Ruckeln ohne Ende

Sars-CoV-2 und das Debakel der Politik oder: Deutschland im Winterschlaf. Das Killervirus als Ausmalbildchen. Kommentar

Covid-19 und kein Ende: Das ist die Stimmung in der Bevölkerung Anfang 2021, und diese Stimmungslage ist nicht allein dem Virus und seiner "Aggressivität" (so offizielle Zusprechungen) geschuldet, sondern schlichtweg auch und vor allem - politischem Versagen.

Jetzt also irgendwie Fehlanzeige beim Impfstoff, beziehungsweise: Es gibt Impfstoff, aber es herrscht Ebbe statt Flut, weil der Herbst vertrödelt und die Kalkulation verpatzt wurde. An die Wand gefahren, den Lebenden zum Ärgernis, den Toten zum Hohn. In Pressekonferenzen hört sich das so an: "Wir wollen jedem, der sich impfen lassen möchte, spätestens (Fragezeichen) eine Impfung anbieten", wobei sich das Fragezeichen herausstellt als "drittes Quartal" (über den Daumen). Herrschaftsdiskurs am Beispiel des Kanzleramtsministeriums; Helge Braun ist selbst promovierter Doktor der Medizin.

"Das Leopoldina-Desaster"

"Das Leopoldina-Desaster" betitelte kürzlich ein Artikel in der Tageszeitung Die Welt einen kritischen Blick auf die Lage. Zitat: "Sie glaube an die Fakten - so Angela Merkel, als sie den harten Lockdown forderte." Welche Fakten? Das Leopoldina-Papier, "auf das sie sich berief, genügt wohl selbst einfachsten Standards nicht. Der Schaden, den die Wissenschaftsfunktionäre anrichten, ist immens."

Der Widerspruch kam aus den eigenen Reihen: Professor Michael Esfeld von der Universität Lausanne, seines Zeichens selbst Mitglied der Leopoldina, beschwerte sich schriftlich beim Präsidenten der Akademie über das Papier, das am 8. Dezember 2020 ad-hoc erschienen war, und verlangte die Rücknahme. Was stand denn drin?

Trotz Aussicht auf einen baldigen Beginn der Impfkampagne ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern.

Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina, 8. Dezember 2020

Muss es das geben, Streit um ein "Ad-hoc-Papier", wo wir doch alle seit Monaten auf durchdachte Konzepte hoffen?

Fanfaren zum Fehlstart

Jetzt also, vier Wochen später, Tausende Tote weiter und anhaltend hohe Zahlen trotz hartem Lockdown, wird geimpft beziehungsweise - mangels Material schleppend geimpft. Während Talanx-Chef Torsten Leue, Kopf der drittgrößten deutschen Versicherungsgruppe, im Hintergrund des amtlich verordneten Impf-Optimismus (Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache: "Auch ich lasse mich impfen, sobald ich an die Reihe komme") es wagt, das Wort "Risiko" in den Mund zu nehmen, freilich hier versicherungstechnisch gemeint, zeigt das Staatsfernsehen dem staunenden Publikum unter Fanfarenklängen frisch geimpfte 90-Jährige, die die gute Botschaft verkünden: "Ich lass mich impfen, es muss ja weiter gehen!", wogegen kaum zu widersprechen ist, und heben die welke Hand zum nationalen Impfgruß.

Leues Einsicht lautet: Das Virus ist "unberechenbar"! Das mag Versicherungsjargon sein, es bezieht sich aber auf mehr als das. Wieso kann man das sagen?

Jeden Abend dasselbe Rechenritual 20.000 Neuinfektionen, 30.000 Neuinfektionen, 7-Tage-Inzidenz, Todesfälle, besorgte Gesichter erklären uns, die Zahlen sind "viel zu hoch" und müssen unbedingt "nach unten gedrückt werden". Als ob es einen Drückmechanismus gäbe, einen Hebel, mit dessen Betätigung man dem Schädling beikommt. Niemand mag den Namen "Katastrophe" in den Mund nehmen. Solange geforscht und gerechnet, kartiert, schwadroniert und extrapoliert wird, lässt sich das hässliche Unwort vermeiden.

Wenn schon Katastrophe, dann wenigstens eine berechenbare Katastrophe!

Pech: Covid-19 wartet nicht!

Leider Pech: Covid-19 wartet nicht. Das von Anfang an völlig verworrene Maßnahmenpaket der Bundesregierung kann nicht mit der Hebel-Metapher gemeint sein, aber symptomatisch sind die verbalen Anleihen, die gerne aus dem physikalischen Bereich (der Mechanik) entnommen werden, auf jeden Fall. Sie eignen sich, um Wirkung und Effizienz staatlicher Prozeduren vorzugaukeln, so mager und undurchdacht diese auch sein mögen.

So lässt sich trefflich - mittels knackiger Worthülsen - von der Katastrophe unfähiger Politik ablenken, die seit Beginn der Pandemie das Geschehen prägt: Verschleppte Vorsorge, nationaler Flickenteppich, Ignoranz gegenüber deutlichen Vorboten der Pandemie (spätestens seit 2012), Kaputtsparen des Gesundheitssektors, katastrophale Vorratswirtschaft: Keine Schutzkleidung, keine Masken, dann den ganzen Sommer mit Sprüchen und AHA vertrödelt, zu guter Letzt ein Impfstart, der keinen Plan verrät und sich deshalb als halber Rohrkrepierer entpuppt.

Covid-19 kennt kein Mitleid, sondern triumphiert, während die Zeitungen euphorisch jede kleine Impfaktion im Altenheim bejubeln - plötzlich entdeckt das offizielle Deutschland eine Bevölkerungsgruppe, die man zuvor einem rücksichtslosen Sterben ausgesetzt hat und Jens Spahn schwadroniert von einer "Priorisierung der Schwächsten", eine unerträgliche Verdrehung des tatsächlichen Chaos, welches während des gesamten Jahresverlaufs die Altenheime und Pflegeeinrichtungen planlos, ähnlich übrigens wie die Schulen, sich selbst überlassen hat.

Über Monate war kaum jemals Rede von den Schwachen und Bedürftigen, allenfalls im Jargon der Etablierten hier und da von "vulnerablen Gruppen", das sind wohl diejenigen, die einen flüchtigen Moment unsres Mitleids verdienen, die aber nicht von Anfang an auch einen Anspruch auf ein ausgearbeitetes Konzept hätten. Da kommt der Impfstoff wie gerufen, um den Schwamm drüber zu drücken.

Dies ist natürlich keine Rede gegen die vorrangige Impfung der Alten und Schwachen. Man sollte aber bei der Wahrheit bleiben.

Zur Wahrheit gehört auch, dass man ein Virus schlecht mit den Mitteln der Statistik bekämpfen kann, genauer: Mit den Methoden des Messens, Rechnens und Zählens; ja, man sollte aufhören, den Eindruck zu erzeugen - so, wie es Politiker im Gefolge der Experten tun -, dass man Corona mit statistischen Tafeln beikommen kann. Hier liegt ein ideologischer Fehlgriff zugrunde, wofür der laufende Winter das beste Beispiel abgeben dürfte; die Direktiven zeigen keine Wirkung.

Das lustige Ding aus einer anderen Welt

Jetzt ist Covid-19 auch noch ungefragt mutiert. Wohin, bleibt weitgehend sein Geheimnis. Apropos Mutation: Mangels unvollständigen Wissens ist Covid-19 auf jeden Fall zu einem fröhlich-bunten Aufkleber mutiert: Das Killervirus als Ausmalbildchen. So zeigt ihn das Fernsehen ebenso wie das hinterletzte Provinzblatt, rund wie ein Medizinball, oben drauf überall die niedlichen Spikes (Spike-Proteine). Corona!

Leuchtend bunt mit seinen kleinen Krönchen auf der Oberfläche - allüberall begegnen wir so dem Hauptakteur der Pandemie in Form seiner farbenfrohen Simplifizierung, das "Ding aus einer anderen Welt" ist medial omnipräsent, es beansprucht einen Platz in unserem Bewusstsein, wo es uns so geläufig ist wie die Wetterkarte.

Zu neuem Leben erwacht unterdes, wie auch beim Politsprech schon festgestellt, das anthropologisch eigentlich längst überholte Modell der Maschine, das uns alle als Soldaten im Kampf gegen einen mächtigen Feind auf die Beine und einige auf die Palme bringt. So schreibt der Politik- und Kulturjournalist Kersten Knipp, Politikredakteur bei der Deutschen Welle:

Dass das Virus die feinen Unterschiede nicht kennt, unsere Sehnsüchte so krude ignoriert, so viele unserer Träume vernichtet, unsere Pläne und unsere Zukunft auf brutalste Weise durchkreuzt: Das ist, neben den wirtschaftlichen Verheerungen, der eigentliche Skandal dieses Virus. Auch im Namen unserer Zivilität gehört das Virus auf das Entschiedenste bekämpft!

Kersten Knipp: Virus versus Verzauberung. Modernes Selbstverständnis in pandemischen Zeiten. In: Corona-Stories. Pandemische Entwürfe. Darmstadt (wbg Theiss) 2020, S. 127-143, Zitat S. 142f

Knipp versteht nicht, dass Covid-19 alles Mögliche ist (oder hat), aber ganz sicher kennt das Virus weder die menschliche Untugend der Ignoranz noch interessiert es sich für humane Sehnsüchte oder Pläne, um sie krude zu durchkreuzen; und als gesichert kann angesehen werden, dass Covid-19 nicht die geringste Ahnung von unserer "Zivilität" hat (ich übrigens auch nicht) und sich keinen Mikromillimeter schert um unser Selbstverständnis oder um irgendeine Art Endkampf. Es ist einfach da, und es funktioniert höchst autopoietisch.

Dabei gilt das Prinzip der ausschließlichen Selbst-Interessiertheit. Viren sind nicht an einer rationalen oder ethischen Gestaltung menschlicher bzw. gesellschaftlicher Verhältnisse interessiert. Und auch, wenn SARS-CoV-2 keinen eigenen Stoffwechsel hat, ist es doch eine Lebensform, d.h. lebendig; Coronaviren sind dynamische intrazelluläre Parasiten, die mittels eigener genetischer Baupläne Nachkommen erzeugen und deren Identität im Prozess der Selbstreproduktion aufrechterhalten. Sie nutzen überdies nicht nur den Stoffwechsel ihrer Wirtszellen (wobei sie die Kontrolle übernehmen), sie können ihr Wirtsspektrum auch erweitern und sogar die Artengrenze überspringen.