Der Tod, ein Nischenprodukt

Ehemaliges Krematorium, Berlin-Wedding. Bild: Bernd Brundert

Krematorien stehen für eine Kulturtechnik, die ihre Unschuld verloren hat

Wer erinnert sich noch an die Bilder der Militärlastwagen, die in Bergamo Särge in Kolonne abtransportieren, wer erinnert sich an die Gabelstapler, die in New York Corona-Opfer in schnell ausgehobene Massengräber verfrachten? Die Bilder sind schnell vergessen im Malstrom der Nachrichten und tauchen ebenso schnell wieder auf. Zeiten, in denen der Stachel des Todes bedrohlich zutage trat, hat es immer schon gegeben. Seuchen und Naturkatastrophen veranlassten die Zeitgenossen, neben Massengräbern auf die Verbrennung zurückzugreifen, selbst wenn sie sonst als "totenschänderische Barbarei" verboten war.

Krematorien mit eigens konstruierten Verbrennungsöfen sind eine frühe Errungenschaft der Moderne. Vorweggenommen wurde die Idee des Taylorismus. Der Umgang mit Toten wurde rationalisiert. Aber diese instrumentelle Vernunft, die stolz auf den Durchsatz von Leichen pro Zeiteinheit verweist, stößt schnell an ihre Grenzen. Sie erleichtert, die Augen zu verschließen vor dem Tod und mehr und mehr auch dem Sterben, das hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlegt wird.

Der Tod: ein Nischenprodukt (25 Bilder)

Kuppelhalle für Trauerfeiern im Krematorium Wedding (1909-1912). Bild: Bernd Brundert

Das Einführen der Särge in die Öfen geschieht in der Regel im Untergeschoss, das in frühchristlichen Zeiten einmal die Krypta war. Sterben ist "Social Distancing" geworden nicht nur des Sterbenden von der Gesellschaft, sondern der Gesellschaft von sich selbst. Die Maschinenzentralen der Krematorien haben die Rolle des Priesters übernommen, der den Rauch des Opfers zu den Göttern aufsteigen ließ. Der moderne Mensch mag nicht mehr den Totentanz hüpfender Knochenmänner sehen. Das flüchtige Zeremoniell ist von Scham begleitet.

Die Krypta hat sich mit dem Aufkommen von Krematorien in der Hoch-Zeit der Industrialisierung pluralisiert, multipliziert zu lauter Nischen, in denen die Ascheurnen aufgestellt wurden und werden. So wie Erdgräber zur Zeit der Reformation von den Kirchen weg verlegt wurden und aus Kirchhöfen Friedhöfe wurden, sind umgekehrt die Überreste der Feuerbestattung an die Krematorien herangerückt, in sogenannten Kolumbarien, die gerne an Kolonnaden entlanglaufen.

Es ist ein Regalsystem. Die Fächer sind teils durch Platten verschlossen. Sie können Blumenschmuck aufnehmen. Das räumliche Arrangement gemahnt an ein mehrgeschossiges Wohnhaus und lädt zur Zwiesprache mit den Verstorbenen ein. Es verströmt die Aura südeuropäischer Friedhöfe.

Urne und Asche haben einen die Zeiten und Glauben überdauernden Symbolcharakter. Das Gefäß übernimmt die nach dem – beschleunigten – Prozess der Verwesung übrig bleibende Materie. Wird die Reinheit gemeinhin der sich vom Körper lösenden Seele zugeschrieben, muss das mit dem Prozess der Reinigung der Materie durch das Feuer zusammen gesehen werden. In ihr liegen Verwesung und Reinigung dicht zusammen. Das Abstoßende, Dreckige gehört zum Reinen, Heiligen und umgekehrt. Diese Heiligung der Materie ist ein Urgrund der kultischen Elemente von Feuerbestattungen bis heute.

Columbarium heißt übersetzt "Taubenhaus", und das trifft es. Die römischen Kolumbarien stammen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus und liegen meist unterirdisch. Markant ist das Kolumbarium der Livia Drusilla für Freigelassene des Augustus in der Via appia. Die Bestattungsart römischer Einwohner lässt sich nur schwer verallgemeinern, denn sie war von Stand und Vermögen abhängig. Es gab jedoch von Begräbnisvereinen organisierte Sterbeversicherungen.

Den Christen dienten Katakomben als Begräbnisstätte. Allerdings wurden in den weitverzweigten und teils ausgemalten Labyrinthen nicht Ascheurnen aufgestellt, sondern die Gebeine selbst in den Fächern bestattet. Einen Impuls für den Raumplan der Krematoriumsarchitektur gaben die aus Grabbauten des Altertums hervorgegangen Zentralbauten, ob nun der Grundriss kreisförmig oder oktogonal ist.

Mit der Durchsetzung des Christentums wurde die Feuerbestattung geächtet, bis Karl der Große sie 785 als heidnischen Brauch unter Todesstrafe stellte. Erst 1964 ließ die katholische Kirche das Verbot fallen. Kritisch zu Kirche und Religion stellten sich die Aufklärung und Französische Revolution, was prompt mit Entwürfen für Krematorien einherging.

Pierre M. Giraud entwarf 1792/95 eine Nekropole für Feuerbestattung im Stil der Revolutionsarchitektur, in deren Mitte sich eine Pyramide erhebt. Der Komplex sollte von einer 3,90 m hohen Mauer umrundet werden, an deren Außenseite sich ein Arkadenkranz erstreckt, wo sich Kolumbarien befinden. Die Pyramide birgt die Feierhalle und die Verbrennungsanlage. An der Spitze zieht der Rauch ab. Giraud schwebte vor, aus den verbrannten menschlichen Gebeinen Glas herzustellen und dies in der Anlage zu verbauen.

Obwohl die meisten Entwürfe der französischen Revolutionsarchitektur nie realisiert wurden, weil sie gesellschaftliche Utopien versinnbildlichen, weist Girauds Entwurf Ähnlichkeiten mit der Saline von Arc-et-Senans (1775/79) auf. Diese Siedlung für Lebende (Arbeiter) war der einzige halbwegs realisierte Großentwurf. Nicht zur Ausführung kam die vom Architekten Claude-Nicolas Ledoux vorgesehene Erweiterung zu einer Idealstadt "Chaux". Auch das Kolumbarium mit einer Totenkugel im Zentrum blieb Makulatur.

Zum geometrischen Arsenal der Revolutionsarchitektur gehört neben der Pyramide die Kugel, die Etienne-Louis Boullee 1784 in kosmische Dimensionen trieb. Dieser nicht gebaute Kenotaph für Isaac Newton ehrt einen abwesenden Toten. Newton beschrieb Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig davon wirken, ob jemand erklären kann, wie sie zu ihrer Wirkung gebracht worden waren.

Jene naturwissenschaftlichen oder physikalischen Tatsachen wurden von Auguste Comte auf die Gesellschaft übertragen. Das nannte er "soziale Physik". Die Gesellschaft verhält sich wie ein Ding eigener Art. Sie wird materiell. Diese Positivität der Tatsachen widersprach den kirchlichen Lehren, mündete aber in eine neue Vernunftreligion, eine Religion des Positivismus. Deren Tempel wurden die Krematorien. Der Glaube an die Technisierbarkeit aller Lebensbereiche erfasste den Tod.

Die Tiefenwirkung der so monumentalen wie reduktionistischen Revolutionsarchitektur reichte bis in das Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine relativ liberale Landesherrschaft erlaubte Gotha beim Krematoriumsbau eine Vorreiterrolle. 1878 wurde eine Verbrennungsanlage auf Basis des Regenerativ-Verfahrens in Betrieb genommen. Bei diesem auf Friedrich Siemens zurückgehenden System kommen die Flammen nicht direkt mit dem Körper in Berührung, sondern Sarg und Leiche entzünden sich durch Heißluft- und Gaszufuhr von selbst.