"Das ist doch kein Lebensmodell"

Gewerkschafter und "Aussteiger" nehmen Arbeitsbedingungen bei Amazon weltweit zum Anlass, über Zukunftsfragen nachzudenken

Wer nicht zu den 40 Prozent der lohnabhängigen Bevölkerung gehört, die im vergangenen Jahr Einkommensverluste erlitten haben, gehört zur Hauptzielgruppe des Online-Versandhändlers Amazon. Dessen Gründer und Chef Jeff Bezos wurde zwar vergangene Woche von Tesla-Chef Elon Musk als reichster Mann der Welt abgelöst, profitiert aber in der Coronakrise erheblich davon, dass die übrigen 60 Prozent durch die Schließung von Restaurants, Cafés, Kinos, Konzertsälen und stationärem Einzelhandel erst einmal mehr Spielräume für Online-Shopping haben. "Corona ist das Beste, was Amazon Air passieren konnte", schrieb am Montag die Deutsche Verkehrszeitung anlässlich der Vergrößerung der konzerneigenen Flugzeugflotte um elf weitere Maschinen.

"Der CO2-Ausstoß des Konzerns ist größer als der von Dänemark", erwähnte der ver.di-Funktionär Orhan Akman am Samstagabend bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Krisengewinnler Amazon" im Rahmen der Berliner Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin am Rande. Auf Einladung der Tageszeitung junge Welt diskutierte der Fachgruppenleiter für den Einzel- und Versandhandel beim ver.di-Bundesvorstand mit einer spanischen Kollegin und einem italienischen Kollegen sowie einem "Aussteiger" aus der Chefetage von Amazon in Kalifornien. Alle drei ausländischen Teilnehmer waren online zugeschaltet; auch das Publikum verfolgte die Veranstaltung von zu Hause aus.

Hauptsächlich ging es um die Arbeitsbedingungen in den Lager- und Verteilzentren von Amazon und die weltweit sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Gewerkschaftsarbeit. Letztere sind laut Timothy Bray in den USA besonders schlecht. Der ehemalige Vizepräsident von Amazon Web Services EWS hatte den Konzern am 1. Mai 2020 verlassen, nachdem Arbeiter herausgeworfen worden waren, die effektiveren Gesundheitsschutz gefordert und Missstände öffentlich gemacht hatten.

"Auch mir war es nicht mehr möglich, Amazon von innen heraus zu kritisieren", sagte Bray in der Online-Podiumsdiskussion. Tenor der Teilnehmenden aus den Gewerkschaften: Die Arbeitsbedingungen bei Amazon machen krank; die robotergestützten Abläufe in den Lager- und Verteilzentren sind enger getaktet, als es für Körper und Psyche von Menschen auf die Dauer gesund sein kann.

"Chamäleon" bei Betriebsratswahlen

Die Beschäftigten seien "schnell völlig erschöpft" und bekämen psychosoziale Probleme, die sie auch davon abhielten, sich aktiv für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, so Fátima Aguado Queipo, Sekretärin der Gewerkschaft Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) in Madrid. "Das Schwierigste ist, Kandidaten für eine gewerkschaftliche Vertretung zu finden." Amazon agiere hier "wie ein Chamäleon" und versuche, bei Betriebsratswahlen eigene Kandidaten zu platzieren. Momentan gebe es nur in neun von insgesamt 30 spanischen Amazon-Zentren eine gewerkschaftliche Organisierung.

Von ähnlichen Erfahrungen wusste Massimo Mensi, Sekretär für internationale Beziehungen der Gewerkschaft CGIL in Rom, zu berichten: "Amazon lässt keine Gelegenheit aus, uns zu spalten. In Italien haben wir wesentlich mehr rechtliche Möglichkeiten, uns zu wehren, als in den USA, aber es ist aufgrund der Fluktuation nicht einfach, die Arbeiter zusammenzubringen." Im Durchschnitt blieben sie etwa 18 bis 24 Monate in einem Lager.

Erschöpfungszustände, wie seine spanische Kollegin sie beschrieb, kennt Orhan Akman auch von deutschen Kollegen. "Das hat sehr viel mit dem Rhythmus und dem Tempo zu tun, aber auch mit dem Einsatz von neuen Technologien." Selbst wenn die Kollegen Feierabend hätten, nähmen sie die Belastungen mit nach Hause, "immer in der Angst, mit den Vorgaben nicht fertig zu werden". Um Maschinenstürmerei geht es den Gewerkschaften nicht: "Wir sind keine Gegner neuer Technologien, aber wir wehren uns dagegen, dass sie zu Lasten der Beschäftigten eingesetzt werden", so Akman.

Auch der Schutz vor Infektionen mit dem Coronavirus steht ihm zufolge sehr weit unten auf der Prioritätenliste von Amazon:

"Als die Pandemie begann, führte Amazon in den deutschen Firmenzentren für Beschäftigte, die normal zur Arbeit kamen, eine Anwesenheitsprämie von zwei Euro pro Stunde ein. Die galt für die ersten drei Monate, dann wurde sie abgeschafft."

Womöglich habe der Konzern damit einen Anreiz schaffen wollen, "sich trotz Symptomen zur Arbeit zu schleppen". Das zeige "einmal mehr, dass die Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen der Aussicht auf Profit untergeordnet wird", so Akman. Mitte Dezember hatten sich bei Ausbrüchen in den deutschen Verteilzentren Garbsen und Bayreuth jeweils mehrere Dutzend Menschen infiziert.

Weder Gewerkschaften noch Betriebsräte hätten in den Zentren Mitspracherechte: "Bei Amazon herrscht eine Kultur von Befehl und Gehorsam." Deshalb suche der Konzern suche seine Führungskräfte auch gezielt unter ehemaligen Bundeswehr-Angehörigen. "Dennoch haben wir nach acht Jahren Arbeitskampf Erfolge vorzuweisen", betont Akman.

"Wir haben in Deutschland an den allermeisten Standorten Betriebsräte gewählt. Jetzt ist immerhin die Arbeits- und Pausenzeit geregelt, es gibt regelmäßige Lohnerhöhungen, die Arbeitskonditionen haben sich verbessert."

Amazon weigere sich aber weiterhin, einen Tarifvertrag zu akzeptieren. "Wir stellen uns daher auf weitere acht Jahre Arbeitskampf ein."

Internationalisierung auch von unten

Er denke dabei nicht nur an die rund 18.000 Beschäftigten in Deutschland. Gewerkschaften könnten sich auch nicht darauf ausruhen, wenn es im eigenen Land besser laufe, sondern müssten "Gewerkschaftsarbeit anhand der Lieferketten und der Wertschöpfungsketten heute neu denken". Amazon besitze eine finanzielle Macht, die auch die bürgerliche Demokratie gefährden könne, warnte Akman. Der jährliche Konzernumsatz liege über dem Bruttoinlandsprodukt von Portugal oder Vietnam.

Er sei grundsätzlich für Alternativen zum Kapitalismus, der seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten "Kriege produziert" und Ungleichheiten verschärft habe, sagte der ver.di-Funktionär auf Nachfrage von jW-Chefredakteur Stefan Huth. Es sei ihm egal, ob die Bezeichnung für die Alternative "Sozialismus" oder eine andere wäre, so Akman. "Auch im Sozialismus muss gearbeitet werden, aber die Frage ist, zu welchen Konditionen."

Es sei schwer zu akzeptieren, "wenn man bei Amazon acht Stunden arbeitet, danach aber so fertig ist, dass man noch sechs bis zehn Stunden über die Arbeit nachdenkt und wahrscheinlich nicht gesund das Rentenalter erreicht", unterstrich der Gewerkschafter. "Das ist doch kein Lebensmodell für uns."

Timothy Bray sprach sich dafür aus, Großkonzerne wie Amazon, Google, Microsoft, Facebook und Apple zu zerschlagen. Mit Begriffen wie Enteignung oder Vergesellschaftung wollte er vorsichtig umgehen. Eine progressive Bewegung müsse aber gegen solche Monopole kämpfen: "Die Eigentümerstruktur im Kapitalismus ist viel zu stark konzentriert", so Bray. "Mich interessiert dabei nicht, ob der Eigentümer Jeff Bezos heißt, es geht darum, dass es einer völlig anderen Unternehmensstruktur bedarf".