jetzt im Untersuchungsausschuss des Bundestags, Herr S. habe bei dem Treffen seine "intime Distanzzone" verletzt, er habe dessen Atem spüren können, als ob der ein paar James-Bond-Filme zu viel geschaut habe. S. habe versucht, ihn zu erpressen und damit gedroht, sich an den Generalbundesanwalt zu wenden.

Der Staatssekretär informierte anschließend den Innenminister. Lorenz Caffier (CDU), der vor einigen Wochen zurücktreten musste und sich beim Untersuchungsausschuss krank gemeldet hat, sei "entsetzt", "fassungslos" und "konsterniert" gewesen.

Die Besonderheit des Vorgangs kommt auch in dem Satz von Verfassungsschutzchef Müller zum Ausdruck, dass sich ein Mitarbeiter direkt an den Generalbundesanwalt wendet, habe er in 44 Dienstjahren zum ersten Mal erlebt. Vor seiner Zeit beim LfV Mecklenburg-Vorpommern war er beim LKA Nordrhein-Westfalen.

Ein "dickes Ding"

Am 26. Oktober 2019 wandte sich T.S. nun an den Generalbundesanwalt. Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse erfuhren zu diesem Zeitpunkt allerdings immer nichts von dem Konflikt, obwohl sie es sind, von denen fundamentale Fragen zum Anschlagskomplex und der Korrektheit der Ermittlungen ausgehen.

Der damalige Mitarbeiter des LfV M-V teilte der Bundesanwaltschaft (BAW) sowie dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) schriftlich mit, es sei ihm dienstlich verboten worden, Informationen einer Quelle zum Hintergrund des Anschlags, an BKA und BAW weiterzugeben. Generalbundesanwalt Frank sagte dazu im Ausschuss, das sei ein "dickes Ding" gewesen. Seine Behörde hätte schon früher informiert worden müssen. Er erwarte bei einem solchen Anschlag, dass alles auf den Tisch gelegt werde.

Am selben Tag im Oktober 2019 leitete die Karlsruher Behörde ein Ermittlungsverfahren ein, in dessen Verlauf sie auch auf die einstige Verfassungsschutzoperation namens "Opalgrün" stieß. Sie integrierte das Verfahren in die Ermittlungen zum Terroranschlag vom Breitscheidplatz, die weiterhin gegen "Unbekannt" geführt werden. Bereits Anfang November 2019 vernahm sie den Hinweisgeber T.S. und forderte außerdem Akten aus dem nördlichen Bundesland an.

Es folgten Vernehmungen von zwei weiteren LfV-Mitarbeitern sowie zwei Zeugen außerhalb des Beamtenbereichs. Darunter die frühere Quelle, die allerdings erst im Juni 2020 befragt wurde, so lange zieht sich die Sache mittlerweile hin. Zuletzt übermittelte das Innenministerium von M-V Anfang Oktober 2020 der Bundesanwaltschaft weitere Unterlagen. Dagegen seien Akten, die die oberste Strafverfolgungsinstanz der Bundesrepublik beim LfV Berlin angefordert hat, so Frank gegenüber den Bundestagsabgeordneten, bisher noch nicht in seiner Behörde angekommen.

Zu Details äußerte er sich nicht: keine Aussagegenehmigung. Nach einer Zwischenbewertung gefragt, antwortete Frank, bislang sei niemand festgenommen worden.

Die Entwicklung im Herbst 2019 förderte dann noch eine Waffe zutage, die in einem Tresor des Amtes in Schwerin geschlummert hatte. Dabei handle es sich lediglich um eine sogenannte Deko-Waffe der Bauart Kalaschnikow, die nicht beschussfähig sei, wiegeln Verfassungsschutz und Innenministerium ab.

Das Amt hatte die Waffe durch eine andere Quelle, ebenfalls geführt vom VS-Beamten T.S., bei einem Waffenhändler erworben. Was dadurch tatsächlich aufgeklärt wurde, die Existenz illegaler scharfer Waffen in den Händen von Islamisten etwa, ist unklar. Doch, wo Deko-Waffen gehandelt werden, können auch scharfe Waffen in Umlauf kommen. Abgesehen davon können auch Deko-Waffen scharf gemacht werden.

Fragwürdigkeiten

Der Skandal hinter dem Skandal, und die fragwürdige Bilanz, die sich bisher ergibt: Im Jahr 2016 betreiben mehrere Sicherheitsbehörden über ein halbes Jahr lang eine gemeinsame nachrichtendienstliche Operation - doch dann soll ganz banal einfach "nichts dran" gewesen sein?

Eine Quelle, deren Informationen anfänglich als relevant eingeschätzt wurden und die weitere Aufträge erhielt, soll dann nur noch vage, inkonsistent und nebulös berichtet haben?

Eine Materie, die innerhalb des Verfassungsschutzes zwischen Mitarbeitern und Amtsleitung umstritten war und die drei Jahre verborgen gehalten wurde, soll einfach nichts hergeben?

Akten, die vom Rechtsstaatsorgan Bundesanwaltschaft angefordert wurden, aber bis heute nicht geliefert sind?

Ein paar Widersprüche zu viel, als den Konflikt einfach als Ego-Sache von Quellen und Quellenführern abtun zu können. Der zentrale Widerspruch aber ist, dass der materielle "Opalgrün"-Hintergrund nicht mit der offiziellen Anschlagstheorie vom Breitscheidplatz zusammenpasst.

Wann kommt es in der nächsten Sicherheitsbehörde zu solchen Brüchen, wie im Verfassungsschutzamt und dem Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern?

Chronistenpflicht Anmerkung I: Ausschussmitglied Stefan Keuter (AfD) erklärte, sich mit einer Person getroffen zu haben, die einmal V-Mann des BfV gewesen sein will. Das Bundesinnenministerium habe die Existenz der früheren Quelle bestätigt. Der Mann habe ihm gegenüber erklärt, Anis Amri habe vor seiner offiziellen Einreise in Deutschland im Juli 2015 selber als V-Mann für das BfV gearbeitet. Jedoch: In der Regel weiß ein V-Mann nichts von einem anderen. Der AfD-Abgeordnete übergab dem Generalbundesanwalt eine Blättersammlung zu dem Fall.

Chronistenpflicht Anmerkung II: Die Parlamentsärztin stellte im Laufe des Tages bei einem Ausschussmitglied einen corona-positiv Befund fest. Der Abgeordnete kam in Quarantäne. Weil der Befund aber nur "schwach positiv" sei, könne die Sitzung, auch mit Publikum, fortgesetzt werden, hieß es offiziell. Woraus wir lernen: Corona-positiv ist nicht gleich corona-positiv. Ein Unterschied, den das Robert-Koch-Institut in seinem täglichen Zahlenwerk nicht pflegt.

Chronistenpflicht Anmerkung III: Unter strengster Geheimhaltung vernahm der Ausschuss am Folgetag, den 11. Dezember, den früheren Polizeiinformanten "Murat", auch bekannt als VP 01. Der Spitzel war auf die Gruppe um den Agitator Abu Walaa in der früheren DIK-Moschee in Hildesheim angesetzt, hatte bis zum Frühsommer 2016 aber auch Kontakt zu Anis Amri.

"Murat Cem" wiederholte im Prinzip seine Aussagen, die er im August 2020 gegenüber dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf getan hat. Er habe vor der Gefährlichkeit Amris gewarnt. Wie damals war der Zeuge auch jetzt lediglich per Video zugeschaltet. Der Bundestagsausschuss hatte ihn von Angesicht zu Angesicht vernehmen wollen, was das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen ablehnte.