Wenn die Gesellschaft durchdreht ...

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Was das Phänomen Trump und die Corona Krise gemeinsam haben

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Die Metapher des "Durchdrehens", auch mit Blick auf psychische Vorgänge im Sinne von "Verrücktheit" oder "Ausrasten" in Verwendung, hat ihren Ursprung im Aufkommen von Motorfahrzeugen.

Sie bezeichnet den Vorgang eines durchdrehenden Rades, das keinen festen Grund mehr findet, nur noch um sich selbst dreht, kein Vorankommen ermöglicht. Wer durchdreht, kreist nur noch um sich selbst, bewegt sich in selbstreferentiellen Bahnen, hat Bodenhaftung, den Bezug zur Realität verloren.

Im Folgenden soll mit Blick auf die Abwahl des amerikanischen Präsidenten Trump und die Corona-Krise erläutert werden, dass diese Metapher den Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft deutlich machen kann. Die Metapher wird hier also nicht moralisch, sondern funktional verwendet.

Autorität der Massenmedien

Es gab Zeiten, da hatte die Behauptung des Soziologen Niklas Luhmann Plausibilität: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien."1 Luhmann hatte traditionelle Medien, wie Zeitungen, Bücher, Radio und Fernsehen im Blick. Unter diesen Umständen ist, fünf, sechs Jahrzehnte zurückschauend, plausibel, dass etwa bei der Wahl des amerikanischen Präsidenten durch Leitmedien bekannt gegebene Wahlergebnisse nicht angezweifelt wurden.

Hätte damals ein abgewählter Präsident behauptet, dass die Ergebnisse der Wahlen "fake news" seien, hätte massenmediale Einigkeit geherrscht, wem das Attribut der "Verrücktheit" - mit allen Konsequenzen - anzuheften gewesen wäre. Eine solche Behauptung des Präsidenten hätte, anders als heute, kaum einen realen Bezug für breite Wählerschichten haben können. Die auf Zeitungen, Radio und Fernsehen beschränkten Leitmedien bestimmten, was gesellschaftlich als konsensuale Realität aufzufassen war.

Im gleichen Sinne ist in der Rückschau vergangener massenmedialer Verhältnisse plausibel, dass die Meldungen von Pandemien gravierenden Ausmaßes, etwa durch allenfalls täglich erscheinende Zeitungsmeldungen, kaum Spuren im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft hinterlassen haben. Es mag sein, dass vielen heute noch die "Spanische Grippe" ein Begriff ist. Allerdings ist kaum bekannt, dass etwa die Asiatische Grippe von 1957-58 oder die Hongkong Grippe von 1968-69 global, auf die heutige Weltbevölkerung hochgerechnet, zwischen 2 und 8 Millionen Menschen das Leben kostete.2 Dies verdeutlicht, dass das damalige gesellschaftliche Leben, der Vergleichbarkeit dieser Pandemien mit der gegenwärtigen zum Trotz, kaum eingeschränkt war.

Es gab keine "Lockdowns", derer nun gesellschaftlich erinnert werden könnte. Anders als heute wurden die Strategien in Bekämpfung der Pandemie kaum massenmedial kritisiert, die Opfer der Pandemien wurde nach Maßgabe von vergleichsweise moderaten Maßnahmen als unvermeidbar hingenommen. Es waren die damals wenig in Zweifel gezogenen Massenmedien, die gesellschaftlichen common sense erzeugten.

Medium der Massen statt Massenmedien

Offenkundig haben sich die massenmedialen Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten fundamental geändert. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien haben sich die Massenmedien "demokratisiert". Statt von Massenmedien muss nunmehr die Rede von einem Medium der Massen sein.

Die für soziale Medien charakteristische Vernetzung von Adressen (Nutzerprofilen) in milliardenfacher Anzahl, erlaubt, dass die Reichweite jeglicher kommunikativen Äußerung potentiell massenmediale Dimensionen annehmen kann.3 Das gilt etwa auch für die Nutzer der Kommentarfunktion von Telepolis. Die Generierung eines Nutzerprofils ist ausreichend, um einem Kommentar eine potentiell massenmediale Reichweite zu verleihen. Der Zugriff auf Kommunikation ist hier potentiell für Massen nur noch einen "Klick" entfernt.

Doch was sind die Konsequenzen einer derartigen Dispositionen der Massenmedien, bzw., der Medien der Massen? Empirisch ist festzustellen, dass jegliche kommunikative Äußerung, und sei sie noch so absurd, in den sozialen Medien (Un-)Glauben, Resonanz finden und damit gewissermaßen realen Wert bekommen kann. Dies gemäß des berühmten Thomas-Theorems der Soziologie: "Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich."4 Es ist kein Zufall, dass im Kontext des Aufkommens von sozialen Medien Verschwörungstheorien Aufschwung nehmen und Begriffe wie "fake news" und "alternative Fakten" Karriere machen.

Wenn sich zum Beispiel Präsident Trump absurderweise noch vor Auszählung der Wählerstimmen zum Wahlsieger erklärt, dann hat dieser Fakt insofern Realität, als sich offenkundig genügend Anhänger finden, die Trump Glauben schenken, infolgedessen von Wahlbetrug ausgehen, und vor allem diesem Glauben massenmedial in den sozialen Medien Resonanz verleihen können. Also in den Konsequenzen real werden lassen.

Verrückter als Trumps - eben mittlerweile zu erwartende - Äußerungen in diesem Zusammenhang waren die Reaktionen der etablierten Massenmedien. Diese legten nahe, dass es bei einer demokratischen Wahl - die definitionsgemäß potentiell einen Amtswechsel erzwingt -, darauf ankäme, dass Trump die Wahl anerkennen müsse.

Sie bestätigten damit einmal mehr Trumps "alternative Fakten" in ihren Konsequenzen, womit sie erst wirklichen Wert bekamen. Ebenso bestätigen die etablierten Medien so ihren gegenwärtigen Mangel an gesellschaftlicher Autorität, auch in ihrer Selbstwahrnehmung.

Kontingenz von Realität

Werden Massenmedien zum Medium der Massen schwindet die Autorität der ehedem Wirklichkeit bestimmenden Leitmedien. Zwar lässt sich noch immer mit Luhmann behaupten, dass alles, was "wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen," wir über die Massenmedien wissen. Doch ist heutiger Form von Medialität nicht mehr möglich, einen common sense in der Wahrnehmung von Wirklichkeit herzustellen.

Vielmehr ist eine fragmentierte Realität zu beobachten, weil in den sozialen Medien, in ihrer milliardenfachen Adressabilität, sowohl die Behauptung von absurden Sachlagen, wie auch die Kritik an etablierten (wissenschaftlichem) Wissen ausreichend kommunikative Resonanz erfährt, gleichgültig, ob diese in ablehnender oder zustimmender Form erfolgt.

Die Resonanz in den sozialen Medien ist auffällig genug um auch traditionelle Massenmedien bemüßigt zu sehen, noch die krudesten Verschwörungstheorien thematisch aufzugreifen - umso einmal mehr die Wirklichkeit selbst grotesker Fakten in ihren Konsequenzen zu bestätigen.

Soll heute in einer Art Rückzugsgefecht etablierter Medien ein common sense der Wirklichkeitswahrnehmung aufrechterhalten werden, so verstärkt dieses Vorgehen gerade die Popularität von "alternativen Fakten". Zu sehen ist dies etwa an der Aufarbeitung der Corona-Pandemie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die auffällige, beinahe zwanghafte Rekrutierung der immer gleichen Corona-Experten (etwa: Lauterbach, Streeck, Brinkmann, Schmidt-Chanasit) über Monate hinweg in Talkshow-Formaten wie etwa "Markus Lanz", potenziert die Nachfrage nach alternativen, kritischen Stimmen und ermöglicht Bestseller Erfolge von Sachbüchern wie "Corona Fehlalarm".

Dies zumal die Fadenscheinigkeit der Intention einen Konsens zu konstruieren offenkundig wird - und gerade deshalb scheitert. Üblicherweise ist nämlich ein großer Verkaufserfolg von Büchern ein Kriterium dafür Autoren in Formate wie "Markus Lanz" einzuladen.

Von einem Durchdrehen der Gesellschaft kann hier deshalb die Rede sein, weil die Gesellschaft in gegenwärtigen medialen Verhältnissen gefährdet ist, in einen Zustand haltloser Selbstreferenz zu geraten. Deshalb, weil soziale Medien erfolgreich, nämlich mit kommunikativer Resonanz, die Kontingenz jeglicher Sachlage aufzeigen können.

Zwar kann die moderne Gesellschaft ohnehin nur Halt an sich selbst finden: nämlich in der Ausdifferenzierung sich gewissermaßen wechselseitig Halt gebender funktionaler Systeme, wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Recht, Kunst, Erziehung etc. Wird allerdings, wie dies in gegenwärtigen gesellschaftlichen "Lockdowns" der Fall ist, die Funktionalität vieler dieser Systeme massiv eingeschränkt, so gelingt die übliche Selbstreferenzunterbrechung der Gesellschaft durch die Funktionssysteme nicht mehr mit dem sonst selbstverständlichen Erfolg.

Massenmedien, bzw. Medien der Massen, können dann eine gesellschaftliche Dominanz erlangen, in der gesellschaftliches Durchdrehen offenkundig wird: nämlich, beispielsweise, in dem monatelang monothematisch in ermüdender Selbstreferenzierung fast nur ein Thema aufgearbeitet wird: Corona.

Der Blick nach Osten, in ein Staatsgebiet wie China, das mit einem autoritären politischen Regime aufwarten, also, anders als westliche Staatswesen, relativ unbeeinflusst von krisenhaft haltlosen massenmedialen Einflüssen agieren kann, zeigt, dass sich Politik auch gegenwärtig noch die Möglichkeit bietet, Selbstreferenz zu unterbrechen.

Autoritäre Informationspolitik (Zensur), wirkt dann, in hier bemühter Metapher, als Material, das den durchdrehenden gesellschaftlichen Rädern Bodenhaftung verschaffen kann. Allerdings hier ein Vorankommen in diktatorisch-parteipolitische Richtung.