Das Virus, der Kapitalismus und wir

Fließband in den Ford-Werken im US-Bundesstaat Michigan 1913. Bild: Public Domain.

Ein vorweihnachtlicher Vorschlag zum Ausbruch aus der heute beginnenden Einschließung

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Verständlicherweise waren wir – wie alle anderen auch – am Anfang der Pandemie konsterniert, kopflos und überfordert: Zahlen, Tabellen, Virologen, ständig neue Begriffe flogen durch die Diskurs-Landschaften, untermalt mit Bildern von Särgen, die nur noch von Militärs abgeholt werden und einem den Rest geben.

Alle fragten sich, also auch die Experten: Was ist richtig, was ist übertrieben? Welche Schutzmaßnahmen helfen, welche sind unwirksam und falsch? Was macht man mit Wissen, was macht man, weil man wenig weiß? Was ist medizinisch begründet, was macht man aus anderen Gründen?

Das Erschreckende ist, dass wir – nach über zehn Monaten Pandemie – immer noch im selben, uns vorgegebenen Laufstall diskutieren bzw. uns darin emotional aufreiben. Trotz der "Wellenbrecher" steigen die Infektionszahlen weiter. Also muss "nachgeschärft" werden. Wer es ein wenig deutlicher haben möchte, dem sagt der CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer aus Sachsen klar ins Gesicht, dass nun "ganz andere, ganz klare, autoritäre Maßnahmen des Staats" nötig seien.

Wir nehmen gedankenlos hin, dass die "zweite Welle" nur mit noch stärkeren Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, der Kontakte beantwortet werden muss. Wir murren bei der einen oder anderen Maßnahme, aber im Großen und Ganzen bewegen wir uns in dem vorgegebenen Korridor – wie Stiere, die durch enge Gassen gejagt werden. All warten gebannt auf die "Strafrunden".

Ab dem heutigen 16. Dezember 2020 wird der Einzelhandel (mit Ausnahme der Geschäfte für den täglichen Bedarf) bis zum 10. Januar 2021 geschlossen. Schulen, Kitas, Restaurants, Cafés, Kneipen und Kultureinrichtungen ebenso. Bußgelder werden bei Nichtbeachtung verhängt.

Und Arbeitgeber werden "dringend gebeten" etwas zu tun, wozu andere gezwungen werden.

Das "öffentliche Leben" wird drastisch heruntergefahren: Maximal fünf Personen aus maximal zwei Haushalten dürfen Zusammensein. An Weihnachten drücken Corona und Gott ein Auge zu:

In Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Infektionsgeschehen werden die Länder vom 24. Dezember bis zum 26. Dezember 2020 -als Ausnahme von den sonst geltenden Kontaktbeschränkungen- während dieser Zeit Treffen mit 4 über den eigenen Hausstand hinausgehenden Personen zuzüglich Kindern im Alter bis 14 Jahre aus dem engsten Familienkreis, also Ehegatten, Lebenspartnern und Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sowie Verwandten in gerader Linie, Geschwistern, Geschwisterkindern und deren jeweiligen Haushaltsangehörigen zulassen, auch wenn dies mehr als zwei Hausstände oder 5 Personen über 14 Jahren bedeutet.‘

Bund-Länder-Beschluss vom 13.12.2020

Vollbremsung, aber nicht für alle

Der engste Familienkreis wird definiert als Ehegatten, Lebenspartner und Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sowie Verwandte in gerader Linie, Geschwister, Geschwisterkinder und deren jeweilige Haushaltsangehörige.

Verstanden?!

Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat die Entscheidungen für eine "Vollbremsung" ab dem 16. Dezember 2020 so zusammengefasst:

Corona ist außer Kontrolle geraten", warnte Bayerns Regierungschef Markus Söder. "Die Lage ist eigentlich wieder 5 vor 12. Deswegen wollen wir keine halben Sachen mehr machen, sondern konsequent handeln. (…) Ab Mittwoch richtiger Lockdown in Deutschland, für alle, konsequent und auch klar verständlich und anwendbar.

Und wer ist schuld daran? Na klar doch, die Party-Gänger*innen, die Zusammenkünfte in privatem Rahmen (…) die Corona-Rowdies und der Glühwein-Strich. Von da zu den "Covidioten" ist es nicht weit. Man will uns damit sagen: Die Mehrheit spurt, aber wir müssen jetzt für die Wenigen büßen, die die Sau rauslassen. Alle machen (dabei) mit - auch ganz viele, die sich als Linke begreifen.

Verlassen wir einmal für wenige Momente das recht billige Aggressionsangebot. Fällt niemand bei dieser Art der Maßnahmen etwas auf, etwas besonders Merkwürdiges?

Vollbremsung?

Bei aller Unwissenheit, wie das Virus "tickt", weiß man ganz Grundsätzliches über die Verbreitung von Viren und die Möglichkeit, sich davor so gut es geht zu schützen. Unbestritten gehören dazu Abstandhalten und gegebenenfalls das Tragen eines Mundschutzes. Man weiß noch etwas ziemlich sicher: Das Virus überträgt sich in geschlossenen Räumen besonders gut, bei einer langen Verweildauer in diesen und wenn sich dort viele aufhalten.

Wenn man also Kontakte reduzieren muss, dann macht man das vernünftigerweise dort, wo diese Kriterien erfüllt werden. Ahnen Sie, was dabei herauskommt?

Es ist nicht der Freizeit- und Privatbereich. Es ist der Arbeitsbereich. Dort ist man oft mehr als acht Stunden zusammen. Dort arbeitet man für gewöhnlich in geschlossenen Räumen, dort ist man im Stress und wenig aufmerksam. Wenn man die Kontaktparty im "Wirtschaftsleben" mit dem vergleicht, was die Menschen nach der Lohnarbeit noch anstellen, dann ist das verdammt gering. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn man das Fazit zieht, dass 80 Prozent der Kontakte im Arbeitsleben stattfinden.

Der Lockdown, die Einschränkungen finden aber nicht dort statt!

Was man also an Kontakten im Freizeit- und Privatbereich verbietet, sanktioniert oder einschränkt, hat nichts mit einer wissenschaftlichen Begründung zu tun. Es ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass man die "Wirtschaft" – koste was es wolle – am Laufen halten will. Aufgrund der Maßnahmen und der Orte, die zur Bekämpfung der Pandemie (aus-)gewählt werden, bringt man "die Wirtschaft" zum Verschwinden, für die man eine Gesundheitsgefährdung Tag für Tag in Kauf nimmt, an die keine Querdenker*innen-Demonstration heranreicht.

Auch Johannes Hauer hat in einem sehr lesenswerten Beitrag das Wörtchen Arbeit bei der Aufzählung der "gefährlichen Orte", der Superspreader nicht gefunden:

Wo Ausgangsbeschränkungen gelten, darf nur noch in ‚Ausnahmen‘ das Haus verlassen werden, etwa für Spaziergänge, zum Einkaufen oder für die Arbeit. Dieses kurze Wörtchen ‚Arbeit‘ steht ganz unschuldig in den Aufzählungen, irgendwo zwischen Gassigehen und dem Wocheneinkauf. Dabei bringen der Arbeitsplatz sowie An- und Abfahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln ungezählte Kontakte zu Menschen fremder Haushalte mit sich, und das zumeist in geschlossenen Räumen. Der neuerliche Lockdown ändert hier nichts.

ND vom 12.12.2020